╬Reznicks Sicht╬
Johanna mit meinem Arm zu durchbohren fühlte sich in der Sekunde, wo ich es tat, irgendwie seltsam und falsch an. Dabei nicht ihr Innerstes. Nein. Das war genauso beschaffen, wie bei allen Menschen. Warmes Blut umspielte die Klinge und ihr Gesicht verlor vor Schock jedwede Farbe sowie Emotion. Eine natürliche Reaktion. Was aber nicht stimme – es tat mir selbst weh. Mein Magen verkrampfte. Wobei. Nein. Es ging tiefer als jedes körperliche Empfinden. Wie ein unumstößliches Gefühl, etwas abgrundtief Verbotenes getan zu haben. Dazu kam noch dieser langgezogene Schrei, der vom Flur zu uns hinüberhallte und so viel Leid und Elend mit sich trug, dass er genauso gut meiner Seele entsprungen sein könnte. Scheiße! Warum hatte ich sie überhaupt verletzt?
Bemüht vorsichtig zog ich das Metall aus ihrem Bauch, formte es zurück und drückte sofort danach die Handfläche auf das Loch. Blut quoll zwischen meinen Fingern hindurch und sorgte dafür, dass sich mein Verstand verabschiedete. Panik wallte in meinem Inneren. Wie schwer hatte ich sie verletzt? Würde sie das umbringen? Und was zur Hölle sollte ich jetzt tun? Verdammt, ich konnte nicht mehr klar denken! Aber ich musste doch was tun, bloß was? Was nur?!
Ratlos starrte ich Johanna an, fand in ihrem Blick jedoch nichts, was mir weiterhalf. In ihren rotbraunen Augen las ich lediglich Verwirrung, Schmerz und – Verständnis? Mitleid? Was seltsam war. Warum keine Wut? Warum hasste sie mich nicht dafür? Das ergab keinen Sinn. Ich hatte sie aus dem Nichts heraus angegriffen – das musste sie mir doch übelnehmen. Musste sie einfach!
“... soll auf ... dich aufpassen”, entwich es flüsterleise ihren bebenden Lippen, was mich zusätzlich irritierte.
“Was meinst du? Du sollst auf mich aufpassen, oder was? Wieso?” Ich verstand es nicht und sie schien auch nicht in der Lage dazu, es mir genauer zu erklären. Ihr zierlicher Körper hatte offensichtlich den ersten Schock überwunden und sackte nun zusammen. Ich reagierte instinktiv und griff nach ihr, bevor sie auf den Boden fallen konnte. Diese Bewegung und auch, dass ich sie anschließend auf meine Arme hob, war natürlich blankes Gift für ihre Verletzung, aber was hätte ich sonst machen sollen? Sie auf den dreckigen Boden stürzen lassen? Mich schlicht von ihr fernhalten, um es nicht noch schlimmer zu machen?
“Heka hat gesagt ...” Johanna hob eine Hand, um mich zu berühren, hielt dann aber krampfend inne und drückte beide Hände auf ihre Wunde. “... wir sind ...” Sie stöhnte schmerzlich und irgendwo im Hintergrund hörte ich auch wieder jemanden schreien, aber das kümmerte mich im Moment herzlich wenig. Sie allein hatte meine Aufmerksamkeit.
“Sag am besten nichts und ... auch nicht bewegen!” Was irgendwie eine dumme Aufforderung von mir war, da ich sie einerseits ja gefragt hatte und andererseits mein eigenes Zittern ihren Körper durchschüttelte. Verflucht, warum stand ich hier überhaupt noch sinnlos mit ihr in der Gegend rum? Sie brauchte doch was zum Heilen!
“Halte durch, ja? Und die Hände auf deinem Bauch!” Mit rasendem Herzen rannte ich los. Ob da jemand in meinem Weg stand oder was gesagt wurde, bekam ich gar nicht wirklich mit. Ich war regelrecht blind und taub für alles andere – drängte mich an jedem Hindernis geschwind vorbei. Mein Ziel war der Verladeraum, wo es diesen improvisatorischen Ausgang gegeben hatte. Mein Vater besaß auf seinem Schiff sicherlich irgendwo eine Krankenstation mit entsprechender Ausrüstung, um solche Schäden zu beheben. Wenn er Finger und Rippen nachwachsen lassen konnte, was war da schon eine Stichwunde?
“Wir sind ...” Johannas Stimme klang kraftlos und auch sonst machte sie einen extrem schlechten Eindruck. Ihre Hände und der gesamte Bauch waren blutverschmiert, während ihr Körper immer blasser wurde.
“Sei still! Spar deine Kräfte!” Dass ich mit ihr so hastig rumlief, tat ihr keinesfalls gut. Dennoch beschleunigte ich gleich noch einmal. Es zählte hierbei nun mal jede Sekunde!
Zum Glück erreichten wir dann auch besagten Verladeraum und passierten diese komische blassgelbe Lichtschranke, was auf der Haut ein eigenartiges Kribbeln bewirkte. Der Sinn davon interessierte mich aber nicht wirklich. Aktuell war in meinem Kopf kein Platz für sowas. Nicht einmal für meine Umgebung. Weder wunderte ich mich über die Ausmaße des Hangars der Tyschenka, noch über diese breite Lichttreppe, die uns dort hinunter führte. Auch die etlichen Puppen am Ende ignorierte ich völlig. Mein Körper arbeitete und funktionierte nur noch für diese eine Aufgabe, Johanna in eine gottverdammte Krankenstation zu bringen. Und das schnell. Schneller. Es war wie ein Zwang. Ich durfte nicht stehen bleiben, denn dann würde ich die Kontrolle über diese Situation verlieren. Solange ich in Bewegung blieb, war noch nichts verloren.
“Wir sind ...” Johanna bewegte sich schwach in meinen Armen.
“Du sollst den Mund halten und dich nicht bewegen!” Außerdem wollte ich es nicht hören. Nichts. Ich verdiente allein schon diese sanfte Tonlage nicht. Sie sollte schreien, schimpfen, mich beleidigen – eben irgendwas in diese Richtung.
“... eine Familie.” Ich stolperte und stoppte umgehend.
“W-was?!” Keuchend blickte ich auf sie herab. Das kam unerwartet und es machte mich unfassbar wütend. “Familie ist ... nur ein dummes Wort! Unsere Leben ... sind dafür das beste Beispiel! Wir w-wurden gefoltert und gequält von unseren eigenen VÄTERN!” In mir stieg der Hass unaufhörlich. Blanke Säure fraß sich durch meine Adern. “Wie kannst ... du das nur so einfach verdrängen?!” Ich konnte es nicht. Nein. Das war unmöglich. “ANTWORTE! Ist es wegen Heka? Wegen IHR?! Sie ...” Es brannte so entsetzlich in meinen Augen, der Kehle und der Brust. “Sie hat doch auch nur gelogen!” Denn wo verdammt noch mal war sie jetzt? “Wie kannst du nur diesen unsinnigen Quatsch ...” Johannas Augen zuckten plötzlich und dann wurde sie ganz schlaff in meinen Armen.
“Scheiße! Hey, nicht schlapp machen, ja?” Ich legte sie panisch auf den Boden, kniete mich daneben und fühlte ihren Puls – der nicht existent war. “Nein, das kann nicht sein ...” Ich erstarrte. Sie atmete nicht mehr. Das war nicht wirklich passiert, oder? Was hatte ich getan?
Der Anblick ihres nackten leblosen Körpers traf mich unerwartet heftig. Ich war kein blutrünstiges Monster. War ich nie und wollte ich auch niemals sein. Allein mein Vater hatte mich zu einem gemacht. Mich dazu getrieben. Aber jetzt? Egal wie ich es drehte – ich war das gewesen. Nicht mein Vater. Kein Anderer. Nur ich. Ich hatte sie verletzt. Oder war dies doch das Werk meines Vaters? Nein. Es war meine Entscheidung gewesen. Allein meine und nicht sein Befehl oder Teil eines Spiels.
Was, wenn es immer so ablief? Was, wenn ich jeden Sklaven aus meinen Erinnerungen selbst gefoltert und getötet hatte – aus freien Stücken? Vielleicht ging all das Schlechte ja immer von mir aus und nicht von ihm. Wie viele von denen, die ich eigentlich mochte und hatte helfen wollen – waren durch meine Hand gestorben? Hatte ich Dezeria ebenso getötet? Ergab das Sinn? Waren meine Taten und mein Leben in irgendeiner Weise sinnvoll? Waren es meine Gedanken? Ich wusste es nicht. Ich wusste nichts.
Ich lächelte, während ich spürte, wie mir Tränen über die Wangen liefen. So hatte ich mich noch nie gefühlt. Es zerbrach alles um mich herum. Ich zerbrach – und doch hatte es etwas von Ankommen. Von Zuhause sein.
Von einem Ende. Ein Abschluss. Weder gut, noch schlecht. Da gab es keine Emotionen in mir. Obwohl ich weinte, verspürte ich keinerlei Trauer. Nichts. Nicht einmal Wut auf meinen Vater.
Alles war egal, aber nicht auf eine abwertende Weise. Eine Gleichgültigkeit, die vollkommen neutral war. Als würde mich das alles nicht länger betreffen. Ob ich existiert hatte oder nicht – machte hierbei keinen Unterschied. Schon irgendwie seltsam und dann doch wieder nicht. Was mich da auch immer zu sich ziehen wollte, es war in Ordnung. Ich wollte nicht länger in diesem Chaos stecken, dass sich mein Leben schimpfte. Ein durch und durch hasserfülltes Leben. Das wollte ich. Nicht mehr. Nie mehr. Keine Wahrheit oder Lüge. Genau. Diese Entscheidung fiel mir so leicht, wie sonst nichts auf der Welt. Es kam mir vor, als würden sich starre Ketten lösen, die mich zuvor stets gefangen gehalten hatten. War es das? Durfte ich nun endlich frei sein?
Eine unglaubliche Leichtigkeit umhüllte meine Seele und schenkte mir eine angenehme innerliche Ruhe. Nur am Rande bemerkte ich schemenhaft eine Bewegung. Dann auch vor mir, aber wirklich klarer wurde das Bild dadurch nicht. Meine Augen sahen nur ein Gemisch aus weiß, schwarz und grau. Es hätte mir vermutlich Angst machen sollen, dass ich nichts klar erkennen konnte, aber diese Gedanken verloren sich. Auch dass ich meinen Körper nicht spürte, blieb unbedeutend. Kein Herzschlag, kein Atem oder ob ich noch immer auf dem Boden saß – da gab es einfach nichts. Und es störte mich nicht. Warum auch?
“Das darf doch nicht wahr sein!”, fluchte eine herrische tiefe Stimme, die ich irgendwo in der hintersten Ecke meines Verstandes kannte. “Musst du jetzt auch noch rumspinnen? Reicht es nicht, wenn es einer von euch tut?” Es klang so unglaublich nahe. “Kannst du mich verstehen? Hm, Alexander?” Dieser Name. Daran erinnerte ich mich. Da sprach mein Vater, allerdings löste diese Erkenntnis wenig in mir aus. Nur ein dumpfes Pochen, das gleich darauf wieder verschwand.
“Nicht das auch noch ...” Seine Worte ergaben für mich null Sinn. Aber ob nun an mich gerichtet oder nicht, warum konnte er nicht schweigen? Seine Stimme störte diese allumfassende Ruhe und vertrieb die Leere, in der ich versinken wollte.
“Du hörst mir jetzt genau zu.” Da war ein kräftiges Ziehen – das bilden einer neuen Kette, aber das wollte ich nicht. “Solange ich lebe, wirst du nicht gehen. Das lasse ich nicht zu.” Warum hinderte mich sein Satz daran, weiter in dieses befreiende Nichts einzutauchen? Wieso fesselte er mich nicht nur an Ort und Stelle, sondern zog mich auch noch hartnäckig zurück?
“Ich will, dass du mich ansiehst. Richtig ansiehst, hast du gehört?” Ein Befehl. Ein überaus bezwingender Befehl, dem ich nicht entfliehen konnte, egal wie sehr ich es versuchte. Ich war kraftlos. Machtlos. Meine Freiheit war doch schon zum Greifen nah gewesen, wieso verschwand sie nun in unerreichbare Ferne? Warum konnte er das? Ich wollte nicht in dieser Welt sein, aber das war offensichtlich unerheblich. Meine Abgestumpftheit ließ nach. Gefühle und Empfindungen erwachten – banden mich endgültig an diese beschissene Realität.
Ich spürte zuerst mein Herz wild in meiner Brust schlagen, gefolgt von schweren Atemzügen. Unter mir befand sich ein kalter Boden. Ich kniete darauf. Immer noch. Hatte ich mich überhaupt bewegt? Vermutlich nicht, oder? Großartig darüber Nachdenken konnte ich jedoch nicht, da als Nächstes penetrante Schmerzsignale meinen Verstand fluteten. Irgendetwas hielt meinen Kopf fest, es dauerte jedoch noch einen Moment, bis sich das schwarz-weiß-graue Farbenspiel lichtete und ich den Grund dafür erkannte. Ich blickte in intensiv leuchtende silberne Augen. Einem Gesicht, welches meinem so verhasst ähnlich war. Ohne Zweifel hockte mein Vater vor mir und hielt meinen Kiefer gewaltsam umfasst.
“Sehr schön. So ist es gut.” Ein Lob, das in meinen Ohren wie blanker Spott klang. Es schürte den Hass in mir, aber erstaunlicherweise nur für den Bruchteil einer Sekunde. Denn wozu sich aufregen? Irgendwie existierte kein Wunsch mehr in mir, gegen ihn zu kämpfen. Ich hatte nichts und es gab auch nichts von Wert. Er konnte mit mir machen, was immer er wollte. Ich würde mich dem fügen. Ich hatte aufgegeben.
“Hört auf, mich reizen zu wollen. Das ist aktuell eine wirklich dumme Idee.” Ich wusste zwar nicht, was er meinte, aber es hatte für mich ohnehin keinerlei Bedeutung. Ich nahm lediglich zur Kenntnis, dass sein Griff stärker wurde und er mein Gesicht noch weiter zu sich emporriss. Sonst jedoch löste es nichts in mir aus. Ich war bloß müde. So unendlich müde.
Er seufzte frustriert und ließ mich schließlich los. Durch den plötzlich fehlenden Halt kippte ich allerdings um und schlug hart mit dem Schädel auf den Boden auf. Die extremen Kopfschmerzen nahm ich gleichgültig hin. Ich blinzelte lediglich einige Male, bevor ich ganz die Lider schloss. Was waren schon diese unbedeutenden Schmerzen, wenn man sich innerlich tot fühlte? Tot sein wollte?
“Ich habe das so nicht vorgesehen, Alexander, aber zwischen uns muss es wohl so sein.” Ein weiteres Seufzen. “Du wirst dich jetzt zusammenreißen, andernfalls werde ich sie auf alle nur erdenklichen Arten quälen. Hast du das verstanden?” Hatte ich, aber es waren nur Worte. Leere Worte ohne Sinn.
Einen Moment später hörte ich grob einige Geräusche, machte mir aber nicht die Mühe, die Augen zu öffnen. Wahrscheinlich war das nur irgendeine Teck. Sollte mein Vater mich ruhig abtransportieren. Die Aussicht auf Folter oder einem neuen Spiel machte mir keine Angst.
“... glauben? Was? Bei den Monden, da steht Ihr noch einmal!”, sprach auf einmal eine Frauenstimme, die mir sofort durch und durch ging. “Wie ... Gott! Ist das ... Ist das da Reznick am Boden?” Nein. Das durfte nicht wahr sein. Ein Hirngespinst. Ja. Das bildete ich mir nur ein. Das war sie nicht. War sie nicht. Nein. Unmöglich.
Innerlich ratterte ich tausend Gebete runter – an wen oder was auch immer – nur um beim Augenaufschlag doch das zu erblicken, was ich unter gar keinen Umständen hatte sehen wollen. Eine wunderschöne Märchengestalt. Eine weiße Frau in einem hellblauen dünnen Kleid. Dezeria. Kein Zweifel. Obwohl sie mehrere Meter entfernt stand und meine Sicht von neuerlichen Tränen verschwamm, konnte ich sie ohne Probleme erkennen. Ich hätte sie selbst, wenn ich blind gewesen wäre, irgendwie erkannt. Allein an ihrer Nähe. Das ging so viel tiefer, als dass ich es hätte beschreiben können.
“Mal sehen, wie weit ich gehen muss.” Mein Blick ruckte zu meinem Vater, jedenfalls der Version, die sich direkt vor mir befand. “Es liegt ganz bei dir, Alexander.” Sein Gesicht war vollkommen emotionslos, bevor er sich aufrichtete und zu seiner Kopie schaute, die Dezeria an einem am Arm festhielt.
Ich schluckte und noch bevor die Bedeutung seiner Worte mir gänzlich bewusst wurde, stach auch schon ihr schmerzerfüllter Schrei brutal in mein Herz.