Ich fiel. Eiskalter Wind riss brutal an meinen ungeschützten Händen. O was habe ich da nur getan? Ein Sprung aus solcher Höhe ist doch verrückt! Der Aufschlag wird mich ganz sicher umbringen! Kaum gedacht, und obwohl ich überhaupt nicht hinsehen wollte, öffnete ich die Augen. Und – der Boden! Rasend schnell kamen die Umrisse der Dächer näher. Näher. Und noch NÄHER!
“AAAAAAHHHHHHHHHHHHHH!”
<<Nein, Johanna! Keine Angst! Einsetzung der Antigravitationswelle in 3 ... 2 ... 1 ...>>
Plötzlich erfasste mich ein Gefühl von Schwerelosigkeit. Mit riesigen Augen starrte ich auf eine Dachschräge, welche sich nur einen halben Meter vor meiner Nase befand. Die Zeit stand irgendwie still. Wie ist sowas möglich? Ich bin nicht aufgeschlagen? Natürlich. Adelstechnik!
“Uah!”, stieß ich dennoch erschrocken aus, als mein Körper ohne Vorwarnung den letzten Abstand zum Dach überwand. Ich landete ruckartig auf allen vieren und hatte Mühe, nicht gleich weiter hinab zu rutschen. Keuchend und mit rasendem Herzen suchte ich Halt – kam wackelig auf die Beine.
<<Spring runter! Du bist etwas abseits. Wir müssen zum Gasthaus. Es ist da drüben.>>
“Du hast leicht reden, Heka! Ich weiß nicht ... wo das sein soll ...” Verwirrt und definitiv überfordert, versuchte ich mich zu orientieren. Ich stand irgendwo auf einem Haus. Mitten in der Stadt. Auf blanken grauen Steinplatten, wie es sie hier wohl überall gab. Zudem war mein neues Sichtfeld durch den Helm doch etwas arg gewöhnungsbedürftig. Vor meinen Augen tanzten verschiedene Zahlen und Warnungen, dass zum Beispiel mein Herz deutlich über dem Normalwert schlug.
“Huh?” Die Anzeige veränderte sich. Die roten und grünen Ziffern verschwanden. Ein feiner gelber Lichtstrahl legte sich dafür auf die Umgebung – bildete einen schmalen Pfeil auf dem Boden. Wow. Selbst als ich den Kopf drehte, passte er die Richtung zu meinem Ziel automatisch an. Wie gerne hätte ich mich jetzt genauer mit dieser unglaublichen Technik befasst, aber – es gab Wichtigeres!
<<So besser? Ich habe dir die Koordinaten übertragen und anzeigen lassen, siehst du es?>> “J-ja ...”, verunsichert blickte ich hinunter, “ich kann einfach springen, ja?” <<Ja. Keine Angst. Der Sturz wird von der Rüstung automatisch abgedämpft. Keine Verletzungen möglich.>> Ich schluckte. Das zu hören machte mein Schwindelgefühl kaum besser, aber es half, mich zusammenzureißen. Ich vertraute ihr.
Mit einem großen Satz sprang ich vom Rand des Daches und schaffte es diesmal sogar, auf meinen Füßen zu landen. Getuschel erklang. Ich bemerkte einige umstehende Leute, die mich erschrocken und entsetzt musterten. Stimmt. Ich sah in dieser Kleidung sicherlich sehr befremdlich für sie aus und bin gerade buchstäblich aus allen Wolken gefallen. Ein mulmiges Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Was, wenn die Stadtwachen jetzt kommen und mich angreifen? Wird der Anzug mich dann auch selbstständig verteidigen? Werde ich kämpfen müssen?
Ein energisches Tippen an meinem rechten Bein holte mich schnell aus diesen düsteren Gedanken. Heka stand neben mir, was die ganze Situation aber leider nicht besser machte. Ihr Anblick löste bei den Menschen gleich noch mehr Panik aus. Verständlich. Ich bezweifelte, dass normale Anwohner oft eine kniehohe metallartige Riesenspinne zu Gesicht bekamen. Ängstliche Rufe hallten durch die Gasse – dann rannten alle eilig davon.
<<Nicht stehen bleiben! Deine Rüstung besitzt keine Tarn-Tec und du wirst gesehen. Ich sende zwar ein Störsignal, aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Systeme der Stadt uns bereits als Eindringling erfasst haben. Mögliche Verteidigungsmaßnahmen könnte ein Beschuss aus Geschütztürmen sein. Also. LAUF!>> Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und rannte los – folgte dem leuchtend gelben Pfeil vor meinen Augen.
Nach wenigen Metern bogen wir um eine Häuserreihe. Eine breite Straße erstreckte sich vor mir, auf der sogar einige Kutschen laut krachend fuhren. Etwas weiter hinten befand sich eine große Menschentraube direkt vor einem Gebäude. Ausgerechnet da, wo ich auch hinmusste. Schnell näherte ich mich, aber noch bevor ich die Leute erreichte, ertönte hysterisches Geschrei:
“Da! Da ist er!”
“Ein Attentäter!” Alle blickten sofort zu mir, was mich verwirrte. Attentäter?
“Hilfe!”
“Gütige Sonne!”
“Wa-was ist denn d-das?!” Nun huschten sämtliche Augen zu Heka. Ja. Unauffällig ging definitiv anders.
“Was jetzt?”, fragte ich verunsichert. “Soll ich einfach da durch? Ich muss doch ins Haus, oder?” <<Ja. Reznick ist dort. Warte einen Moment, ich mach den Weg frei.>>
Stirnrunzelnd sah ich dabei zu, wie die Monsterspinne sich in Bewegung setzte. Aus dem Rücken fuhren weitere schmale Arme, die wie unheimliche Klingen aussahen. Wild fuchtelte Heka damit herum. Das Metall kreischte bedrohlich – zog tiefe Furchen in die Pflastersteine.
<RARWW! Aus dem Weg! Ich töte wahllos!> Hekas Stimme hallte wie ein Donnerwetter über den Platz. Fassungslos stand ich da, während der Mob sich voller Panik auflöste. Als keiner mehr zu sehen war, drehte sie sich zu mir herum. Unwillkürlich zuckte ich zusammen.
<<Habe ich es übertrieben?>> In meinem Kopf klang sie nun wieder sehr sanft und liebevoll. Es passte überhaupt nicht zu dem Ungetüm, welches sie hier gerade abgab. Der Roboter sah wahrhaft so aus, als wollte er einen gleich in lauter kleine Stücke zerhacken.
“I-ich dachte ... du wolltest wirklich ...” Ich schloss den Mund wieder. Es war unsinnig, jetzt vor ihr Angst zu haben. Außerdem fiel mein Blick auf zwei bewusstlose Personen. Sie lagen nur wenige Meter von Heka entfernt. Schnell lief ich zu ihnen. Offensichtlich hatte sich die anderen gerade um sie gekümmert. O jee, so schnell wird wohl keiner mehr von denen zurückkommen. Werden sie nun sterben?
<<Hop, hop. Hier lang.>> “Nein, warte! Was ist mit ihnen? Ich kann keine Verletzung finden ... und wir können sie hier doch nicht so hilflos liegen lassen!” <<Können und müssen. Keine Sorge. Ein Gebietsscan zeigt, dass erneut Kutschen hierher unterwegs sind. Die Personen dort sind lediglich bewusstlos durch Elektrizität – Reznick hat nur betäubt und nicht getötet. Auch ein weiterer Umgebungsscan registriert nur Verletzte. Keine Toten. Komm, Johanna! Nach meiner Einschätzung liegt die Sterbewahrscheinlichkeit für Zerian bereits bei 89,44 Prozent. Kritisch.>>
Ich nickte und ließ den muskulösen Mann mit Halbglatze einfach liegen – schritt auch an dem anderen Leblosen achtlos vorbei. Es fiel mir schwer, mein schlechtes Gewissen dabei zu ignorieren. Jemandem nicht zu helfen, tat mir in der Seele weh. Schon immer. Wenn mein Meister es nicht sah, versorgte ich stets die Wunden der Sklaven – sofern es meine eigenen Verletzungen zuließen. Schnell schüttelte ich den Kopf. Mich jetzt in solche Gedanken zu verlieren, brachte mich nicht weiter.
Ich folgte Heka ins Gebäude. Die massive braune Eingangstüre war regelrecht zertrümmert worden. Reznick hatte sich ohne Zweifel gewaltvoll Zutritt verschafft. Innen war es im Vergleich zu draußen sehr dunkel. Die Technik in meinem Helm gleichte dies aber sofort aus. Es blinkte kurz das Wort Lichtanpassung auf und im Nu konnte ich alles erkennen – bis ins kleinste Detail. Selbst Gegenstände in meiner Nähe wurden mit einem weißen Schein deutlich umrandet. Was diese Kleidung nicht alles konnte – faszinierend.
<<Reznick ist dort entlang.>> “In den Keller? Wieso suchen wir nicht zuerst die Zimmer oben ab?”, fragte ich irritiert, da Heka schnurstracks eben genau diese Treppen in die Vorratskammer hinunter krabbelte. Gasthäuser waren doch alle gleich aufgebaut. <<Vertrau mir. Hier lang.>> Gut. Ich folgte ihr brav.
Wir erreichten wenig später eine glatte Wand. “Und jetzt? Was machst du da?”, fragte ich skeptisch, während Heka mit ihren schmalen Vorderbeinen die Steine abtastete.
<<Suche Zugang oder einen Berührungspunkt. Gestein ist ungewöhnlich. Ich hatte bei diesem Ort bereits ein Tiefenscan durchgeführt, aber nichts gefunden. Reznick muss hier weiter gekommen sein.>> “Bist du dir sicher? Woher weißt du das überhaupt? Wir haben doch keine Zeit, hier sinnlos rumzustehen.” <<Vielleicht hat eine KI – ich nicht – ihm ein Ortungsgerät in seine Rüstung einsetzen lassen. Ich habe sein Signal genau hier verloren. Aber. Falls er dich danach fragen sollte – du weißt von nichts!>> Ich schmunzelte und kurz bevor ich noch etwas dazu sagen wollte, öffnete sich tatsächlich ein Durchgang.
<<Tada!>> “Toll gemacht! Aber. Führt dieser Weg auch zu Zerian? Reznick sucht doch nur nach der Frau vom Grafen.” <<Die Wahrscheinlichkeit dafür ist hoch. Ich habe bereits die Menschenansammlung anhand der Übertragung bemessen und dementsprechend danach gesucht. Keine derartige Gruppierung lässt sich in der Stadt finden. Unterirdisch jedoch – es würde passen. Zudem waren Zerian und Dezeria zusammen unterwegs. Dass sich beide am selben Ort oder in der Nähe zueinander aufhalten liegt bei 76 Prozent. Es ist die einzige Option, die wir haben.>> “Hoffentlich ...”, flüsterte ich und lief in den sehr alt wirkenden Flur. Unzählige Fackeln erhellten den Weg. Es wirkte alles sehr altertümlich und wenig prunkvoll. Brüchiges Gestein, Staub und Spinnenweben soweit das Augen sehen konnte. Nach einer Weile erreichten wir eine Abzweigung, bei der Heka plötzlich stoppte.
“Was ist? Weißt du nicht, wo es lang geht?” <<Hm. Echoortung ergab nur Sackgassen. Aufbau gleicht einem Labyrinth – gedacht um Fremde in die Irre zu führen.>> Sie ging zur Wand und klopfte erneut mehrfach dagegen. <<Es muss hier irgendwo ein Netzwerk geben. Vielleicht sogar eine KI, welche die Gänge und Wände steuert, damit sichergestellt ist, dass kein Fremder hinein oder wieder hinaus findet. Wenn ich Zugriff darauf habe, kann ich uns allerdings überall hinbringen.>> Ich runzelte die Stirn. “Heißt, wir werden beobachtet? Was ist dann mit Reznick?” <<Überwachung seit unserem Eindringen sehr wahrscheinlich. Vitalwerte bei Reznick sind in Ordnung. Daher kein Grund zur Sorge.>> Ich erschauderte unwillkürlich. “H-hast du also auch etwas in ihm, weil du das weißt?” <<Nein. Bekomme noch vereinzelte Daten von seiner Rüstung übermittelt – von dir übrigens auch. Achtung. Kann möglicherweise unangenehm laut werden.>> “Hm?” Dann knallte es auch schon. Meine Ohren klingelten schmerzlich. Der Gang füllte sich mit einer dicken Staubwolke, die sämtliche Flammen der Fackeln verschlang. Es wurde augenblicklich stockfinster.
“Hilfe! HEKA?!”, rief ich besorgt und versuchte, mich zu orientieren. Der Helm versuchte, die Sicht umgehend auszugleichen. Einige Warnmeldungen blinkten auf, aber dann konnte ich auch schon den Weg in einer gräulichen Farbe bestens erkennen. Ich fand Heka. Sie stand noch immer an der Wand und hatte dort ein großes Loch hinein gesprengt.
“Heka?”, fragte ich beunruhigt, da die Spinne sich nach einigen Minuten immer noch nicht bewegte. Ich erkannte bei genauerem Hinsehen, dass die Vorderbeine des Roboters tief in der Wand steckten. Was hat sie denn da nur gemacht?
<<Test. Test. Johanna, hörst du mich?>> “JA! Ein Glück! Was ist passiert?” <<Übernahme einer KI. Mache mich gerade mit dem System dieser Einrichtung vertraut. Überprüfung läuft. Steuerung ... Kameras ... Lebenserhaltung. Gefunden: Reznick – Etage 06 im Treppenflügel, Dezeria – Residenz des Sonnenfürsten, Zerian – Opferaltar der Zeremoniehalle. Verfassung: Dezeria – gut, Zerian – kritisch. Leite Evakuierungsfrequenz ein. Übertrage Daten.>> “Oh ... ähm, wow ...”, brachte ich nur überrascht und irgendwie überfordert heraus. <<Entschuldige. So, jetzt geht es wieder. Schnell. Nimm bitte den Weg vorne rechts. Dort kann ich einen Aufzugsschacht öffnen. Damit bringe ich dich direkt bis nach ganz unten. Reznick leite ich nun ebenso an. Ich versuche nebenbei, das Ritual zu stören, um Zerians Chancen zu erhöhen. Dezeria wurde von mir zu ihrer eigenen Sicherheit in ihrem Zimmer eingeschlossen. Leider besitzt diese KI keine Sprachausgabe. Sie ist in Panik und ich kann sie nicht beruhigen, aber erstmal sollten diese Aktionen von mir ausreichen. Jetzt liegt alles an dir und Reznick.>>
Ich lief bereits den Flur entlang – bog nach rechts und stieg, wie von meinem Helm angezeigt, in den dortigen Aufzug. Der Ryron folgte mir dicht auf.
“Du bringst mich also jetzt nach unten zu Zerian? In den Raum voller Menschen?” <<Korrekt.>> “Dann sollte der Roboter besser hierbleiben, oder? Du machst den Leuten schreckliche Angst”, sprach ich meine Bedenken aus. Natürlich hatte ich auch ein mulmiges Gefühl, dort alleine hinein zu gehen, aber das erschien mir besser, als eine Panik in den engen Räumen zu provozieren.
<<Das ist beabsichtigt. Der Fokus liegt auf mir. Dir wird dadurch nichts passieren. Keiner wird es wagen, dich anzugreifen. Ich beschütze dich, während du Zerian versorgen kannst.>> “Okay ...” Ich zweifelte etwas. Hoffentlich konnte ich die Menschen dort unten überzeugen, nichts Dummes anzustellen. Ein Blutbad wollte ich unbedingt vermeiden. Nervös faltete ich die Hände und starrte auf die Tür des Aufzugs. Sobald sie sich wieder öffnete, lag alles in meiner Verantwortung. Tief atmete ich durch. Hoffentlich schaff ich das.