•‡Dezerias Sicht‡•
Wir ritten jetzt schon eine gefühlte Ewigkeit an Wiesen, Flüssen und Wäldern vorbei. Die Sonne neigte sich langsam und verschwand schließlich am Horizont. Mit der Nacht kam die Dunkelheit sowie auch die Kälte. Mittlerweile tat mir alles nur noch weh und auch die Pferde wurden lahm, während ich bei Hannes keinerlei Erschöpfung erkennen konnte. Er brach sogar voller Elan zwei lange, dünne Zweige an einem jungen Baum ab, damit wir die Tiere weiter antreiben konnten. Dies half aber nicht wirklich lange ... Mein Pferd stoppte schließlich und ich besaß auch keinerlei Kraft mehr, um es irgendwie zum Vorwärtsgehen zu animieren. Es trottete einfach vom befestigten Pfad, und als es sich im hohen Gras zum Fressen bückte, riss es mir sogar die Zügel aus meinen sich taub anfühlenden Händen.
Keine Sekunde später flog ich auch schon vorne über. “Ahh!”, schrie ich und konnte mich mehr schlecht als recht vor dem Sturz schützen. “Dezeria?!”, hörte ich Hannes besorgt rufen, aber ich blieb einfach wie tot, auf dem Boden liegen. Mein Körper war schlicht zu keiner Bewegung fähig. Gott ... kein Muskel wollte sich rühren. Nicht mal meine Beine spürte ich noch. Wie hatte ich mich bei dieser immensen Schwäche überhaupt so lange im Sattel halten können?
“O Dezeria! Bist du verletzt? Sag doch etwas!”, sprach Hannes fast schon panisch und dann versuchte er, mir vorsichtig aufzuhelfen. “Ich kann nicht”, brachte ich erschöpft hervor, als es nicht funktionierte und ich gleich wieder zusammensackte. “Tut dir was weh? Hast du dich beim Sturz verletzt? Vielleicht was gebrochen?”, fragte er und tastete hurtig meine Glieder ab. “Nein, ich glaube nicht ... Nur ... nur Muskelkater, glaube ich.” “Gut, wir müssen ohnehin rasten, aber nicht so direkt am Weg, warte hier”, sprach er und ging zu den Pferden. So im Dunkeln konnte ich nur schemenhaft erkennen, was er tat. Der Mond würde noch etwas brauchen, bis dieser sich am Himmelszelt zeigen würde und die Sterne spendeten zu dieser Zeit nur mageres Licht. Ich glaubte zu erkennen, dass Hannes die Pferde zusammentrieb, wobei eins der Tiere rumbockte und protestierend wieherte. Ja, das hätte ich vermutlich auch gemacht, wenn man mich schon stundenlang durch die Welt gehetzt hätte, und der Gedanke, selbst noch weiter gehen zu müssen, trieb mir tatsächlich die Tränen in die Augen. Ich wollte hier sitzen bleiben ... Nein, wollte mich hinlegen und nur noch schlafen. Mir war dabei auch vollkommen gleich, dass langsam die Kälte in meinen Leib kroch. Es war mir egal. So egal ...
Ein Klackern, wie von aufeinander schlagenden Steinen, riss mich aus meinem dösigen Zustand. Weiteres Klicken und einige Fluchlaute von Hannes folgten. Ich versuchte zu erkennen, was er dahinten machte ... Als ich schließlich Funken sah, wurde mir bewusst, dass er versuchte, ein Feuer zu machen. Es dauerte etwas, bis er mit dem Feuerstein und etwas Zunder ein Stück Papier zum Brennen brachte. Kurz darauf entzündete er eine kleine Öllampe. Ich staunte echt nicht schlecht, sogar an sowas hatte er gedacht ...
“Komm, du musst aufstehen.” Kam er letztlich zu mir und zog mich auf die Füße. Ich wankte sofort und wollte mich wieder hinsetzen. “Nein, nicht. Du holst dir sonst noch eine Erkältung.” “Aber ich kann nicht mehr, Hannes. Mir tut alles weh”, murrte ich, auch wenn ich wusste, dass dies in unserer Situation wohl wenig hilfreich war. “Ich weiß, es ist schwer, aber du musst noch mal aufsitzen”, sprach er streng und dirigierte mich zu seinem Pferd. Gott, wie sollte ich da bitte rauf kommen?
“Ahh!” Plötzlich spürte ich Hannes’ starke Hände an meinem Hintern und dann hob er mich auch schon hoch. Der Schreck über seinen beherzten Griff hatte mich so sehr aus der Fassung gebracht, dass ich fast auf der anderen Seite wieder hinunter gefallen wäre. “Was denn? Hast du dich jetzt etwa erschrocken?”, neckte er mich, während ich mich regelrecht quälte, im Sattel richtig Platz zu nehmen. “Du hättest mich ja auch vorwarnen oder nicht so grob sein können oder mich nicht unbedingt so anfassen müssen!”, murrte ich verärgert, denn dieses Verhalten mochte ich an ihm absolut nicht. Mein Unmut schien ihn allerdings nur zu erheitern. Ja, er versuchte, ein Lachen zu unterdrücken ... Was sollte ich jetzt davon halten?
“Findest du das lustig?”, fragte ich sauer, während er das zweite Pferd an meinem Sattel festband. “Was? Hast du gedacht, ich falle über dich her?”, grinste er mich verwegen an und machte sich auf, uns zu Fuß tiefer in den Wald zu führen. “Jetzt sei nicht so Dezeria, meine Liebe. Keine Sorge, ich mach es nachher wieder gut und massiere deine schmerzenden Muskeln, danach geht es dir gleich besser.” Ich schluckte. Mir gefiel die Richtung nicht, in welche unsere Unterhaltung ging. Früher hätte ich mir sicherlich nichts dabei gedacht, wenn er mich massieren wollte, aber jetzt? Unweigerlich bekam ich deswegen ein ungutes Gefühl und auch, dass wir uns immer weiter vom Weg entfernten. Es ging in den stockfinsteren Wald hinein mit nichts als diese kleine Lampe als Lichtquelle ...
*
Ich blickte immer mal wieder zurück. Gott ... ich hatte keine Ahnung, wo wir hier waren, und Hannes schritt dennoch immer weiter voran. Das Blätterdach war hier so dicht, dass nicht einmal mehr die Sterne zu sehen waren! Ich hatte von Minute zu Minute immer größere Angst! Ich mochte die Dunkelheit nicht wirklich ... Nicht solch rabenschwarze Finsternis. Ich brauchte Mondlicht oder wenigstens die Sterne ... aber nun gab es nur noch Hannes und das kleine flackernde Licht in seiner Hand. Ich war sowas von auf ihn angewiesen und das behagte mir einfach nicht. Oder war ich einfach nur undankbar?
“Hier siehts einigermaßen Trocken aus und dürfte auch weit genug von der Straße weg sein”, sprach er schließlich irgendwann und bückte sich. Er tastete den Boden ab und lief anschließend einen Kreis, um die Gegend genauer zu inspizieren. Als er fertig mit dem Rundgang war, band er erst sein Pferd an den Baum und dann meins. Ich wartete derweil – ohne Hilfe würde ich es sowieso nicht mehr runter schaffen. Nicht ohne Sturz zumindest.
“So und jetzt ... Ich helf dir runter”, sprach er, nachdem er die Öllampe auf einen Stein gestellt hatte. Seine Hände streckten sich mir auffordernd entgegen, was mich erst zögern, aber dann doch danach greifen ließ. Er zog mich regelrecht in seine Arme – an seine breite Brust. Es war mehr eine innige Umarmung, als dass er mir nur runter helfen wollte. “Hannes?”, fragte ich nach einem Moment unsicher, als dieser Körperkontakt deutlich zu lange andauerte. “Ja?”, fragte er amüsiert, ohne, dass sich was änderte. “Du kannst mich jetzt loslassen”, murrte ich und versuchte, gegen seine starken Arme anzukommen. “Bist du dir da sicher?”, raunte er in mein Ohr und ließ etwas lockerer. Ich hasste mich in diesem Moment – hasste es, dass meine Beine einfach nachgaben und er mich wieder fester an sich zog.
“Du bist wirklich sehr erschöpft”, sagte er unnötigerweise und hob mich ganz hoch. Toll. Ich wurde zu einem umgestürzten Baumstamm getragen, der noch gerade so vom Schein der Lampe beleuchtet wurde. “So, hier kannst du dich erst einmal etwas ausruhen, ich muss mich noch um die Pferde und unser Lager kümmern. Versuch dich in der Zwischenzeit zu entspannen, ja? Das hilf deinen verspannten Muskeln.” Ich sah ihm verwirrt sowie erleichtert hinterher, als er nun zurück zu den Pferden ging. Ich ertrug seine Nähe einfach nicht mehr ... auch wenn er sich sichtlich bemühte, unsere Flucht so angenehm wie möglich zu gestalten ...
Hannes versorgte die Tiere und brachte auch mir einen Wasserschlauch zum Trinken. Dabei legte er mir noch eine Decke über, damit ich nicht fror. Auch hob er vor mir eine kleine Vertiefung aus, um darinnen ein richtiges Feuer zu machen. Er war wirklich überaus fürsorglich, auch wenn sich der fahle Beigeschmack in meinem Mund einfach nicht legen wollte. Selbst dann nicht, als ich auf einem Stück Trockenfleisch herum kaute, welches er mir gegeben hatte. O Mann, das kam mir alles so sinnlos vor. Ich ... kam mir nutzlos vor. Was war hier überhaupt mein Sinn? Gedankenverloren am Feuer sitzen, während der Mann, den ich nicht liebte, sich um alles andere kümmerte? Wie sollte so mein weiteres Leben aussehen? An seiner Seite?
“Hey? Dezeria?”, fragte er und umfasste sanft mein Kinn, um es zu sich anzuheben. “J-ja?” “Ich fülle noch schnell unsere Wasservorräte auf. Da hinten”, er deutete ins Dunkle, ”verläuft ein Bachlauf, ich bin gleich wieder da.” Und dann küsste er mich. Ich hielt vor Schreck den Atem an und keuchte, als er endlich von mir abließ. “Bis gleich”, säuselte er und machte sich mit der Lampe auf in die Finsternis. Ich sah ihm noch eine Weile nach, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte, und starrte dann in die Flammen. Gott ... was sollte ich nur tun? Kurz pochte in meinem Kopf etwas von Weglaufen, aber das war absurd. Ja, ich könnte mir vermutlich ein Pferd schnappen und von hier davon reiten, bevor er wieder kam ... aber dann? Allein wäre ich hier verloren ... Allein hätte ich es nicht einmal aus Rotterval heraus geschafft ...
Stumm entkamen mir einige Tränen. Ich hasste mich wirklich dafür, so unselbstständig zu sein. Ich war doch sonst auch nicht so! Was war nun anders? Wenn ich allein gegangen wäre, hätte ich diese ganzen Probleme mit Hannes nicht ... wenn er ... “Uh!”, stöhnte ich mit einem Mal und hielt mir die Hand vor den Mund. Warum war mir dauernd so schlecht? Zum Glück verflog die Übelkeit genauso schnell, wie sie gekommen war. Ich atmete tief, tief durch und starrte dann erneut ins Feuer. Es brachte nichts, weiter über das “was-wäre-wenn” nachzudenken. Ich war jetzt hier ... Hier mit ihm ... Alleine in einem unheimlichen Wald und hatte keine Ahnung, was ich aus meinem Leben noch machen wollte. Oder was ich im Allgemeinen wollte. Früher dachte ich, es wäre Verkäuferin werden, wie meine Mutter oder ein Bäcker, wie mein Vater. Aber jetzt? Jetzt war da nur noch Leere. Gott, ich war so armselig ...
Irgendwann sah ich den Schein von Hannes Lampe wieder zwischen den Bäumen aufflackern, wodurch ich unweigerlich die Decke fester um mich zog. Er winkte freudig, als sich unsere Blicke trafen, und hielt einen der gefüllten Wasserschläuche in die Höhe. Hm ... vielleicht sollte ich mich einfach meinem Schicksal ergeben? Es mit ihm versuchen?
[Die liebe Darklover war mal wieder so nett :3]