-‡Johannas Sicht‡-
Ich hatte noch versucht, etwas weiter zu schlafen, aber ... es ging nicht. Nachdem Reznick von Heka betäubt wurde und da drüben nun friedlich auf dem Sofa ruhte, schwirrten mir unzählige Gedanken durch den Kopf. Wie konnte denn eine Technik, die von dem Adel selbst hergestellt wurde, sich gegen ihren Herrn so dermaßen auflehnen? Sie hatte ihn einfach gegen seinen sehr deutlichen Unwillen zum Schlafen gebracht. Sogar schon den Text, welchen sie mir zum Vorlesen gegeben hatte, war alles darauf ausgelegt gewesen, ihn irgendwie zu reizen ... Es war lustig, aber dann doch auch unglaublich beängstigend gewesen. Reznick konnte, so wie jeder Adlige auch, sehr sehr wütend werden. Ich spürte noch immer den unbarmherzigen Griff seiner starken Hände um meinen Hals.
Er wollte mich in diesem Moment töten, dessen war ich mir sicher. Ich hätte es an jedem normalen Tag auch begrüßt, aber seltsamerweise wollte ich in diesem Augenblick ... leben. Das war eigenartig. Ich wollte noch nie leben. An seiner Seite jedoch – in seiner Nähe – verspürte ich nicht den Drang, sterben zu wollen. Verrückt, oder? Ich war so verwirrt. Ich hatte es doch darauf angelegt ... Ich hatte bewusst die Anweisungen von Heka, wie ich mich zu verhalten hatte, ignoriert. Ich dachte, mein Ungehorsam würde mir den Tod bringen, aber es gab nur Schmerzen. Schmerzen, welche es immer gab, wenn man nicht gehorchte. Aber ... es war auch alles irgendwie nicht wie sonst. Seit ich ihm begegnet bin, fühlte ich mich nur noch merkwürdig.
“Ahh!”, keuchte ich, da mich eine erneute intensive Kopfschmerzwelle überrollte. Reflexartig schlug ich danach schnell die Hände vor den Mund. Zu zeigen, dass man Schmerzen hatte, machte es in den meisten Fällen nur noch schlimmer. Mein Meister empfand Freude daran, wenn ich litt und verstärkte diese dann nur zu gerne. Unweigerlich rollte ich mich unter der samtweichen Decke noch kleiner zusammen – befürchtete jeden Augenblick, sein Gesicht zu sehen, aber ... nichts geschah. Kein Lachen erklang. Keine weitere Qual folgte ... Nur diese Kopfschmerzen blieben beständig.
Es dauerte eine ganze Weile, ehe ich realisierte, dass ich nicht bei meinem Meister war, sondern immer noch bei Reznick in diesem wundervollen weichen Bett. Etwas verunsichert zog ich die blaue Decke runter und wagte einen Blick in den Raum. Das Licht war angenehm gedämpft. Nicht zu dunkel, aber auch nicht zu hell. Alles war ruhig, ja, geradezu friedlich ... Wenn da doch nur nicht diese Kopfschmerzen wären. Es wurde sogar schlimmer, aber ich verstand nicht warum. Er hatte mich doch nicht am Kopf verletzt, oder? Heka hatte mich zudem untersucht und mir auch wieder dieses Siasal für die Blutergüsse am Hals gegeben. Es hatte mir sofort Linderung verschafft ... nur eben dieses sonderliche Gefühl im Nacken wollte nicht verschwinden. Soo anstrengend. Soo kräftezehrend.
Mit meinen Fingerspitzen übte ich gezielt Druck auf verschiedene Stellen meiner Stirn, um dieses schreckliche Pochen irgendwie zu mindern. Leider mit wenig Erfolg. Ich seufzte unbewusst und sofort erhellte sich etwas das Licht über mir. Besorgt zog ich die Decke schnell wieder über meinen Kopf und tat so, als würde ich schlafen. Ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Ich hatte mich schon zu sehr in das Leben von Reznick eingemischt und wenn er jetzt erwachte, wollte ich ihm gewiss nicht erneut im Weg stehen. Sicher war er immer noch genauso wütend, wie vor seinem aufgezwungenen Schlaf. Unglaublich wütend. Und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte. Ich hatte ja schon versucht, mich anzubieten. Genauso, wie es schon immer von mir verlangt wurde. Ich sollte Entspannung bringen oder für den Abbau von Aggressionen herhalten, aber ... das hatte ihn auch nur weiter verärgert. Schlimmer noch ... er hatte in mir Lust erweckt und dann aufgehört. Was einfach nur gemein war! Uff, es war schwer, sich hier richtig zu verhalten. Bei meinem anderen Meister wurden mir wenigstens die Regeln für die Sklaven beigebracht. Regeln, die zwar unweigerlich irgendwann Strafen brachten, egal wie man sich auch verhielt, aber auch eine gewisse Sicherheit boten. Ich wusste in den meisten Fällen also bereits im Vorfeld, was mich erwartete. Hier allerdings ... war ich vollkommen ratlos.
<Versteckt Ihr Euch meinetwegen? Dafür gibt es keinen Grund. Wenn Ihr nicht mehr schlafen wollt oder könnt, müsst Ihr nicht die weitere Zeit im Bett verbringen.> Heka hatte natürlich recht ... Sich ausgerechnet vor ihr zu verstecken, brauchte ich nun wirklich nicht. Dennoch ... “Ich will Reznick nicht wecken. Er war vorhin so schrecklich wütend”, sprach ich bemüht im Flüsterton, da ich nicht wollte, dass er ausgerechnet durch meine Stimme erwachte. Ich wollte diese friedliche Ruhe noch so lange wie möglich aufrechterhalten.
<Er wird sicherlich in den nächsten Stunden nicht aufwachen, dafür habe ich gesorgt. Du kannst dich im Schiff also gerne frei bewegen. Vielleicht möchtest du ja noch mehr über Adelstechnik lernen? Oder etwas über deine Familie, die Aschengards erfahren? Du könntest auch in der Bibliothek Geschichten über die Welten, Sterne und allerhand Legenden lesen. Meine literarische Auswahl ist sehr umfangreich.> “Ich-ich würde gerne die Regeln für Sklaven in diesen Räumlichkeiten wissen. Ich ... möchte nichts mehr falsch machen”, erwiderte ich, wodurch sofort ein elektronisches Seufzen erklang. <Verstehe. Aber, Ihr seid bei uns gewiss kein Sklave, Johanna. Oder fühlt Ihr Euch hier drinnen etwa als solch einer? Falls ja, dann bitte ich Euch um Verzeihung. Sicherlich habe ich Euch verängstigt mit der Aussage, dass der Tod Reznicks auch der Eure wäre, aber das müsst Ihr mir vergeben. Ich wollte ihn nicht verlieren und Ihr wart nun einmal meine einzige Hilfe in dieser heiklen Situation. Ihr werdet mir also diese Worte nachsehen müssen. Nicht unbedingt jetzt, aber irgendwann, denn es wird Euch nicht glücklich machen, daran festzuhalten. Wechseln wird doch lieber zu einem erfreulicheren Thema: Was würdest du denn gerne aus deinem Leben machen? Hast du vielleicht einen Traum oder etwas, was du schon immer einmal gerne machen wolltest?>
Ich zog die Decke behutsam beiseite und setzte mich aufrecht hin. Ich überlegte – jedenfalls sofern es mir mit diesen Kopfschmerzen überhaupt möglich war. Ich sollte wirklich kein Sklave sein? Aber ... dann war mein Leben doch bedeutungslos. Dem Meister allein galt es zu dienen! Ihn beim Erledigen der aufgetragenen Aufgaben nicht zu enttäuschen. Man hatte sowieso keine Wahl, wurde zur Belustigung anderer benutzt und gequält. Was ich wollte, spielte nie eine Rolle. Puppen wie ich, sollten schlicht keinen freien Willen haben ... Warum ich trotz der leidvollen jahrelangen Erziehung dennoch selbstständig denken konnte, wusste ich nicht einmal. Ich wollte es nie. Wollte wie die anderen Sklaven innerlich leer sein – eine Hülle und doch war ich es nie geworden. Ich wurde mein ganzes Leben lang geformt, verändert und doch hielt sich etwas in mir. Widerstand. Freier Wille, auch wenn mein Meister, mein Herr, immer alles entschied und bestimmte. Mein Wert erhöhte sich mit jedem Tag, den ich lebte. Pah, Leben ... wie oft hatte ich mir den Tod gewünscht? Ich wusste nicht, was ich anderes wollte. Ich hatte nie etwas angestrebt, außer zu sterben, aber das ging ja nun nicht mehr ... Ich wollte es nicht mehr ...
<Johanna? Seid Ihr noch bei mir?> Ich nickte automatisch, ohne wirklich ihre Frage verstanden zu haben. Vielmehr schwirrten meine Gedanken nun darum, was ich jetzt mit mir anfangen sollte. Ich hatte kein Ziel. Keinen Weg, den ich beschreiten konnte ... “Ahh!”, wimmerte ich und fasste mir erneut an die Stirn. Mit diesen Schmerzen würde ich gewiss nie eine Lösung finden. “Du wirst leiden und dann wirst du gehorchen lernen ...”, flüsterte ich gedankenverloren die Worte meines Meisters. Ich hörte sie seltsam klar, als würde er neben mir stehen. Waren diese starken Kopfschmerzen etwa sein Werk? Seine Strafe?
<Hier, trinkt das.> Ich blickte verschwommen auf und sah, wie ein Greifarm mir ein Glas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit hinhielt. “Auch eine Betäubung?”, fragte ich verunsichert und nahm es zögerlich entgegen. <Spielt der wahre Inhalt eine Rolle für dich?> “Nein”, erwiderte ich prompt und trank es auch sofort aus. Es war mir wirklich gleich, was sich darin befand. Heka konnte mit mir machen, was sie wollte, denn anders als Reznick war ich niemand, der sich hier beklagen durfte. Und wenn es mir Qual bereiten sollte, war es auch nicht anders als bei meinem Meister.
<Es soll in erster Linie schmerzlindernd wirken. Ich sehe dir nämlich an, dass es dir nicht gut geht. Dein Gesicht ist verdächtig gerötet und deinem Verhalten nach zu urteilen, plagen dich starke Kopfschmerzen. Aber alle Blessuren, die Reznick verursacht hatte, sollten längst behoben sein. Ich würde dich daher gerne näher untersuchen. Zu meinem Bedauern funktionieren nur gerade die Personenscanner nicht, aber ich lagere schon einige meiner Ressourcen um, damit diese Technik für dich sowie die Krankenstation schnellstmöglich bereitsteht. Hast du, außer deinen Kopfleiden, sonst noch irgendwelche Defizite?> “N-nein es geht schon.” <Mich zu belügen ist unnötig und zudem wenig hilfreich. Versuch es doch jetzt einmal mit der Wahrheit.> “Nur der Kopf tut weh ... Ich-ich wollte mich nicht beklagen. Das Schiff zu reparieren scheint sehr dringend zu sein und ich möchte keine Umstände bereiten.” <Ach, mach dir darüber keine Gedanken, Süße. Die Neuverkabelung, sowie überhaupt erst einmal die Platinen für die Steuerungseinheiten herzustellen, dauert. Für dein Wohlergehen hab ich da locker noch Kapazitäten übrig. Heißt, wenn du mich auch lässt.>
Sie nahm mir nach diesen Worten das leere Trinkglas wieder ab und reichte mir stattdessen ein großes silbernes Tablet mitsamt Zeichenstift.
<Es wäre sehr freundlich von dir, wenn du deinen vollständigen Namen auf die Fläche schreiben würdest. Damit ließen sich im Haus der Aschengards die Familienbücher abrufen. Ich hätte gerne deine Krankenakte für die weiteren Untersuchungen nachher.> “Meinen Namen? Diesen Rea-Namen? Ich ... ich weiß nicht ...”, sagte ich verunsichert und hielt ehrfürchtig den weiß-bläulich schimmernden Stift umfasst. Es war toll, Adelstechnik in den Händen zu halten. Ich hatte es schon immer gemocht und auch meinen Meister nur zu gerne dabei beobachtet, wenn er solch Gerätschaften benutzte.
<Natürlich. Verzeih. Du kannst vermutlich gar nicht schreiben. Bei den meisten Adligen erhalten die Sklaven nicht einmal das Mindeste an Grundwissen. Traurig.> “Nein, nein. Ich kann schreiben ... Nur eben halt nicht wie, also welche Buchstaben. Kannst du mir es vielleicht zeigen? Dann sollte es kein Problem sein”, schlug ich vor und war dabei richtig stolz, dass ich trotz der ganzen Widrigkeiten bei meinem Meister überhaupt lesen und schreiben gelernt hatte. Viele Jahre benötigte ich dafür. Ich hatte dabei auch Hilfe von einem anderen Sklaven, an dessen Namen ich mich mittlerweile nicht mal mehr erinnern konnte ...
<Das ist natürlich wunderbar. Ich blende es Euch ein.> Heka schien sehr zufrieden darüber zu sein und keinen Moment später, tauchte auf der weißen Bedienoberfläche des Tablets mein Name: Zar’Rea Johanna Aschengard auf. Ich schrieb etwas steif die Buchstaben nach und kaum, als ich es geschafft hatte, wurde die Schreibfläche wieder weiß.
“Es ist weg ... Habe ich was falsch gemacht?” <Nein. Ich hab es gleich in mein System gezogen. Ich werde für die Abfrage einen Moment benötigen. Ihr könnt gerne in der Zeit etwas Eigenständiges malen. Einfach am oberen Rad des Stiftes drehen, dann ändert sich die Farbe. An der Seite ist auch noch ein Regler für die Stiftdicke. Probiert doch einfach nach Herzenslust herum. Reznick hat früher auch oft gezeichnet.> “Wirklich? Das kann ich irgendwie nicht glauben”, sprach ich belustigt und spielte nebenbei fasziniert an dem Stift herum. Ich änderte die schwarze Farbe auf rot und zog probehalber ein paar Striche. <Doch. Zur Entspannung. Das ist aber schon Jahre her und er hat sie allesamt gelöscht. Aber ... ich hab sicherlich noch in irgendwelchen versteckten Speichersätzen einige Bilder davon retten können. Gebt mir einen Moment.> Ich nickte und füllte derweil die weiße Fläche mit immer mehr roten und gelben Linien.
Flammen formten sich nach einer Weile aus meinen geraden und gezackten Strichen. Feuer, welches alles vernichten konnte ... Wie oft hatte ich mir vorgestellt, dass mein Meister davon verschlungen wurde? Er mitsamt seinem Hab und Gut darin verbrannte? Huch? Meine Zeichnung verschwand plötzlich und auf dem Bildschirm wurde ein kreisrundes Symbol angezeigt, welches unablässig aufblinkte. Eine rot-gelbe Sonne mit einem weißen Stern in der Mitte. Das kannte ich doch, es war das Wappen von Van Rotterval! Verunsichert aber auch neugierig tippte ich letztlich darauf und glaubte, gleich einen Herzstillstand zu erleiden. Auf dem Tablet erschien ein rundliches Gesicht, mit dieser markanten wulstigen Nase und dem übergroßen Leberfleck auf der rechten Wange ... das ... das Gesicht vom Grafen höchstpersönlich! Und er starrte mir direkt in die Augen!