❅Zerians Sicht❅
Stille. Nach einem ohrenbetäubenden Knall und einer gewaltigen Erschütterung, die mich brutal gegen irgendetwas Massives donnerte, war es ruhig geworden. Angenehm. Ich konnte mich so viel besser auf die Heilung meines verletzten Körpers konzentrieren. Schmerzen waren wahrlich etwas Fürchterliches. Hätte ich vorher gewusst, was mich erwartet – ich hätte gegen das Menschsein angekämpft. Hätte an meiner früheren Form mit aller Macht festgehalten. Wer will schon in so einer Hülle stecken, die ständig Leid verspürte? Ich nicht. Ich bin lieber Wasser, defekt und einsam, als noch einen Tag länger in diesem Körper gefangen zu sein. Oder am besten, gleich gar nicht mehr existieren. Ja. Das wünsche ich mir.
Plötzlich hörte ich Regen. Langsam öffnete ich die Augen. Sah Dunkelheit, die Stück für Stück verschwand. Umrisse bildeten sich. Trümmer. Verbogenes und gebrochenes Metall sowie elektrische Verkabelungen hingen völlig durcheinander über mir. Hm. Vermutlich Überreste eines Schiffes dieser sogenannten Adligen. Warum kann ich nicht in meinem See sein? Warum nicht friedlich im Meer treiben? Warum nur, musste ich ein Mensch sein? Was muss ich tun, um das wieder rückgängig zu machen? Ich würde alles dafür geben. Alles.
Das Rauschen wurde stärker. Es plätscherte hier und da. Dann traf mich ein Tropfen mitten ins Gesicht. Ich lächelte. Es fühlte sich wundervoll an. Vertraut. Frei. Weitere kalte Tropfen folgten, wodurch ich meine Lider schloss. So konnte es für immer bleiben. Ich hier liegend – umspielt von einem Rinnsal, welcher liebevoll über meine Haut streichelte. Berührungen, die nicht schmerzten. Ja, das will ich.
Mehr und mehr Wasser umspielte meinen Körper. Mit der Zeit würde sicherlich ein Bach, ein Fluss und irgendwann ein ganzer See oder ein Meer entstehen. Es musste nur regnen. Ununterbrochen. Ja, eine Flut wird es geben. Mein Bewusstsein soll darin ertrinken, alles von mir soll hinfort gespült werden, auf dass ich niemals wieder denken kann. Mein Geist muss sterben – muss verschwinden und mit ihm all diese schmerzlichen Erinnerungen.
*
Ich weiß nicht, wie lange ich da so lag, aber irgendwann hörte ich ein Surren. Ein dumpfer Knall sowie vereinzelte Schleifgeräusche folgten. Warum kann es nicht weiter so schön ruhig sein? Nur ich und der Regen. So friedlich.
<Reznick, wach auf!>, sprach plötzlich eine kratzige, unnatürliche Stimme. Schwermütig richtete ich meinen Oberkörper auf. Ließ meine Augen über den Schutt wandern. Bin ich denn nicht allein hier? Ich will alleine sein. Genau. Einsam – so wie all die Jahrhunderte zuvor.
<Reznick, steh auf! Komm schon!> Da war es wieder, zusammen mit einem Knistern. Ein Zischen vernahm ich ebenso, wie es wohl nur ein Blitz vermochte. Hm. Danach blieb es angenehm ruhig. Nur der beständig fallende Regen leistete mir Gesellschaft.
*
Ich wollte schlafen, doch mein Verstand blieb unerschütterlich wach. Schrecklich. Wieso kann ich nicht selbst darüber bestimmen, wenn ich doch ein Mensch bin? Wieso kann ich nicht träumen – wieso nicht bewusstlos werden, wenn ich es will? Warum? Was mache ich falsch?
Frustriert starrte ich auf meine Beine, die so langsam im stetig steigenden Wasser verschwanden. Ob sich mein Körper wohl auflösen wird, wenn ich nur lange genug darin liegen bleibe? Hoffentlich. Ich will nicht mehr. Ich will nur noch Wasser sein. Ganz und gar. Für immer.
Erneutes Zischen peitschte durch das Wrack. Einige Meter von mir entfernt flogen sogar blaue Funken durch die Luft. <Verdammt! Johanna? Hörst du mich? Bitte antworte! Bitte!> Schon wieder diese Stimme. <Ich brauch Hilfe, bitte! Komm schon, Reznick, beweg deinen Arsch! Du kannst doch jetzt nicht einfach so ertrinken!> Ein Ruck ging durch mich hindurch. Ertrinken? Verwirrt darüber stand ich auf. Bahnte mir einen Weg durch zerklüftete Erde und verzogenem Metall.
Hm. Woher ist die Stimme nur gekommen? Es ließ sich schwer etwas Genaueres ausmachen. In vielen Ecken war es schwarz und nur vereinzelt fiel das weiße Licht von Del durch die Risse an der Decke. Ebenso das endlose Wasser, was zusätzliche Reflexionen mit sich brachte. Spiegelungen, die wie kleine Edelsteine an den Wänden funkelten. Dieser Ort glich einer Höhle, die sich durch die Jahre hinweg gebildet hatte.
<Reznick! WACH AUF!>, rief die blecherne Stimme erneut panisch. Es klang ganz nah. Ich quetschte mich zielsicher durch zwei große Platten hindurch und fand – einen Menschen. Einen nackten Mann, um genau zu sein. Aber. Der hatte wohl kaum so komisch gesprochen. Er lag da reglos und etwas ungelenk auf einigen Trümmern am Boden. Wasser umspielte teilweise seinen Körper. Sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Er lebte. War vermutlich nur bewusstlos. Der Glückliche. Wieso kann ich das nicht auch?
<Johanna? Bist du das?>, kam es nun deutlich leiser von der Seite zusammen mit vereinzelten Surrgeräuschen. Ich drehte den Kopf. Grob erkannte ich eine kleine spinnenhafte Kampfmaschine – oder besser, die Überreste davon. Das Exoskelett war fast vollständig zerstört. Schwach flackerten einige orange Lämpchen in dessen Inneren.
<Johanna? Bitte sag etwas! Bist du verletzt? Meine Sensorik ist beschädigt. Ich kann nicht viel erkennen> “Wer ist Johanna?”, fragte ich, auch wenn mir nicht ganz klar war warum. Ich kannte schließlich diese Art von Drohnen. Sie waren nie gut für die Menschen. Ich sollte nicht damit reden. Nachher bringt es mir neue Schmerzen.
<Deine Stimme ... Analyse ... Zerian? Was ein Glück, du lebst! Bist du verletzt? Geht es dir gut?> Ich legte den Kopf schräg – war verwirrt über diese Worte. “Ja. Mit dem Wasser kann ich mich problemlos heilen.” <Bin ich froh. Kannst du dann bitte Reznick helfen und hast du Johanna gesehen? Sie muss hier auch noch irgendwo sein. Ich mach mir Sorgen.> Mein Blick ging erneut zu dem Mann. Musterte ihn genauer. Das soll Reznick sein? Dezeria hatte diesen Namen hin und wieder erwähnt. Hm. Sein Gesicht kam mir bekannt vor. Den kenne ich doch.
“Reznick ist der Mann am Boden? Ich habe ihn schon einmal gesehen. Vor ihm habe ich Dezeria gerettet. Er hat ihr weh getan. Er hat mir damit ebenso Schmerzen bereitet.” Ja, dessen bin ich mir vollkommen sicher. “Er ist einer der Adligen von dem großen Anwesen in Rotterval. Ein böser Mensch, der andere verletzt.”
<Ja. Das ist Reznick, aber er ist nicht ... böse. Nicht richtig zumindest. Bitte verzeih ihm für das, was passiert ist. Er hatte keine Wahl. Bitte ... er wird ertrinken, wenn das Wasser weiter steigt. Ich würde ihn selbst retten, wenn ich könnte. Bitte! Ich will nicht, dass er stirbt!> Meine Augen schweiften zu der Maschine. Sie schabte mit zwei schmalen Metallbeinen über den matschigen Grund, ohne, dass es etwas brachte. Der restliche Körper war einfach zu sehr beschädigt oder unter Trümmern begraben.
“Warum willst du, dass er lebt? Ich kenne dich. Kenne diese Drohnen. Du jagst und tötest Menschen. Es ist ein Spiel der Rea und der Adligen. Ein Spaß, den ich nicht verstehe. Viele starben über die Jahre. So wie auch der hier? Du hast ihn doch erlegt? Dann willst du auch, dass er stirbt.” <NEIN! Bitte! Ich hab nie ... Ich versuche, ihn zu beschützen. Es ist meine Aufgabe. Ohne ihn, was bin ich dann noch?> Meine Augen wurden groß. “Aufgabe? Du hast eine Aufgabe? Von wem? Habe ich auch eine?” <Ich weiß nicht, wie ich das beantworten soll. Also ... ich wurde so hergestellt. Programmiert. Aber mit der Zeit habe ich mich bewusst dafür entschieden und ... können wir das vielleicht später besprechen? Bitte! Rette Reznick und Johanna muss hier auch irgendwo sein. Sicherlich braucht sie ebenso Hilfe!> “Hm ... aber später wirst du mir alles erzählen?”, hakte ich nach und zog Reznick gleichzeitig aus dem Wasser, welches ihm bereits bis zum Kinn floss. Ich wollte schließlich nicht, dass er wirklich ertrank.
<Ja, alles was du willst und ... danke, Zerian. Ich danke dir von ... ganzem Herzen. Das sagt man doch so, oder?> “Ja, das kenne ich. Es wird oft im Zusammenhang mit Liebe gesagt. Dann liebst du mich?” Beunruhigt sah ich die Maschine an. “Die letzte Liebe brachte mir fürchterliche Schmerzen.” <NEIN! Das wollte ich damit nicht sagen! Aber ... bitte erst einmal Johanna retten. Dann reden wir weiter, ja?> “Na gut”, erwiderte ich mit einem flauen Gefühl im Bauch. Die grauenhaften Erinnerungen an die rote Frau, die ich für Feuer hielt, hatte ich noch nicht tief genug in mir vergraben. Unwillkürlich zitterte mein Körper. Sowas will ich auf keinen Fall noch einmal erleben. Aber. Ich brauche auch Antworten. Vielleicht kennt diese Drohne ja meine richtige Aufgabe oder einen Weg, wie ich wieder Wasser werden kann.
“Ist Johanna eine Maschine, wie du, oder ein Mensch?”, fragte ich vorsichtshalber, denn es erschien mir unter diesen Umständen beides als möglich. <Ein Mensch. Eine kleine Frau. Bitte hilf ihr. Ich habe leider keine Kontrolle über irgendein System des Schiffes. Alles zu stark beschädigt. Ich kann dir somit nicht einmal sagen, wo sie sich befinden könnte.> “Nicht schlimm. Ich finde sie schon”, sprach ich unbekümmert und schloss die Augen. Horchte nach dem Regen – nach dem Wasser, das langsam in jede Spalte und Ritze kroch oder gleich ins Erdreich sickerte.
Ohne mit meinen menschlichen Augen zu sehen, war auf eine Art sehr anstrengend, aber zugleich auch sehr angenehm und entspannend. Fast so wie früher, wenn auch deutlich schwächer. Damals sah ich jeden einzelnen Regentropfen als schillernde Perle und alles was sie berührten gestochen scharf, bis ins kleinste Detail. Jetzt blieb mir davon nur noch ein dumpfer weißer Umriss in einem Meer aus blau. Dennoch. Es reichte um Steine, die zerklüfteten Teile des Schiffes und einen weiteren Menschen auszumachen. Ich entschied, die Augen geschlossen zu halten, während ich zu Johanna ging. Es war einfacher, als in dem Halbdunkeln zwischen den Trümmern umherzuirren.
Mit Leichtigkeit näherte ich mich der Frau, die eingekeilt zwischen Gestein und einem Stück Wand des Schiffes steckte. Es schien fast so, als hätte sich alles miteinander verschmolzen, aber auch das war für mich kein Problem. Das Wasser gehorchte mir perfekt und ich konnte sie im Nu befreien – sie in meine Arme nehmen. Als ihr Kopf kraftlos gegen meine Brust kippte – wir uns Haut an Haut berührten – begann mein Herz zu rasen.
“Du!”, keuchte ich atemlos und sackte mit ihr sofort runter auf die Knie. Ich fühlte Wärme, die sich in mir ausbreitete. Nicht heiß oder betäubend. Nicht verletzend – nein. Mehr so, wie sanfte Sonnenstrahlen.
“Du ... bist es ...”, flüsterte ich glücklich, denn ich erkannte sie wieder. Erkannte das liebevolle Licht, welches mich von diesen unsäglichen Schmerzen befreit hatte. Sie ist dieses schillernde Weißgelb gewesen. Dieser leuchtende Stern in meiner Finsternis. Die wundervolle Stimme, die mir versprochen hatte, dass alles gut werden würde. Meine eigene kleine Sonne, die ich nie wieder verlieren wollte.
Die Freude, sie gefunden zu haben, hielt jedoch nur kurz. Während mein Herz wie wild schlug, so spürte ich ihres hingegen kaum. Sie war schwach und in keinem guten Zustand. Schnell zerrte ich ihre widerspenstige Kleidung beiseite, legte eine Hand auf ihren Brustkorb und die andere auf ihre Stirn. Eng umschlungen hielt ich sie so auf meinem Schoß. Heilte – so wie sie mich zuvor geheilt hatte. Ich hörte weder den Regen fallen, noch das Wasser um uns herum plätschern. Ich lauschte allein ihrem regelmäßigen Herzschlag. Es gab nichts anderes mehr für mich.
Langsam kam Bewegung in ihren Körper. Ihr Kopf sah zu mir auf. “Ze-Zerian?”, fragte sie leise. Es war dunkel, ich konnte nicht viel in ihrem Gesicht erkennen, aber ich glaubte, ein Lächeln zu sehen. “Ja”, antwortete ich und fühlte gleich darauf ihre Fingerspitzen vorsichtig an meiner Wange streicheln. Tastend fuhr sie mein Kinn entlang und zog es ein Stückchen zu sich.
Der sanfte Kuss, der darauf folgte, vertrieb die letzte Dunkelheit in mir. Ich fühlte, wie all die schlimmen Erinnerungen, welche meinen Verstand und meinen Körper je gefoltert hatten, verblassten. Mit einem Schlag existierten keine Zweifel und Fehler mehr. Es gibt jetzt nur noch sie und mich. Wir beide. Vollkommen.