•‡Dezerias Sicht‡•
Du bist jetzt Eis. Ich bin nur noch Wasser.
Nein! Ich starrte auf meine Hände und wollte seine Worte einfach nicht wahrhaben. Aber ... kaum, dass ich an diese Magie – an dieses Eis dachte, bildete sich umgehend Raureif an meinen Fingerspitzen. O GOTT! Ich konnte es nicht fassen! Schnell schüttelte ich meine Arme, damit es aufhörte. Ich ... ich war also wirklich verflucht! Wie konnte er mir das antun? Aus mir ein Eismonster machen?! O Gott! Ich ... Ich hatte Reznicks Vater getötet? U-und Hellkus, oder? Ohhh mir wurde schon wieder so schlecht bei diesem Gedanken ...
Sofort drückte ich mir eine Hand vor den Mund und die andere auf den Bauch. Zum Glück musste ich mich diesmal nicht übergeben. Ich atmete erleichtert auf, ehe ich realisierte, was ich da gerade tat. Panisch klatschte ich meine Hände zurück auf das Gras. Gott! Fast hätte ich mich noch selbst aufgespießt oder eingefroren! Kaum dachte ich es, bildete sich auch schon eine dünne Eisschicht auf dem Grün, was mir unweigerlich die Tränen in die Augen trieb. Ich war eine echte Hexe! Mein Leben war doch sowieso schon ein einziges Chaos ... Womit hatte ich denn das jetzt noch verdient?
Ich hatte Menschen getötet! Ich ... hatte die ganzen Männer getötet ... Einfach so, obwohl ich sie nicht einmal gekannt hatte. Was, wenn sie so wie Reznick zu dem Spiel gezwungen wurden? Familie hatten? Gott! Ich war ein echtes Monster. Nicht nur eine Hexe, sondern auch noch eine Mörderin! Aber ... ich hab das doch gar nicht gewollt ... I-ich hatte nicht einmal daran gedacht. Das Eis in meinem Körper reagierte von alleine ... Was, wenn es noch andere verletzte? Ich noch weitere tötete?! Dann ... Dann konnte ich auch nicht mehr zurück. Zurück zu Reznick ... Was, wenn ich ihm ungewollt etwas antun würde? Nein. Das ... Das konnte ich doch nicht ... Wollte ich auf keinen Fall!
“Wieso?! Wieso hast du das überhaupt gemacht?! Mach es sofort wieder rückgängig!”, schimpfte ich und blickte flehend zu ihm auf. Er konnte mich nicht so lassen! Nein! Das war viel zu gefährlich! Erst dachte ich noch, zu Ludwig zurückzugehen, würde mir wenigstens die Chance einbringen, Reznick zu sehen – ihm zu sagen, dass sein Vater tot war und ... und dadurch doch alles gut war, oder? Aber so? Das war unmöglich ...
“Bitte! Nimm den Fluch von mir!”, bat ich ihn erneut weinerlich, aber wie schon die ganze Zeit zuvor, stand er einfach nur so doof rum. Elender Mistkerl! Am liebsten würde ihn erwürgen! “Antworte endlich, du verfluchter Gott!” “Ich kann dir das Eis nicht nehmen. Ich habe es schon versucht”, schaffte es Mister kühl und emotionslos dann doch mal endlich, seinen Mund aufzumachen. “Warum hast du es mir überhaupt gegeben?! Ich wollte das nicht! Und wage es jetzt bloß nicht, wieder stundenlang zu schweigen!” “Es war in der Nacht. Im See”, begann er und hockte sich zu mir runter, “als Del am Himmel weilte. Du hattest dich im Tau verfangen und ich habe dich gerettet.” Ich erinnerte mich daran – ich wollte sterben. Ich hatte mich nicht verfangen, sondern bewusst an den Anker gebunden ... “Ich wollte nicht gerettet werden. Du hattest kein Recht dazu”, sagte ich mit einem flauen Gefühl im Magen. Ich hatte bereits mehrfach versucht, mich umzubringen ... War das also jetzt meine Strafe dafür?
Ich blickte lange in Zerians leuchtend blaue Augen und erinnerte mich dumpf an etwas, was meine Mutter mal gesagt hatte – etwas über ihren Glauben. Jedes Leben war heilig. Ja, ich erinnerte mich. Sie lebte sehr streng danach – trug ja sogar Spinnen nach draußen, während ich diese in meinem Zimmer immer getötet hatte. Ich kannte diese Glaubensrichtlinie ja, aber ... aber ich hatte für mich einfach keinen anderen Ausweg gesehen. Dafür konnte er mich doch jetzt nicht verfluchen, oder?
“Wieso bestrafst du ausgerechnet mich?”, fragte ich schließlich, da mein Verstand es einfach nicht begreifen konnte – wollte oder was auch immer! Es gab genug schlechte Menschen, die er hätte bestrafen können. Gott! Allein die meisten beim Grafen! Sie folterten und quälten! Oder im Dorf selbst gab es hier und da mal Schlägereien sowie Diebstähle. Warum also nie diese Leute? Oder ...
“Warum hast du nie die Mörder meiner Eltern bestraft?! Wieso hast du das überhaupt zugelassen?! Wieso hast du sie nicht gerettet?! WIESO!?”, schrie ich ihn an und rieb zornig über mein mit Schmutz und Tränen verschmiertes Gesicht. Es war eigentlich witzlos ihn sowas zu fragen, denn er würde ja doch nichts antworten. “Wieso ... schweigst du immer?”, flüsterte ich danach resignierend und wandte meinen Blick von ihm ab. Ich starrte auf das Gras und fühlte mich so verloren, wie wohl noch nie zuvor in meinem Leben. Das hier war meine Hölle ...
“Ich ... Ich wusste nicht, dass Robert und Elisabeth tot sind. Ich wollte dich doch zu ihnen zurückbringen, denn dort ist dein Platz”, hörte ich ihn dann irgendwann, wodurch ich irritiert meinen Kopf hob. Er wusste es nicht? Und wollte mich nur zu meinen Eltern bringen? Nicht zu Ludwig? “Wie kannst du es nicht wissen? Du bist ein ... Gott”, sprach ich hörbar zweifelnd. “Das ist jetzt schon über zwei Wochen her ...”, fügte ich noch schniefend hinterher. Daran zu denken schmerzte immer noch so unglaublich in meinem Herzen ...
Schnell wischte ich die neuen Tränen fort, denn was brachte es schon. Meine Trauer machte sie auch nicht wieder lebendig. Ich war auch nie eine Heulsuse gewesen, aber mittlerweile kam es mir so vor, als würde ich nur noch weinen. Es dauerte einen elendig langen Moment, ehe ich mich wieder gefangen hatte und meine blöden Tränen endlich aufhörten. Ich sah danach Zerian an und rieb mir gleich darauf noch mal die Augen, aber ich täuschte mich nicht. Sein Gesicht ... Es zeigte Trauer? Das überraschte mich zutiefst. Bis jetzt hatte er noch nie irgendeinen Ausdruck gezeigt. War immer nur kühl und so unheimlich emotionslos.
“Ah!”, stieß ich erschrocken aus, als es plötzlich wie aus Eimern zu schütten begann. Eine wahre Flut, ohne dass auch nur eine einzige Wolke am Himmel zu sein schien. “Zerian ...”, flüsterte ich, denn es war offensichtlich, dass ihn mein Gesagtes zu schaffen machte. Es regnete jetzt also, weil er traurig war? Das war doch verrückt! Ich verstand diesen Kerl – diesen was auch immer Gott einfach nicht. Den Regen allerdings begrüßte ich. Endlich konnte ich den ganzen Schlamm aus meinem Gesicht waschen.
“Ich dachte, sie zürnte mir”, sprach er irgendwann, während ich derweil im Stehen versuchte, den Dreck auch von meiner Kleidung zu bekommen. “Wen meinst du?”, fragte ich irritiert, wodurch er mich anblickte. Er sah genauso verloren aus, wie ich mich gerade fühlte. “Elisabeth”, brachte er mit einem freudlosen Lächeln hervor, was mich die Stirn runzeln ließ. “Meine Mutter? Wieso sollte sie sauer auf dich sein?” Er schien zu überlegen und auch das Unwetter lichtete sich spürbar. Der unbarmherzige Niederschlag wurde zu einem leichten Nieseln und gab den Blick auf einen atemberaubenden Regenbogen frei. So intensiv hatte ich noch nie einen gesehen ... Fast, als könnte man ihn berühren.
“Nun, ich dachte es”, begann Zerian, nachdem er wohl seine Stimme wiedergefunden hatte. Bei Del und Cor! Warum machte der Typ immer so lange Pausen? “Sie war die letzten Monde nicht am See gewesen. Dies tat sie aber sonst immer. Sie setzte sich nahe ans Ufer oder direkt ein paar Schritte ins Wasser hinein und erzählte mir Geschichten. Ich ... ich habe ihr so gerne zugehört. Außer ihr gab es niemanden mehr, der noch zu den Monden oder dem Wasser sprach.” Ich schnaubte abfällig auf, denn darüber war er jetzt traurig? Das niemand mehr mit ihm redete? Sowas Albernes! Wie konnte ich auch kurzzeitig glauben, er trauerte über ihren Tod. Nein. Der Herr Mondgott trauerte nur, weil jetzt keiner mehr an ihn glaubte. Dies machte mich unglaublich wütend!
“Das kann doch nicht dein Ernst sein! Meine Mutter hat man wegen DIR umgebracht! Weil sie an dich glaubte genau-genauso meine Großmutter! Es ist alles DEINE Schuld und du bist nun betrübt, weil keiner mehr zu dir betet? Du bist kein Gott! Du bist ein Fluch! Eine Strafe! Ein Monster! Ein ... Ein Teufel! Ja! Das bist du!”, schrie ich ihn an, aber wie immer reagierte er nicht darauf. Er versuchte weder, es mir irgendwie zu erklären, noch sich zu rechtfertigen. Er sagte nichts und das machte es für mich nur noch schlimmer. Er wagte es sogar, mich weiterhin so traurig anzusehen! Trauer, um einen verlorenen Gläubiger?! Dieser elende ...
Gott! Ich war so voller Zorn, dass ich ihm erneut eine Ohrfeige verpasste. Eine schmerzhafte. Wie konnte er es wagen, weiterhin so traurig auszusehen?! Er war es doch, der bisher nur Leid über meine Familie gebracht hatte! Mich sogar verfluchte! “Ich hasse dich! Verschwinde endlich!”, knurrte ich weiter, während er da lediglich verwirrt aussehend im Gras saß und sich die stark gerötete Wange hielt.
“Bin ich als Mensch also auch schon defekt?”, fragte er plötzlich fürchterlich unglücklich und dies ließ meinen angestauten Zorn sofort verpuffen. Defekt? Mensch? “Wovon redest du da bitte?” Nun ging sein Blick ins Leere und irgendwie hatte ich das Gefühl, als würde er nun wieder in sein altbekanntes Schweigen verfallen. Und so war es auch. Toll. Ich weiß nicht, wie viele Minuten ich wartete, aber irgendwann hatte ich schließlich die Schnauze voll!
“Zerian! Jetzt rede doch einfach! Sag, was du mir sagen willst, oder hör ganz damit auf! Immer nur diese wenigen Sätze oder dieses ewige Schweigen dazwischen, wenn man mit dir spri–” Ich stoppte mitten im Satz, da er sich nun keuchend an die Brust fasste. “Was ist?”, fragte ich besorgt und hockte mich neben ihn. Hatte er etwa Herzschmerzen? Keinen Moment später stöhnte er sogar gequält auf und kippte krampfend zur Seite.
“Zerian!? Was ist denn?! Sag doch was!” Langsam wurde ich panisch. Was hatte er denn? Sein Gesicht zeigte immer mehr Elend, aber ich wusste nicht wieso. Ich kannte mich zwar gut im Bereich der Heilkunst und Pflege aus, aber bei einem Gott schien mir diese Fähigkeiten doch recht unbedeutend. Aber ... ich wollte ihm helfen – wollte nicht, dass er solche Schmerzen hatte. Unabhängig, wie sauer ich gerade noch auf ihn gewesen war.
Ich zog also meinen störenden nassen Mantel aus, drehte Zerian vorsichtig auf den Rücken und versuchte, seine verkrampften Hände von seiner Brust zu ziehen, damit ich mir das mal näher ansehen konnte. Ich stutzte keinen Moment später. Waren das etwa Einschusslöcher in seinem Hemd? Ich war allerdings erleichtert, als ich es hochschob und keine Verletzung oder Ähnliches fand. Sorgfältig tastete ich als Nächstes seinen Brustkorb ab. Wenn es nur eine Muskelblockade war, könnte ich diese mit etwas Druck auf einige Nervenknoten leicht beheben. Ich kam aber nicht dazu, alles abzufühlen, da er schnell meine Hände ergriff und dann fest an sich presste.
“Ahh! Es brennt so ...”, keuchte er atemlos und sah mich flehend an. “Wieso? Wieso ... tut es das? Es ... geht dir doch gut ...” “Mir?”, fragte ich verwirrt, denn was hatte sein Leid jetzt mit mir zu tun? “Ich bin ... voller Fehler ...”, flüsterte er, bevor sich seine Augen verdrehten und sein Körper komplett erschlaffte. “O Nein! Zerian!”, rief ich und fühlte nach seinem Puls. Als ich nichts fand, vielleicht weil ich selbst gerade zu panisch war, legte ich meinen Kopf auf seine Brust und ... hörte nichts! Er atmete auch nicht! Er ... er konnte doch jetzt nicht einfach sterben! Er war ein Gott ... oder etwa nicht?