•‡Dezerias Sicht‡•
Es war unglaublich schön in Reznicks Armen, dennoch konnte ich es nicht genießen. Von den verstörenden Handlungen seines Vaters einmal abgesehen, tat es mir schrecklich leid, ihn mit Eis überzogen zu haben. Seine Haut hatte an etlichen Stellen bereits eine ungesunde Röte. Dass er vollkommen nackt war, machte dazu alles nur noch schlimmer. So schadete es ihm sofort, wenn ich die Kontrolle verlor. Mochte sein, dass er damit locker umging und sich von der Kälte nichts anmerken ließ, aber mir tat es weh. Ich vertraute ihm – liebte ihn, dennoch hatte das Eis es anders gesehen und mich zu schützen versucht. Es hatte mich etliche Kraft und Konzentration gekostet, ihn nicht völlig einzufrieren.
Ich schloss die Augen und zählte die Sekunden. Harrte mit geballten Fäusten in seiner Umarmung aus, möglichst bedacht, ihn nicht mit meinen Handflächen zu berühren. Dass Reznick von seinem Vater in der Zwischenzeit erpresst wurde, damit er gehorchte, bekam ich nur am Rande mit. Zu sehr war ich damit beschäftigt, ihn nicht weiter zu verletzen. Gerade jetzt, wo er mich noch stärker an sich drückte und mein Gesicht an seinem Brustkorb ruhte. Das Eis in mir reagierte irgendwie auf den Klang seiner wilden Herzschläge und steigerte meine Nervosität. Gott, wenn ich das nicht in den Griff bekam, würde er tatsächlich noch als Eisklumpen enden.
Langsam atmete ich ein und aus. Sein wahnsinnig guter Geruch streichelte sanft meine Sinne und half dabei, mich zu entspannen. Keine zwei Atemzüge später dachte ich unwillkürlich an diese intensiven Küsse zurück, die mir buchstäblich den Verstand geraubt hatten. Es war verrückt, wie mein Körper auf Reznick reagierte und welches Verlangen er in mir auslösen konnte. Ich hatte ihn auf eine ganz bestimmte Art und Weise gewollt. Auch jetzt meldete sich wieder dieses verräterische Pochen, was mir sofort die Hitze in die Wangen trieb. Es war mir verflucht peinlich, weil ich spüren konnte, wie die Lust erneut mein Höschen tränkte. Was wenn Reznick es mitbekam? Er stand zwischen meinen Schenkeln und drückte seinen Unterbauch genau an meine heiße Mitte. Gott, am liebsten wollte ich im Erdboden versinken!
Plötzlich packte er grob meinen Hintern, zog mich komplett vom Tisch und hob mich hoch. Reflexartig klammerte ich meine Beine um seine Hüften, während meine Hände nach oben zu seinem Nacken schnellten, um mich dort festzuhalten. Leider verpasste ich ihm dadurch ungewollt einen Eiskragen. Zum Glück fror ich nicht gleich seinen Kopf ein.
“Entschuldige ...” Es tat mir gleich doppelt leid, weil ich in seinen Augen erkannte, dass er nicht aus freiem Willen heraus handelte. Das Monster lenkte Reznick. Befahl ihm, sich wieder auf seinen Platz zu setzen und mich auf seinem Schoß zu behalten.
“Ist schon gut.” Er gab mir einen zärtlichen Kuss auf die Stirn, bevor er zornig an mir vorbeiblickte. “Ich hab doch gesagt, dass ich verstanden habe! Was willst du sonst von mir?! Hör auf mich zu lenken und ihr wehzutun!”
“Das wird ihr wohl kaum Schmerzen bereitet haben.” Ich hörte, wie Flüssigkeit in mehrere Behälter gegossen wurde, drehte mich jedoch nicht herum. Meine Aufmerksamkeit galt dem Eis auf Reznicks Haut, das ich vorsichtig abpulte. Nichts, dass er noch erstickte oder schwerwiegende Schäden davon trug. “Wie dem auch sei. Kommen wir zum Wesentlichen, Alexander. Augen und Ohren ist eine Umschreibung für das Auwolast, was ein jeder Rea in sich trägt. Es fließt in deinen Adern, ebenso wie in meinen. Blut, um genau zu sein. Man steht damit in Verbindung mit allen anderen Rea und kann es bewusst oder unterbewusst nutzen. Unser Volke teilt so zum Beispiel Wissen und Gefühle. Es ist jedoch auch möglich, auf diese Weise gezielt durch andere zu hören, zu sehen oder sie leicht in der Bewegung zu beeinflussen. Alle ab dem Rang Zar’Rea können das. Einige wenige haben sogar die Kraft, ganze Körper zu lenken. Absolute Kontrolle. Verstehst du die Bedeutung dahinter?” Ich hielt inne und schluckte schwer. Allein die Vorstellung, dass alle Rea sich untereinander nach belieben lenken konnten, war mehr als nur unheimlich. Das würde bedeuten, Reznick wäre nirgendwo sicher, oder? Sein Vater konnte ihn also zu jederzeit beeinflussen, unabhängig ob er ihm Blut einflößte oder nicht. Er hatte es schließlich immer im Körper.
“Du willst mir sagen, dass es egal ist, wohin ich mit Dezeria gehe. Ich könnte von jedem überall übernommen werden und ... Was? Wir jetzt nur bei dir sicher sein können, weil du das irgendwie unterbindest? Ist es das? Wozu dann die Spiele? Die unzähligen Wetten? Wenn jeder beeinflussbar ist, steht das Ergebnis ja längst fest!” Er wurde schon wieder so wütend, dass es in Wellen von ihm zu strömen schien. “Du hast vorhin erst gemeint, ich muss an diesem ganzen Scheiß teilnehmen, weil mich jeder sehen will! Aber das könnten sie längst. Auch mich zu töten wäre einfach. Und wenn es dir angeblich bloß um meine Sicherheit ging, warum hast du mich dann nicht hierbehalten? Wegen diesem Lösen? Dass ich ein Lebensziel brauche? Ich bin mir sicher, dir wäre hundertprozentig eine entsprechende Lügenkonstruktion eingefallen, die ich geglaubt hätte, nicht wahr? Nichts ...” Ein großes Stück Eis brach von seinem Hals ab als ich daran herumwerkelte und wegen meiner zittrigen Finger schaffte ich es nicht, den Klumpen aufzufangen. Das kalte Ding kullerte erst über dem Stoff meines Kleides, rutschte dann an Reznicks Unterbauch entlang und etwas beschämt sah ich dabei zu, wie es keine Sekunde später gänzlich hinabtauchte. Direkt in seinen Schritt. Gott, da konnte ich es unmöglich herausholen!
Mit einem gefühlt knallroten Kopf schaute ich unschlüssig zu ihm auf. Er verzog erst keine Miene, setzte dann aber so ein wissendes Lächeln auf, was es für mich nur schlimmer machte. Dass er sich über mein Unbehagen amüsierte war gemein und ließ meine Wangen gleich noch stärker Feuer fangen.
“Ich würde es begrüßen, wenn du mit deinem Eis oberhalb meines Körpers bleibst”, flüsterte er amüsiert, brach die restlichen Kristalle von seinem Hals ab und fischte anschließend das Teil zwischen seinen Beinen heraus. “Und was dich angeht, Vater.” Jedweder Erheiterung verschwand, als er an mir vorbeiblickte. “Nichts von dem, was du gesagt hast, passt richtig zusammen.”
“Dazu komme ich noch, doch zuerst musst du den Sinn des Auwolast begreifen und auch das Problem, welches sich daraus ergibt. Der Sinn hinter allem lässt sich wohl am einfachsten klären, wenn man begreift, was die Rea sind. Der Unterschied zwischen uns, den Elementaren und dem Sklavenvolke. Unsere Welt eben und wie sie funktioniert.”
“Was denn, bekomme ich jetzt etwa eine Geschichtsstunde?”
“Hast du die denn jemals bekommen? Unabhängig von deinem manipulierten Verstand, wirst du in keiner Datenbank und von keinem Rea erfahren, was auch nur ansatzweise der Wahrheit entspricht. Wenn man es nämlich genau betrachtet, gibt es rassentechnisch gesehen keinen Unterschied. Wir sind alle dasselbe.” Ich horchte auf.
“Dasselbe?” Wenn uns eins in der Kirche gelehrt worden war, dann dass die Rea alles waren und wir nichts weiter als ihre Diener. Nur Staub unter ihren Füßen und bisher hatte ich auch keine andere Erfahrung gemacht. Alles was ich erlebt hatte und noch immer erlebte, war fernab eines normalen Lebens.
“Mein Vater versteht vermutlich unter dem Wort etwas anderes als wir.” Reznick drückte mich enger an sich und verhinderte damit, dass ich aufstehen konnte.
“Ich ... will mich nur umdrehen”, flüsterte ich, weil ich seine Panik spürte. Er klammerte sich an mich, als hätte er Angst, dass ich ihn verlassen würde. Erst nach drei weiteren Versuchen gestattete er es mir endlich, mich ein Stückchen zu bewegen, sodass ich seinen Vater ansehen konnte, bevor er mich schnell wieder an sich riss.
“Verzeih ...” Er schlang seine Arme fester um mich. “Ich kann gerade nicht anders.” Seine Lippen verteilten sanfte Küsse auf meinem Nacken, was mir eine Gänsehaut bescherte. Ein wohliges Gefühl wallte in meinem Inneren, aber auch Sorge. Unsicher sah ich zu seinem Vater. Steuerte er gerade Reznick und zwang ihn dazu?
“Nein.” Er lächelte mir zu. “Ich beeinflusse ihn im Moment nicht.” Beschämt senkte ich den Blick. Das war unheimlich, für ihn ein offenes Buch zu sein. “Und wenn ich dasselbe sage, meine ich es auch genau so. Die Rea, die Elementare und auch all die unbedeutenden Sklaven. Wir stammen alle von den Sternen. Sind Sterngeborene, Lichtbasierte, Essenzträger ... nennt es, wie ihr wollt.”
“Quatsch”, murmelte Reznick in mein Haar und auch ich fand das wenig glaubwürdig.
“Elian hat mir davon erzählt. Er sagt –”
“Wer ist Elian?” Reznicks Knurren hallte in seiner Brust und ging direkt durch mich durch.
“Er ist auch ein Gott ... also ein Elementar oder so. Er lebt hier im Schiff, ist aber ...” Ich schenkte mir jedes weitere Wort, denn das schien ihn nur wütender zu machen. Deutlich spürte ich seine Muskeln beben.
“Hat er dir was angetan?”
“Was? Nein!” Nicht richtig zumindest. Er hatte mich enttäuscht, was aber nicht diesen mörderischen Hass rechtfertigte, den Reznick ausstrahlte. “Es ist alles in Ordnung.” Sanft streichelte ich über seine Arme. “Was ich sagen wollte, Elian hatte mir davon erzählt, dass er früher einmal ein Stern gewesen war. Was an sich schon unglaublich geklungen hatte, und nun soll das bei allen so sein? Jeder aus Rotterval stammt von einem Stern ab? Das glaube ich nicht. Ich habe eine Mutter und einen Vater gehabt, die gewiss keine Sterne gewesen sind.”
“Direkt wohl nicht, aber deine Vorfahren, wenn du so willst. Ich will mit euch darüber auch keine Grundsatzdebatte führen. Nehmt es fürs Erste einfach so hin und hört zu. Unser aller Anfang liegt ohnehin irgendwo im Ursprung. Darüber weiß niemand Bescheid. Was wir jedoch wissen, dass er Wandersterne hervorbringt und ein jeder von ihnen sich im Laufe seines Lebens weiterentwickelt. Je nachdem, welche Richtung er wählt, wird daraus etwas Neues. So entstanden über Jahrtausende die verschiedensten Materialien, ganze Welten, bis hin zu den ersten simplen Lebewesen.” Er machte eine kurze Pause und sah mich prüfend an. Vermutlich wollte er uns eine Möglichkeit geben, fragen zu stellen, aber ich hatte keine. Bisher ähnelte es sehr der Geschichte von Elian und Reznick schien sich überhaupt nicht dafür zu interessieren. Eng kuschelte er sich an mich, was mir nur recht war. Es tat gut, wenn seine Wut nachließ.
“Ich hoffe für dich, dass du auch zuhörst, Alexander, oder soll ich sie dir wegnehmen?” Er zuckte zusammen, als hätte man ihn geschlagen.
“Ich höre doch zu!”
“Schön. Kommen wir dann zu der Sache mit den Rea an sich. Da ich keine grafische Präsentation vorbereitet habe, um euch die Evolution von Lebensformen zu verdeutlichen, stellen wir uns den ersten Rea der Einfachheit halber in der heutigen Form vor. Kopf, Arme, Beine ... Er sah so aus, wie all die anderen. War wie alle anderen. Der Unterschied bestand allein in der Grundfähigkeit. Während die restlichen Sterngeborenen Dinge wie Wasser, Metall oder das Eis beherrschten, so bestand sein Können darin, diese Eigenheiten in sich aufzunehmen. Sich durch ihre Essenz zu verbessern.”
“Verbessern?” Damit konnte ich gar nichts anfangen.
“Heka erzählte davon.” Reznick legte sein Kinn auf meine Schulter ab, um nun auch einmal nach vorne zu sehen. “Sie sagte, dass alles ein Rohstoff sein kann. Soll das also heißen, dass dieser Rea die anderen gefressen hat, um zu wachsen?”
“In der Tat. Gefressen, verschlungen, absorbiert, getötet ... Beschreibt alles dasselbe.”
“Das ist ja furchtbar!” Mein Magen zog sich zusammen.
“Es spielt keine Rolle, wie du das findest. So ist es passiert und so geschieht es noch heute. Wenn die Rea dich oder einen der anderen Elementare in die Finger bekommen, endet ihr früher oder später immer als Futter.”
“Sie können uns doch nicht ernsthaft essen wollen! Da ... Da muss es doch was anderes geben. Es gibt weiß Gott genug Nahrung für uns alle und –”
“Nein. Es gibt zwar Farmen, auf denen Sklaven zum Verzehr gezüchtet werden, aber darum geht es nicht. Niemand braucht euer Fleisch. Die Rea wollen das, was in euren Körpern steckt. Essenz. Dein Eis eben.” Reznick schnaufte abfällig.
“Und wozu? Wenn wir alle gleich sind, bestehen sie ebenso aus Essenz. Sollen sie sich doch gegenseitig umbringen.”
“Essenz funktioniert nicht so. Wenn ein Rea einen anderen verschlingt, würde dies keine Verbesserung mit sich bringen. Zudem würde es den Effekt der Ausdünnung nur noch beschleunigen.” Sein Vater deutete mit einem Wink auf die vor ihm aufgereihten Gläser, in denen sich eine violette Flüssigkeit befand.
“Essenz ist endlich. Wie der Wein in einer Flasche. Ich kann ihn in eine bestimmte Anzahl an Gläsern bis obenhin füllen, wenn jedoch bedeutend mehr gefüllt werden müssen, als die Flasche hergibt, was passiert dann?”
“Ist doch klar, dann bekommen die Letzten eben nichts.” Sein Vater rollte mit den Augen. Das war es offensichtlich nicht, was er von Reznick hören wollte.
“Das ist keine Option.”
“Dann vielleicht den Wein verteilen?” Sein Blick ruckte zu mir, was mich verunsicherte. Ich wusste nicht, ob meine Worte für ihn zu dumm waren, aber ich wollte es dennoch versuchen. “Also die Gläser nicht bis obenhin füllen, sodass jeder etwas abbekommt ...” Hatten wir auf Feiern schließlich auch immer getan.
“Korrekt. Ein natürlicher Ablauf bei jedem Sterngeborenen. Durch Vermehrung und Verbreitung wird die ursprüngliche Essenz nach und nach weniger. Die Macht kleiner. Eure direkten Kinder wird es wohl nicht betreffen, aber irgendwann wird aus eurer Blutlinie keiner von ihnen mehr Kontrolle über Eis oder dem Metall haben. Das ist es auch, warum es das Sklavenvolk gibt. Die Menschen ohne Fähigkeiten sind lediglich Rea, die sich zu oft vermehrt haben und nicht Teil der Verbesserungen sein wollten.” Mein Kopf drehte sich. Als das mit unseren Kindern zur Sprache kam, konnte ich plötzlich an nichts anderes mehr denken. Die Vorstellung, mit Reznick zusammen eine Familie zu gründen, ließ mein Herz schneller schlagen. Freude, aber auch Sorge wallte in mir auf. Würde er es auch wollen? Gott, es war viel zu früh, darüber nachzudenken, und wir hatten wahrlich andere Probleme. Dennoch. Es war schön, jedenfalls bis mir wieder einfiel, dass dies für immer bloß ein Traum bleiben würde.
“Hey, alles gut.” Reznick streichelte liebevoll mein Gesicht und küsste meine Wange, als mir ein Schluchzen entwich. “Bitte sei nicht traurig.” Dass er mich trösten wollte, machte mein Gefühlschaos nur noch schlimmer. Gott, ich kam mir so dumm vor, so zu reagieren, aber es ließ sich nicht abstellen. Die Tränen bildeten sich unaufhörlich, sodass ich mir nicht anders zu helfen wusste, als mich hinter meinen Händen zu verstecken.
“Dezeria?” Er klang zunehmend besorgt, aber ich konnte nicht antworten. Ich brauchte einen Moment, um mich zu fangen. “Reicht das denn jetzt? Es ist zu viel für sie, das siehst du doch. Lass uns endlich gehen.”
“Solange du zuhörst, reicht mir das.”
“Wozu? Mich interessiert das alles nicht! Dann sind Sklaven eben ursprünglich Reas gewesen, was kümmert mich das? Du willst ein Problem aus der Welt schaffen und benötigst meine Hilfe, oder wie? Sag doch einfach, was du willst, und verschone uns mit dem unnötigen Drumherum. Heka erzählte was von unreinen Kindern, vom Verschlingen und dass du das Machtsystem kippen willst. Wozu brauchst du da mich?”
“Dich brauche ich eigentlich nicht direkt.” Die Stille, die darauf folgte, war unangenehm und führte dazu, dass ich mich endlich einkriegte. Ich wischte mehrfach über meine Lider und blickte nach vorne, wo mich sein Vater bereits eindringlich beäugte.
“Nein. O nein, nein, nein! Du brauchst sie? Nur über meine Leiche!” Stimmt. Das wusste ich bereits. Für irgendwelche Forschung hatte er gemeint.
“Dir ist bewusst, dass du dabei kein Mitspracherecht hast?” Reznick stieß ein Knurren aus und krallte sich schmerzlich an mich. “Zumal ich davon ausging, dass es auch in deinem Interesse ist, nicht länger von mir beeinflusst zu werden. Wolltest du nicht mit ihr frei sein? Wie soll das funktionieren, wenn ich oder andere aus dem Korkut dich jederzeit übernehmen können?” Da hatte er recht.
“Wird es ... weh tun?” Ich hatte unglaubliche Angst vor dem, was er an meinem Körper machen würde.
“Nein.” Er lächelte, was mich nicht unbedingt erleichterte. Auch Reznick schien davon wenig überzeugt.
“Dein dämliches Nein kannst du dir sonst wo hinschmieren! Wozu brauchst du Dezeria überhaupt? Warum ausgerechnet sie?!”
“Nicht in diesem Ton.” Reznick versteifte und seine Hände schnellten zu meinen Brüsten, um sie grob zu kneten. Gott, ich hasste das, wenn sein Vater ihn lenkte. Man spürte es immer sehr genau, weil es ohne jegliche Zuneigung passierte. Das sonst so berauschende Hochgefühl fehlte. In meinem Inneren wallte pure Ablehnung. “Es sind lediglich weitere Blutproben von ihr nötig, was sie gewiss nicht umbringen wird. Inwiefern sich ihr Essenzwert und der Essenzkern genau bestimmen lassen, wird sich zeigen. Daher dein Mitwirken, Alexander. Ihr reagiert aufeinander, wodurch wir viel schneller Ergebnisse erzielen werden.”
“Könnt ... Könnt Ihr bitte aufhören?” Langsam wurde es unerträglich. Nicht nur die Berührung, sondern auch Reznicks Wut und Hilflosigkeit zu spüren. Das Eis reagierte darauf ohne mein Zutun. Es wuchs überall an meinen Körper und da ich mir anders nicht zu helfen wusste und er nicht wieder darunter leiden sollte, griff ich an die Tischkante. Die Eiskristalle ließen sich sofort darauf ein und rasten laut knackend über die gläserne Oberfläche, um alles darauf einzufrieren. Diesmal nicht als feiner Raureif sondern äußerst massiv. Selbst die Arme seines Vaters erwischte ich. Sogleich ließ Reznick von meinen Brüsten ab und ich konnte das Eis stoppen. “Tut mir leid ...” Tat es eigentlich nicht wirklich, aber ich wollte die Situation nicht noch schlimmer machen.
Zum Glück blieb sein Vater entspannt. Er betrachtete amüsiert seine eingefrorenen Hände und sah dann zu mir.
“Ich wollte Euch nicht ...”
“Angreifen?” Sein Grinsen wurde breiter. “Es ist nicht kalt genug, um mich tatsächlich zu beeinträchtigen.” Er sprengte sich regelrecht frei, indem aus seiner Haut diese unheimlichen Klingen wuchsen. “Für meinen Sohn allerdings trifft das wohl nicht zu, stimmt’s, Alexander?” Ich runzelte die Stirn, bis mir auffiel, dass Reznick hinter mir schwer atmete. Alarmiert drehte ich herum und erschrak. Sein Körper war fast vollständig mit Eis überzogen.
“O Gott!” Ich sprang auf, wollte es zumindest, aber er ließ mich nicht von seinem Schoß. Krampfhaft klammerten sich seine Arme um meinen Bauch.
“B-bitte b-bleib ...”
“Aber ich bring dich noch um!” Erneut versuchte ich, aufzustehen. Vergeblich.
“E-es ist ... n-ichts.”
“Nichts?” Mein Herz blutete. “Gott, sieh dich doch an!” Es trieb mir die Tränen in die Augen. Hätte ich diesen dämlichen Halsreif bloß nie abgelegt!
“Bitte ... bleibt bei mir.” Sein Flehen ging mir durch und durch.
“Tu ich doch, ich will nur kurz ...”
“Nein!” Er presste sich an mich. Schmiegte seinen Körper so stark an meinen, dass ich mich wieder nach vorne drehen musste, damit es nicht schmerzhaft wurde. Hilflos blickte ich seinen Vater an. Er konnte doch unmöglich wollen, dass sein Sohn derart litt. Doch. Es war zwar nur dezent, aber ich sah es. Er lächelte, was mich unfassbar wütend machte. Bei all meiner Nachsicht und dem Versuch, zu verstehen. Das hier. Das war genug.
“Das ist nicht lustig!” Ich knallte eine Hand auf den Tisch und jagte eine Eiswelle gezielt auf ihn. Ich wollte ihn verletzen, so wie er Reznick verletzte. Er sollte dieselben Schmerzen durchleben! Es kam einem Zwang gleich. Ob ich ihn letztlich erwischte, ließ sich jedoch nicht erkennen. Ich hatte einen riesigen Kristallberg erschaffen, der fast bis zur Himmelsdecke reichte und die Sicht versperrte. Dann kippte das Gefühl von Zorn sofort und wich panischer Angst. Angst, dass ich Reznick nun auch komplett tiefgefroren hatte.
Ich traute mich nicht, nach hinten zusehen. Starrte stattdessen wie benommen nach unten auf seine Arme und kämpfte mit den Tränen. Seine Haut hatte jedwede natürliche Farbe verloren. Sie war grau und schimmerte leicht silbern unter der verhängnisvollen Eisschicht.
“Gott, es ... Ich wollte dich nicht ...”
“Mir ist nichts passiert.” Er hob den Arm, brach mit Leichtigkeit aus dem Eis und umfasste mein Kinn. Drehte es sanft zu sich herum. Kurz erschrak ich, als ich sein Gesicht sah. Es war ebenso grau, das Haar leicht heller und dann erst die Augen. Sie funkelten strahlend silber und hatten nichts Menschliches mehr. Es verlor jedoch an Bedeutung, sobald seine Lippen die meinen trafen. Da war kein Schmerz in ihm. Ich spürte seine Liebe. Fühlte sein Begehren. Pure Erleichterung erfasste mich.
“Aber wie?”, fragte ich atemlos und berührte behutsam seine gräuliche Haut. Fuhr erkundend mit den Fingern über die einzelnen Muskelstränge sowie den Haarspitzen. Er lächelte.
“Ich wollte was ausprobieren mit dem Metall. Es ist ... anstrengend.” Ich verstand, was er meinte. Er hatte eine feine Schicht über seinen ganzen Körper gezogen. Es gab zwar nach, war aber deutlich rau. Ähnlich die Schuppen einer Schlange.
“Unglaublich ...”
“Das Eis gehört jetzt schließlich zu dir. Ich muss doch damit zu leben lernen.” Er meinte es zwar nett, aber dennoch beunruhigte es mich. Ich bereitete ihm immer nur Umstände.
“Hey, das war nicht negativ gemeint.” Ein Kuss folgte. “Ich liebe alles an dir.” Noch einer. “Auch das Eis.” Gott, das fühlte sich so gut an. Ich wollte mehr. Viel mehr.
“Interessant.” Wir zuckten beide zusammen. Mit geweiteten Augen sah ich, wie sein Vater gemütlich um die Ecke des Eisbergs schritt. Unverletzt. “Dafür hat deine Konzentration bislang noch nie gereicht.” Reznick deutete mir sogleich aufzustehen und erhob sich ebenfalls. Langsam. Es fiel ihm scheinbar sehr schwer, sich zu bewegen, aber mit meiner Hilfe schaffte er es schließlich vom Stuhl.
“Wozu brauchst du ... ihr Blut?”, fragte er ruhig und schob mich schützend hinter sich.
“Schön, dass du fragst. Es geht mir um ein Gegenmittel für das Auwolast.” Sein Vater hob den rechten Arm und schob den Ärmel seiner Robe zurück. Soweit ich es erkennen konnte, trug er darunter eine schwarze Manschette, auf die er nun eifrig herumtippte. “Ich habe bereits etwas Synthetisches aus meinem Blut entwickelt, aber es passte nie ganz. Dem Lusius fehlte eine Komponente, die sich zu meiner Überraschung jedoch nun in Henriette finden lässt.” Plötzlich kam Leben in den Raum. Der göttliche Anblick des Sonnenhimmels mit den Sternen an der Decke sowie der Farbverlauf an den Seiten und der schwarze Grund wechselten die Farbe. Dann verschwanden die Säulen mit den Kerzen hinter den Wänden. Alles bewegte sich! Ich konnte gar nicht so schnell schauen, wie der Boden sich auftat und den Eisberg verschluckte oder aus den Wänden sonderliche Greifarme die restlichen Stühle packten. Zudem wurde es grässlich hell. Ein rein weiß gekachelter Raum blieb übrig, der mich stark an mein erstes Aufwachen hier erinnerte. Ich schluckte schwer und drückte mich enger an Reznicks Rücken. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
“Sie ist perfekt, weißt du?” Sein Vater sah mich mit einem berechneten Lächeln an, welches mir sogleich einen unangenehmen Schauer verpasste. Dieser verschlimmerte sich noch, als er nun zu uns schritt. “Erste Testläufe mit der neuen Mischung sprengen alle meine bisherigen Erfolge in diesem Bereich. Um mit dem Lusius jedoch in die Massenproduktion gehen zu können, werden wir deutlich mehr von ihrem Blut benötigen.” Das war doch absurd. Er konnte mir doch nicht all mein Blut nehmen! Und warum war ausgerechnet meins so wichtig? Warum derart besonders? Ich wollte das nicht!
Reznick schien mein Unwohlsein zu spüren, denn er griff rücklings nach meiner Hand, um sie sachte zu drücken. Das half tatsächlich ein wenig. Es war unglaublich süß, dass er mich beschützen wollte, auch wenn das nichts bringen würde. Sein Vater konnte ihn lenken und ich war nicht in der Lage, das Monster mit meinem Eis zu verletzen. Aber selbst wenn. Wenn ich ihn aufhalten könnte, wie sollten wir dann dieses Gefängnis verlassen? Ich sah keinen Ausgang. Er hatte uns eingesperrt. Es war aussichtslos. Egal, was er jetzt machen wollte, keiner von uns konnte das verhindern. Ich konnte nur Reznicks Hand fester halten und zu den Monden beten, dass wir es heile überstanden. Gemeinsam.