•‡Dezerias Sicht‡•
Erst dachte ich noch, wir gehen hinaus in die Stadt, aber nein. Der Sonnenheini und seine Leute führten mich lediglich in den Keller des Gasthauses ... Nun, jedenfalls dachte ich dies ängstlich, weil wir einfach nur Treppen hinunterstiegen. Ich irrte allerdings. Das war hier kein Keller mehr! Also ... ja schon, im ersten Moment, aber dann hatte es da eine glatte Wand gegeben, welche sich offensichtlich allein durch Zauberei öffnete. Musste ja, da ich keinen Hebel, Griff oder Ähnliches gesehen hatte, was einer der Männer betätigte. Wir standen einfach nur kurz davor und schon schob sich die Mauer beiseite. Unglaublich! Schwer und ächzend waren die Geräusche dabei gewesen, die mir unmissverständlich klar machten, dass diese Wand niemals von Hand geöffnet werden konnte. Ich schluckte schwer beim Eintreten, denn es bedeutete, dass ich ohne das Wissen um diese Öffnungsmagie vermutlich nicht wieder hinaus kam ... Ich folgte dennoch, ohne zu zögern. Mein Eis würde es schon schaffen, oder? O Gott bitte! Ich hatte keine Ahnung, wie stark es war – wie stark ich war, aber es musste klappen! Darauf setzte ich all meine Hoffnung ... Vielleicht hatte ich ja auch Glück und es gab einen anderen Weg zurück an die Oberfläche. O Bitte!
Mein Unwohlsein wuchs dramatisch mit jedem Schritt, den es weiter in die Tiefe ging. Lange schmale Fackeln, gesteckt in schönen verzierten Metallbefestigungen erhellten unseren Weg. Es wirkte sehr alt und so vollkommen ohne jedwede Magie oder Adelstechnik, was mich verwirrte. Der eine Typ war doch einer der höchsten Rea ... Was machte er an so einem Ort? Ich wusste, dass diese Gottheiten sich nur unter aufwändigen Vorbereitungen zu einem Besuch in einer Stadt herablassen würden. Alles musste blitzblank sein und im puren Luxus erstrahlen ... hier jedoch gab es bisher nichts davon. Ja, nur brüchiges Gestein, einen Haufen Staub und einige Spinnweben hier und da, geradezu schäbig. Ich musste es wissen. Ich hatte oft in unserer Kirche ausgeholfen – geputzt und geschmückt, damit alles tadellos für die Ankunft eines Rea war. Unser Glaubensprediger Pater Manfred hatte mir dabei immer besonders streng auf die Finger gesehen und mir penibel jedes Detail in einem Dauerschimpfen eingebläut. Ich hatte es gehasst, aber es war ein notwendiges Übel gewesen. Ja, ich tat es, um etwas Demut zu heucheln und die Kirchenleute in Rotterval gegenüber meinem sonderlichen Namen, etwas milde zu stimmen ... Irgendwie kam mir dabei gerade mein früheres Leben so sinnlos vor ... Nein! Ich hatte jetzt keine Zeit für Trübsal! Wir erreichten eine erneute Abzweigung und da musste ich äußerst aufmerksam sein – mir den Weg genauestens einprägen!
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Es folgten immer mehr spärlich beleuchtete Gänge, die wir passierten. Bisher zweimal rechts und dreimal links. Krampfhaft versuchte ich es mir so schnell wie möglich, mit simplen Eselsbrücken zu merken. Zwei Reihen Brote und drei Liter Wasser ... Genauso, wie es mein geliebter Vater in diesem Fall getan hätte. Ich durfte mich später nicht in diesem Labyrinth verlaufen! Bei der hohen Anzahl der weitläufigen Flure tippte ich auf eine Art Fluchttunnelsystem für die Bewohner der Stadt. Wobei ... die Gänge nach unten schienen mir unvorteilhaft, bei den ganzen Wassermassen, welche sich zweifelsohne über uns befinden mussten. Hin und wieder hörte ich ein leises Tropfgeräusch und betete inständig dafür, dass wir hier unten nicht gleich grausam ertrinken würden.
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Nach einem weiteren Liter Wasser und einer Reihe Brote folgte eine lange gewundene Treppe nach unten, welche einen starken Kontrast zu dem bisherigen Weg darstellte. Altes Mauerwerk wich glatten weinroten Wänden. Alles war blütenrein und ... und waren die Stufen etwa aus purem Gold? Prunkvoll ... keine Frage und doch hatte das ganze Rot und Gelb irgendwie etwas Unheimliches. Im Schein der brennenden Fackeln wirkte das hier seltsam bedrohlich, als würde uns Blut umgeben. Ich erschauderte unwillkürlich, fing mich dann aber schnell wieder, da keine fünf Stufen später ein süßlicher Duft in meine Nase zog. Ich konnte es leider nicht genau definieren ... Rosen? Nein. Honig? Es roch jedenfalls lieblich – geradezu köstlich! Leider war es auch das einzige Positive ... Diese verdammte Wendeltreppe schien einfach kein Ende zu nehmen! Auch hatte ich den Eindruck, als würde es mit jedem Schritt immer heißer werden – erstickend heiß!
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UND sie nahm immer noch kein Ende! Hilfe ... meine Füße konnten nicht mehr! Ich bezweifelte langsam, dass ich es rein kräftemäßig überhaupt wieder hinauf schaffen würde. Ich stoppte letztlich, weil ich wirklich fiese Schmerzen in den Waden und an den Fußsohlen hatte ... Die Stufen waren zwar glatt und angenehm warm, aber meine Muskeln weigerten sich, auch nur noch einen winzigen Schritt zu machen.
“Ihr rastet?”, fragte der Herr der Sonne sofort schmunzelnd neben mir und hielt ebenso an. Gott, was sollte ich jetzt darauf antworten? Wäre die Wahrheit verräterisch? Ich wollte unbedingt vermeiden, irgendwie auffällig zu sein. Nicht, dass er wieder sein magisches Pulver zückte, weil er glaubte, ich gehorchte nicht. Mir fiel aber leider nichts Gescheites ein, also versuchte ich es halt mit der Wahrheit ... Wie konnten die Männer schließlich nicht von diesem Marsch erschöpft sein? “Es tut mir leid, aber meine Beine schmerzen ...”, sagte ich wehleidig und wollte mich hinsetzen, aber da ergriffen plötzlich kräftige Hände meine beiden Oberarme. Verdutzt blickte ich nach rechts und links – sah fragend die beiden Männer an, die mich nun unerbittlich auf den Füßen hielten. Sie ignorierten mich jedoch, schauten nur konzentriert zu ihrem Chef, dessen Name mir immer noch nicht wieder einfallen wollte.
“O nein, o nein, mein verlorener kleiner Schein”, sprach er dann auch schon geschwollen und stellte sich direkt vor mir. “Die heiligen Stufen hinab ins Sonnenrefugium sind Teil Eurer Läuterung. Ihr beschreitet gerade den Ritus der Reinheit, um als Kind der Sonne wiedergeboren zu werden.” “Wiedergeboren?”, fragte ich unsicher und versteifte im selben Augenblick – hatte ich mich damit vielleicht verraten? Er ließ jedenfalls seine Hände in den jeweils anderen Ärmel seines Gewandes gleiten. Entgegen meiner Sorge, er würde mich nun erneut verzaubern, neigte er sich lediglich kurz mit den so verschränkten Armen vor. “Gewiss Wiedergeboren! Ich werde Euch aus der Geißel des Eises befreien und aus Euch eine Heilige des Feuers machen! Dafür ist es allerdings notwendig, dass Ihr die Erste Prüfung – diesen Weg aus Gold und Blut – alleine vollführt. Verzeiht daher die strenge Hand meiner Funken, aber wenn Ihr Euch nun setzen würdet, dann kommt Ihr sicher nicht wieder hoch. Vertraut der Sonne – vertraut mir. Dies könnt Ihr doch, nicht wahr?” Ich sah ihn bemüht furchtlos an und nickte langsam. Ich wusste ja selbst, wenn man beim Wandern nur mal eben eine kleine Pause machte, es danach nur noch schlimmer wurde. Aber ... nur etwas auszuruhen, war gerade sooo verlockend ...
“Sehr schön, meine kleine Seele. Der Weg der Sonnenprüfung ist für Euch gewiss schwerer als für andere, aber ich weiß”, er umfasste plötzlich mein Gesicht mit beiden Händen, “dass Ihr diesen bis zur letzten Stufe glorreich hinter Euch lassen werdet.” Ich starrte auf seine sonderliche Maske und versuchte dabei, bloß nicht zu zittern. Er war zwar ein-zwei Stufen unter mir, aber dennoch überragte er mich. Er wirkte so machtvoll – so gefährlich. “Ich ... ich weiß nicht, ob ich noch viel weiterkann, aber ich werde es für Euch ... f-für die Sonne versuchen”, sagte ich bewusst lieblich, um ihn nicht zu verärgern. Sein Griff um meinen Kopf verstärkte sich dennoch schlagartig, als wollte er prüfen, ob ich die Wahrheit sagte. Er wog leicht mein Gesicht hin und her – suchte vermutlich nach einem verräterischen Gesichtsausdruck. Und in der Tat, ich fühlte mich schrecklich unwohl ... Ob er es bemerkte? Durch seine blöde Maske konnte ich es einfach nicht abschätzen.
“Wunderbar”, sagte er nach einem Moment und ließ mich zum Glück wieder los. “Die Eishexe wird den Weg der Sonnenprüfung weiter beschreiten!” Nach diesen Worten streckte er seine Arme empor. “Lasset von ihr, wir setzen unseren Weg fort. De Asa sire meeha! Die Sonne hat gesprochen!”, verkündete er feierlich und drehte sich herum. “Die Sonne hat gesprochen!” Hallte es im Chor von den anderen ebenso ... Gott, die waren verrückt!
“Mein Herr ... darf ich fragen, wie weit es noch ist?”, fragte ich schnell, als ich ihm die ersten Stufen hinterher schritt und die Schmerzen sich deutlich spürbar meldeten. Bei den Monden! Lange hielt ich das nicht mehr aus! “Nennt mich Lichius, das Kind der Sonne und der goldene Weg endet, wenn Eure Seele rein ist.” Toll, mit anderen Worten noch sehr lange, oder wie? Gott, wie sollte ich das jetzt meinen völlig fertigen Füßen beibringen?
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Ich wusste nicht, wie viele Stufen ich bislang hinter mich gebracht hatte ... aber es schienen halt schlichtweg kein Ende zu nehmen. Ich torkelte gequält Stufe für Stufe. Langsam. Schmerzhaft. Ich machte sicherlich keine gute Figur dabei, aber das schien Herr Lichius nicht zu stören. Ich belastete meine Füße aus der Not heraus schon abwechselnd, doch auch das half schnell nichts mehr. Ob nun Ballen, die Außenseiten oder die Zehenspitzen ... Die Waden, die Knie, die Oberschenkel ... jeder Muskel schrie vor Schmerz! Zudem wurde es immer heißer und heißer! Der Schweiß rann mir die Stirn sowie den Rücken hinab, gleich eines Wasserfalls. Wie hielten die Männer das nur aus? Sie trugen doch deutlich dickere Gewänder, als ich in diesem freizügigen Ding ... O Gott, ich hatte so Durst! Mein Mund war schon ganz trocken! Es ging einfach nicht! Ich konnte nicht weiter, aber ich musste doch! Wenn sie Zerian hierher verschleppt hatten – er hier gefangen gehalten wurde ... Ich musste es schaffen ... Wie weit ging es denn bitte hier noch in die Tiefe? Ob sie mir wenigsten Wasser geben würden, wenn ich ganz freundlich fragte? Aber ... bisher hatte ich niemanden aus der Gruppe gesehen, der überhaupt etwas trank. Alle liefen nur still und stumm mit mir diesen Höllenweg ... Gott, ich war so erschöpft ...
Ich haderte noch eine Weile ... und gerade als ich mein Verdursten kundtun wollte, hörte ich etwas! Klang wie ein entferntes Trommeln. Ich lauschte. Ja, aus der Tiefe drang es herauf! Mit jedem Schritt wurde es klarer und deutlicher. Viele verschiedene Trommellaute lockten meine erschöpften Beine, denn das musste unser Ziel sein! Ich zehrte von all meinen verbliebenen Kraftreserven und kämpfte mich zügig voran. Bei Del und Cor, ich war dem Ursprung schon ganz nah!
Hm? Wurde mit einem Mal der Treppenpfad heller? Ich runzelte die Stirn und wischte mir erneut den Schweiß aus dem Gesicht, um besser sehen zu können. Ja! Tatsächlich es wurde lichter! Plötzlich begannen auch die Männer um mich herum, eine seltsame Melodie zu summen. Es hörte sich so bezwingend, so sehnsuchtsvoll an ... und es gefiel mir irgendwie. Ich wusste auch nicht genau warum. “Allieee ... betet zur Sonne ... zum Licht der Sonne”, stimmte nun auch Lichius mit ein und machte dabei rhythmische Bewegungen mit seinen Händen. Ich war verwirrt davon, aber das Summen und dieser eine gesungene Satz von ihm, harmonierte unglaublich gut zu den dumpfen Trommelschlägen. Es war geradezu magisch.
Einige wenige Stufen später erblickte ich schließlich das Ende. Zitternd und bebend riss ich mich zusammen, jetzt bloß nichts zu überstürzen. Die letzten paar Meter wollte ich nicht noch stolpern und mich zusätzlich verletzen. Konzentriert hielt ich also meine Augen auf den Boden gerichtet und ... o Gott, ja! Erschöpft und unendlich glücklich stürzte ich mich nach der letzten Stufe hinunter auf die Knie – auf überraschend weichem Sand. Ich hatte es geschafft! Geschafft! Gott! Richtige Euphorie erfüllte mich! Sämtliche Sorgen und Ängste schienen wie weggefegt!
“Allieee ... betet zur Sonne ... zum Licht der Sonne”, sang Lichius noch ein-zwei Male, bevor er sich direkt vor mir aufbaute. “Ihr habt es geschafft und kniet Euch sogar andächtig vor mir, dem Kind der Sonne. Wahrlich eine schöne Geste von Euch.” Ich unterdrückte ein abfälliges Schnauben. Von Freiwilligkeit konnte keine Rede sein! Ich hatte nun mal keinerlei Gefühl mehr in meinen Beinen! Aufstehen ... würde ich gewiss nicht mehr alleine hinbekommen. Ob er das dann immer noch so toll fand?
“Den Weg der Sonnenprüfung habt Ihr bestanden. Nun empfangen Euch die heiligen Tore des Sonnenrefugiums mit Freude und Liebe.” Er schritt mit einer ausladenden Geste zur Seite und gab mir den Blick frei auf einen hell erleuchteten Torbogen. Eine Tür ganz aus Licht befand sich darinnen und blendete meine Augen ... Offensichtlich sehr machtvolle Magie. Ich war schier überwältigt. “Also dann, meine Funken, öffnet die weißen Sonnentore und heißen wir die Hexe des Eises im Reich der Sonne herzlich willkommen!” Die Männer stemmten sich sogleich gegen die Flügeltür und dann ... sah ich nichts weiter als gleißende Helligkeit.