In einem förmlichen dunkelblauen Anzug, welcher mit einigen weißen Akzenten stilvoll durchzogen war, saß ich an meinem Schreibtisch. Starrte ungeduldig auf den großen gebogenen Bildschirm vor mir. Wartete. Dass der Graf Van Mewasinas nicht unbedingt aufspringen würde, wenn ich unbedeutender Niemand anrief, hatte ich nicht erwartet. ABER von einer nervigen Warteschleife hingehalten zu werden, schlug definitiv auf mein Ego. Es ging mir sowas von auf den Sack! Und mehr noch, weil ich wusste, dass mein Adelstitel die ganze Sache um etliches Beschleunigen würde. Ja, mein echter Name. Das würde dir gefallen, nicht wahr, Vater? ABER, diesen tonnenschweren Halsreif verpasst du mir nicht! Nein. Ich kann und werde mich nie freiwillig an diese Kette legen. Für nichts auf der Welt. Ja, auch nicht für Dezeria!
Uff. Mein Atem ging schwer. Ich spürte deutlich, wie mein Nervenkostüm schon wieder zu bröckeln begann. Warum? Gerade jetzt war es denkbar ungünstig und es bestand doch keinerlei Grund dazu. Dezeria nahm nicht an diesen Blutspielen der Kirche teil. Und das, was ich so grob aus den Informationen, die Heka zusammengetragen hatte, entnehmen konnte, war meines Erachtens nach vollkommen harmlos. Die Glaubensrichtung bezog sich auf das Feuer, die Sonne und die Leidenschaft. Sonne erklärte sich von selbst. Jede erlaubte Kirchengruppierung musste dieses Rea-Symbol tragen, um nicht denunziert zu werden. Feuer stand für Blut und Leidenschaft natürlich für Sex. Es war also nicht schwer zu erraten, was bei einem dieser Rituale passieren würde. Dieser Zerian wird vermutlich mit jemandem rumvögeln oder gevögelt werden. Währenddessen wird man ihn langsam ausbluten lassen. Wenn die Dolche allerdings gezielt gesetzt werden, würde er nicht einmal was davon mitbekommen. Nur eine unglaubliche Reizüberflutung spüren. Ja, ich kenne das gut. Vater hatte es schließlich auch ein paarmal an mir ausprobiert. Er hatte schon mit allen möglichen Methoden versucht, meinen Verstand durchzuschmoren, und das war mitunter am effektivsten gewesen. Diese Folter hatte mir so viele Nahtoderfahrungen beschert, dass ich tagelang gar nicht mehr wusste, ob ich noch lebte oder mir alles nur einbildete.
Schnell schüttelte ich den Kopf und atmete tief durch. Dass ich von diesen alten Erinnerungen immer noch eine Gänsehaut bekam, passte mir gar nicht. Verdammt! Du hast keine Kontrolle über mich, Vater! Schmerzhaft biss ich die Zähne zusammen. Starrte erneut auf den ViDl, der auf eine Genehmigung wartete und anschließend erneut auf die Webseite, wo der Timer bereits die Eine-Minute-Marke geknackt hatte. Ich schloss umgehend das Fenster der Kirche. Ich wollte keineswegs bei diesem Ritual zusehen und weitere unliebsame Erinnerungen aus meinem früheren Leben bekommen. Es war lästig, dass mir das so unter die Haut ging.
“Rach!”, stöhnte ich keinen Moment später und öffnete frustriert das Fenster wieder. Wenn Dezeria nicht direkt am Ritual teilnahm, so bestand dennoch die Chance, etwas Nützliches aus dem Ganzen zu erfahren. Vielleicht wird sie ja kurz vorgestellt oder zufällig von den Kameras eingefangen. Möglich wäre es. Ich musste einfach wissen, ob sie da war oder nicht – musste ganz sicher sein. O Mann. Ich spürte deutlich, wie sich mein Herzschlag beschleunigte. Meine Augen klebten förmlich auf dem Bildschirm, als der Live-Stream startete. Ich hatte Angst, wurde mir schmerzlich bewusst. Angst, um dich, Dezeria.
Es stand zwar überall geschrieben, dass heute der Mondgott geopfert wurde, aber dennoch nagten unaufhörlich Zweifel an meinem Verstand. Ich befürchtete, dich da irgendwo zu sehen. Verletzt. Ich war tatsächlich erst erleichtert, als der Schwenk der Kamera einen prunkvollen Altar zeigte, worauf ein weißer Mann an Händen und Füßen gefesselt lag. Nackt. Es war dieser Zerian. Gut. Der kümmerte mich einen Scheiß. Hauptsache du bist es nicht, Dezeria.
Nun trat eine ganz in rot gekleidete Gestalt auf das steinerne Podest. Eine Frau. Sie quatschte was von der Reinheit der Flammen, was mir ein gelangweiltes Seufzen entlockte. Ich stellte den Sound ab. Dieser ehrfürchtige Gottkram war definitiv nichts für mich. Die maskierte Frau, welche man nur schwer unter den unzähligen Stoffschichten erkennen konnte, sah so ohne Ton schon fast lustig aus. Ihr Armgefuchtel wirkte wie ein unbeholfener Tanz. Hm. Okay, ein Tanz ist es wohl doch nicht. Sie legte vielmehr einen Striptease hin. Mit jeder weiteren Bewegung fiel ein Stück Stoff zu Boden und legte ihren perfekt geformten Körper frei.
Hm. Ich betrachtete intensiv ihre dunkelbraune Haut mit den ganzen roten Flammen- und Sonnensymbolen. Etwas daran war mir seltsam vertraut. Kannte ich sie etwa? Fieberhaft überlegte ich, kam aber nicht darauf, wo ich sie schon einmal gesehen haben könnte. Ich hatte auch keine Zeit, um mich näher damit zu befassen. Der ViDl erhielt eine Freigabe und nahm sofort all meine Aufmerksamkeit ein.
Ein alter faltiger Mann blickte mir auf dem Bildschirm entgegen. Er trug einen feinen roten Umhang, welcher an den Rändern in weißes Fell mündete. Darunter konnte man Teile einer silbernen Rüstung hervorblitzen sehen. Blaue und rote Edelsteine verzierten die Krone auf seinem Kopf sowie das Zepter in seiner rechten Hand. Eisold, keine Frage. Ich war ihm schon einmal begegnet, als ich ein Oswelat hier spielen musste. Er liebte das Mittelalter-Setting und kleidete sich stets wie ein machtvoller König.
“Ich, Eisold Van Mewasinas, gewähre euch Gehör”, sprach er schwungvoll und richtete sich etwas schwerfällig in seinem Thron auf. “Bekundet, was Ihr vom König der Wasserstadt mit dieser Audienz bezwecken wollt.” Nach diesen Worten kontrollierte er, ob seine Krone noch korrekt saß, bevor er wieder gebieterisch in die Kamera blickte. Ich wusste, dass er nun eine höfliche altertümliche Rede meinerseits erwartete, aber ich hatte keine Lust, mich in dieses Rollenspiel einzufinden.
“Ich will wissen, ob diese Frau bei Euch oder Eurem Sohn ist!”, knurrte ich wenig taktvoll und übertrug ein Bild von Dezeria über den Link. Eisold zog sofort missbilligend seine graumelierten Augenbrauen zusammen. “Unterlasset diese Gossensprache”, verkündete er hoheitsvoll, aber bevor er weitersprechen konnte, fuhr ich ihm gereizt dazwischen:
“Eisold! Ich habe keine Zeit für diesen Quatsch! Ich will wissen, ob sie bei Euch ist oder nicht! Sie gehört mir! Wehe es rührt sie einer an! Sollte ihr etwas in dieser Stadt passieren, werde ich alles und jeden niederbrennen!” Ich stutzte keinen Augenblick später über meine Worte und sah dabei vermutlich genauso überrascht aus wie Eisold selbst. Was hatte ich da bitte gerade gesagt? Bin ich denn verrückt? Scheiße! Wieso musste ich jetzt dem Nächsten auf die Nase binden, dass sie mir so viel bedeutete? Warum versuchte ich nicht wenigstens ansatzweise zu verhandeln? Mein berechnendes, kaltes Ich hatte ja nicht gerade lange gehalten. Ich kam mir vor wie der letzte Trottel.
Frustriert rieb ich mir übers Gesicht. Eisold schüttelte derweil meinen respektlosen Ausbruch von sich. Seine Miene wurde unergründlich, wie es auch mein Vater immer tat, wenn er etwas an mir missbilligte. Selbst in seinen Augen fand ich keinerlei Gefühlsregung mehr. Wieso konnten die alten Knacker das immer so perfekt? Toll. Ich hatte nun also all meine Chancen vertan. Gleich wird er den Visual-Direktlink unterbrechen und ich konnte es ihm nicht einmal verübeln. Wenn mir irgendein Wicht solch Frechheiten an den Kopf warf, würde ich genauso reagieren. Es grenzte bereits an ein Wunder, dass er sich dabei so viel Zeit ließ. Ob er zuvor noch eine Entschuldigung von mir hören will?
“Reznick, auch wenn dein sonderlich kurzer Name nicht darauf schließen lässt, welcher Blutlinie du angehörst, so sei doch versichert, dass viele hochrangige Adelshäuser wissen, wer du bist ... Oder besser, wer dein Vater ist.” Ich runzelte verwirrt die Stirn. Was wollte er mir jetzt damit sagen?
“Das herauszufinden ist auch nicht schwer”, erwiderte ich und zuckte unbekümmert mit den Schultern. “Meine Daten sind allein schon wegen des BOLYZAG-Spielsystem mehrfach einsehbar.” Eisold legte sein Zepter auf seinen Schoß und widmete anschließend dem Digitalarmband am linken Arm seine volle Aufmerksamkeit. Ich wusste nicht, was er da jetzt betrachtete, aber es schien seine Haltung zu verändern. Als er wieder zu mir aufsah, lächelte er sogar. Was hatte ihn jetzt so über meine Äußerung amüsiert? Wobei. Nein. Seine Augen sagten mir deutlich, dass es keine Schadenfreude war. Seltsam.
“Die Übertragung in andere Kanäle ist nun unterbrochen”, sagte er nach einem Moment, was mich weiter irritierte. Hatte er etwa gedacht, dass wir beobachtet werden? O nein. Ich schluckte. Mein Herz schlug mir bis zum Halse. Lief vielleicht gerade ein Spiel auf seiner Seite und ich Volltrottel hatte laut brüllend meine Schwachstelle preisgegeben? Vor Wut ballte ich die Fäuste. Das darf doch alles nicht wahr sein!
“Dafür, dass du normalerweise in den Spielen keine echte Emotion zeigst, bist du gerade ein offenes Buch, Reznick. Und ich rede auch nicht von deinen Angaben, dass irgendein unbedeutender verstorbener Niemand dein Vater ist, so wie es überall eingetragen wurde. Ich rede von deiner Kartei in der Rea-Datenbank ... klingelt da vielleicht etwas bei dir?”
Ich starrte ihn an. Keine Ahnung, was ich nun dazu sagen sollte. Ich konnte an seiner ganzen Körperhaltung ablesen, dass er die Wahrheit wusste. Er wusste, dass ich nicht nur Besitz der Königsfamilie war, sondern auch der geplante Nachfolger. Jedenfalls, wenn es nach dem Willen meines Vaters ging. Gut. Damit hatte sich dieses Gespräch erübrigt. Ich durfte keinesfalls meinen Titel oder Rang in den Kreisen der Rea erwähnen. Selbst mein Status als Besitz, wurde streng von meinem Vater unter Verschluss gehalten, um die Spiele nicht zu verfälschen. Dafür war ich ihm sogar dankbar. Ich interessierte mich zwar nicht für Politik, aber es gab sicherlich genügend Regeln und Gesetze meines Vaters, die nicht bei allen Rea auf Gegenliebe stießen. Und ich hatte kein Interesse, diese Leute auf mich aufmerksam zu machen.
Ich war im BOLYZAG-System für alle eigentlich nur ein gelangweilter reicher Adliger, der an jedem möglichen Spiel teilnahm. Sollte herauskommen, wer ich wirklich war, wäre ich definitiv am Arsch. Ja, wer würde nicht gern den Sohn des Königs demütigen und foltern? Ich mein klar, sowas konnte mir auch im normalen Modus passieren, aber mit meinem Können und meiner Erfahrung gelang es so gut wie nie einem der Mitspieler. Aber, wie würde das ausgehen, wenn es alle gezielt auf mich abgesehen hatten? Oder mich sogar töten wollten? Nicht, dass ich auf mein Leben je einen großen Wert gelegt hätte. Solange mein Vater vor mir starb, war ich zufrieden. Oder besser – zufrieden gewesen. Ja, Dezeria. Jetzt hatte sich alles verschoben. Meine vertraute Welt lag in Trümmern. Nur deinetwegen.
“Reznick? Deine Aufmerksamkeit liegt nicht mehr auf dem Wesentlichen”, sprach Eisold und unterbrach damit meine wirren Gedanken. “Du musst meine Annahme nicht bestätigen. Ich weiß, dass du darüber kein Wort verlieren darfst”, fuhr er fort und ich ahnte schon, worauf das hier hinauslaufen würde. Er hatte Dezeria oder wusste zumindest, wo sie war. Ich konnte es sehen. Kalter Schweiß rann mir den Rücken hinab. Durch mein Fehlverhalten wusste er genau, dass sie mir etwas bedeutete – dass sie mir sehr viel bedeutete. Ich konnte fast schon die Verzweiflung in meinem Gesicht spüren, die mich zu übermannen drohte. Ich war mit der Situation hoffnungslos überfordert. Und dieses Gefühl der Hilflosigkeit machte mich krank. Er konnte mich jetzt spielend mit dir erpressen, Dezeria. In was für eine Hölle bin ich da nur wegen dir hinein geraten?