Entsetzt starrte ich auf die schwarze Tafel, nachdem Elian wieder zurückgekommen war und diese laut seinen Worten eingeschaltet hatte. Die leuchtende bunte Oberfläche löste in mir keine guten Erinnerungen aus. Augen und Ohren – schoss es mir sofort durch den Kopf. Reznick hatte es mir doch selbst gezeigt. Magische Bilder. Musik und Gelächter. Die Nacht mit Ludwig. Auch jetzt waren wir nicht alleine. Alles, was hier passierte – nur ein Spiel. Ein Spiel zur Belustigung anderer. Immer noch.
“Darf ich?” Elian sah mich freundlich an und deutete auf meinen angeschwollenen Arm. In der anderen Hand hielt er das geöffnete Salbenkännchen, welche eine grüne Mixtur beinhaltete. Der scharf beißende Geruch brannte umgehend in meiner Nase.
“Um was zu bewirken? Zu sehen, wie meine Haut darauf reagiert? Ich reagieren werde? Meine Verletzungen schlimmer werden?”
“Hm?” Er legte den Kopf leicht schräg und blinzelte mich verwirrt an. “Das ist eine Wundtinktur. Ganz ohne Rea-Essenz ... Die ist für jeden von uns gut verträglich. Ich zeig’s dir ...” Lächelnd dippte er zwei Finger in die dickflüssige Substanz und verteilte diese auf seinem Handrücken. “Siehst du? Ist nicht giftig. Du brauchst keine Angst zu haben.”
“Und wozu dann das da?” Ich deutete auf den schwarzen Stein, der immer noch aufleuchtend vor uns auf dem flachen Tisch lag. “Augen und Ohren der Rea, damit diese alles mitverfolgen können. Bei Ludwig war es nichts anderes!”
“Was? Oh, nicht doch. Das ist nur für Suciu. Sie kann unsere Stimmen hören und fühlt sich dadurch hoffentlich nicht so alleine. Sie könnte auch was sagen, spricht aber eigentlich nie mit mir über das Ding. Was ich verstehen kann. Ich weiß ja selbst nie, was ich sagen soll. Also mit dir, Dezeria, kann ich mich unterhalten, weil du hier bist, aber wenn man den anderen nicht sieht ... Es ist irgendwie komisch. Verstehst du, was ich meine?”
“Ich glaube nicht.” Ich runzelte schmerzlich die Stirn. “Diese Suciu sitzt jetzt irgendwo anders in diesem Schiff und hört uns zu? Wenn sie nicht alleine sein will, wieso kommt sie dann nicht zu uns? Kann sie es nicht? Ist sie auch eingesperrt?”
“Eigentlich nicht. Also eingesperrt ist sie nicht. Wir können uns in den meisten Bereichen hier frei bewegen.” Sein Lächeln fiel etwas in sich zusammen und er atmete einmal tief durch. “Suciu hat jedoch weitaus größere Schäden durch die Rea erlitten, als ich es habe. Sie kann nicht gehen oder sich großflächig bewegen. Wenn du keine Gefahr mehr bist und sie es auch möchte, kann ich euch ja mal vorstellen. Aber für den Moment halte ich es für keine gute Idee.”
“Ja klar.” Ich schnaufte abfällig. “Als ob ich eine Gefahr wäre. Das erzählst du mir jetzt auch nur, damit ich – was? Nicht flüchte und mich ruhig verhalte, weil mir das sonst auch widerfährt? Ehrlich ... Ich verstehe dich nicht! Du gehörst ganz offensichtlich zu diesem Rea und dennoch versuchst du ununterbrochen, mein Vertrauen zu gewinnen. Wozu?! Willst du mich später noch fieser als er behandeln, um den Reas eine gute Unterhaltung zu bieten?”
“Nein.” Er stellte die Salbe auf den Tisch. “Ich würde dir nie etwas antun, so wie du auch mir versprochen hast, mich nicht zu verletzen.”
“Das sind doch nur leere Worte! Ein Versprechen bedeutet gar nichts. Das kannst du doch unmöglich ernst meinen!”
“Mir ist das wichtig.” Er sah mich unglücklich an und rutschte ein Stück auf Abstand. “Darf ich fragen, warum du jetzt wieder so misstrauisch bist?” Nervös spielte er an den Ärmeln des Pullovers. “Ich dachte, du wolltest meine Nähe. Also zum Reden ... Ich bin doch nur deswegen bei dir geblieben. Du verwirrst mich.”
“Bitte sei vorsichtig, Eli. Sie klingt instabil”, sprach plötzlich eine feine Stimme, die direkt vom Tisch kam. War sie das? Diese Suciu, die durch den Stein mithörte? Nein. Darauf fiel ich bestimmt nicht herein. Sicherlich nur irgendein Trick.
“Da! Ha! Hast du gehört? Hast du? Das ist Suciu, klingt sie nicht wundervoll?” Er strahlte sofort bis über beide Ohren. “Und keine Angst. Mir geht es gut. Ich bin bald wieder da, ja? Kannst du noch etwas warten?”
Ich schnaubte. “Spart euch das! Ich wollte reden, ja, aber da wusste ich noch nicht, dass du eine Maschine bist.” Ich deutete verärgert auf sein linkes Bein. Seine Kleidung verbarg in dieser Position keineswegs die Kerben am Knie. “Ich habe solches Steckprinzip oft bei den Maschinen meines Vaters gesehen. Das ist nicht echt. Auch die komischen Frauen vorhin hatten so etwas. Du brauchst dich also nicht um mein Vertrauen bemühen ... Du bist wie sie!”
“Hm? Mein Bein?” Er folgte verwirrt meinem Blick. “Du bist wütend, weil ich nicht vollständig bin?” Er schob an der betroffenen Seite das Ende der Unterhose hinauf. Die seltsamen tiefen Linien überzogen fast vollständig den Oberschenkel. Erst kurz vor der Hüfte kam wieder seine helle Haut zum Vorschein.
“Ich mag es auch nicht, aber es hilft mir beim Gehen.” Er drückte an einigen Stellen eine Art flachen Knopf, wodurch ein kaum hörbares Zischen erklang. Unheimliches Leben kam daraufhin in das Teil. Genau am Übergang von seiner Haut zu diesem eigenartigen Material, klappte es auf und fiel anschließend zu Boden. Zurück blieb der Stummel eines Beines – seines Beines. O Gott!
“Ist es für dich so besser? Ich kann auch ohne meine Prothese neben dir sitzen. Uuund sonst bin ich ganz öhm ... echt wie du es nanntest.” Er lächelte mich an, was mich ehrlich sprachlos machte. Er hatte sein Bein verloren und konnte nur mithilfe solch einer Rea-Technik laufen? Ich hatte noch nie einen derart perfekten Ersatz bei einem Menschen gesehen und auch nicht in dem Ausmaß. Höchstens mal eine einfache Holzattrappe für den sicheren Stand, wenn der Fuß von einem Planwagen zerquetscht wurde. Augenblicklich bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ein richtig, richtig schlechtes Gewissen.
“Ich habe dich zu unrecht beschuldigt ...”
“Hm? Ach was nein. Alles in Ordnung. Ist doch nichts passiert.” Er schnappte sich wieder die Salbe. “Darf ich dich denn jetzt versorgen? Du hast sicherlich Schmerzen. Ich kann mich irren, aber ich habe den Eindruck, dass die Farbe deiner Blutergüsse von Minute zu Minute dunkler wird.”
“Gerne ...”, flüsterte ich unwohl und streckte ihm meinen dicken Arm entgegen. Seine Nettigkeit kam mir so falsch vor. Bisher hatte ich mich unmöglich ihm gegenüber verhalten. Dass er mich derart fürsorglich behandelte, hatte ich überhaupt nicht verdient. Das konnte ich nie wieder gutmachen. Selbst wie er sich nun um meine Verletzungen kümmerte, war unglaublich. Federleicht trug er die Salbe auf – überaus vorsichtig, um mir ja nicht zu schaden.
“Entgegen dem ekligen Geruch, hilft es erstaunlich gut, oder? Fühlst du schon, wie es besser wird?”
“Ja ...” Es half wirklich. Unheimlich, wie schnell das ging. Ich konnte richtig zusehen, wie die Schwellung abklang und meine Haut sich erholte. “Viel besser als jede Kräutermedizin, die ich kenne. Aber das ist nichts Besonderes, oder? Bei den Rea ist alles wunderlich.” Reznick hatte mir ja auch schon gut vor Augen geführt, wie diese Mittel selbst offene Schnittwunden schließen konnten.
Elian lächelte, sagte aber nichts weiter dazu – konzentrierte sich schlicht auf das Einsalben. Ich ließ ihn machen. Genoss die verblassenden Schmerzen und das sanfte Reiben seiner Finger auf meiner Haut. Er bemühte sich sogar, nicht allzu aufdringlich zu werden. Hielt penibel den Abstand zu mir. Besonders zu meinen Händen, als hätte er Angst davor. Erst dachte ich mir nichts dabei, aber nach einiger Zeit wurde es offensichtlich, dass er vehement die kristallinen Fesseln mied. Meinen Hals schien er ähnlich großflächig zu umgehen.
“Hmm ...” Schließlich hielt er inne und sah mich etwas hilflos an, nachdem nur noch die blauen Flecke an meinen Handgelenken übrig blieben.
“Kannst du es bitte selbst darunter verteilen? Ich bin nicht sonderlich stark und ich will nicht, dass mein Licht ausfällt. Ich mag die Dunkelheit nicht.”
“Wie stark? Du meinst die Fesseln? Kannst du sie nicht anfassen?”
“Ja, na anfassen schon, aber ich trage im Vergleich zu dir kaum noch Essenz in mir. Wenn ich das Bleasta berühren würde, geht vielleicht mein Licht aus.” Er deutete zur Decke auf eine der leuchtenden Kugeln.
“Essenz? Dies erwähnte das Monster – also Leo bereits mehrfach und das ... Ble-lasta? Mich verwirrt das, kannst du es mir erklären? Ich weiß ja, dass er mit diesen Sachen mein Eis meint, aber was bedeutet das alles im Zusammenhang?”
“Erstmal deine Wunden.” Er drückte mir die Salbe in die Hand und sah mich auffordernd an. Mit einem leichten Seufzen tat ich, was er wollte. Diese Armreife saßen jedoch derart eng, dass ich kaum die Medizin darunter verteilen konnte. Gott, nur ein Stückchen kleiner und die Dinger würden mir sicherlich das Blut abschnüren.
“Gut machst du das.” Elians Lächeln kehrte zurück. “Und was deine Fragen betrifft. Hm, also der Kristall schwächt Gebundene ab oder auch Beseelte, wie Leo es nennt. Und Ungebundene kann es sogar ganz einfangen.”
“Das ist nicht wirklich aufschlussreich.”
“Oh, nicht? Wie erkläre ich es dann am besten? Ich versuche es mal an mir als Beispiel, in Ordnung?” Ich nickte. “Prima. Dann ... Hm. Ich bin ein gebundener Elementar. Ich war früher nur Licht, bis ich diesen Körper hier beseelt habe. Verstehst du das?”
“Nein. Du warst Licht? Wie kann man denn Licht sein? Wie die Sonne oder meinst du die heiße Flamme eines Feuers? So ein Gott wie Zerian? Aber wie funktioniert das überhaupt?” Wobei. Vielleicht sollte ich das nicht hinterfragen. Ich bezweifelte, dass es für diese ganze Magie eine Erklärung gab. Und wenn dann keine, die ich je begreifen würde.
“Eli, mach das mit den Sternen ... Es ist so hübsch ... Ich würde mich freuen ...”, flüsterte Suciu kaum hörbar aus dem Stein, was mich jedoch aufhorchen ließ.
“Sternen? Was meint sie damit?” Fragend sah ich ihn an, während sein Blick irgendwie verträumt zum Tisch ging.
“Ach, Suciu, du kannst das doch gar nicht sehen.” Er seufzte und wandte sich wieder mir zu. “Ich zeig dir was, ja? Aber bitte nicht erschrecken. Ich mache dafür den Raum etwas dunkler, in Ordnung?”
“Ja ...” Er schloss die Augen und wie von ihm angekündigt verschwand der Tag. Es dämmerte und das Licht nahm Stück für Stück ab, wie die schwindende Flamme einer heruntergebrannten Kerze. Nur noch dumpf erkannte ich Umrisse des Zimmers und auch er hüllte sich immer mehr in Schwarz. Gespannt musterte ich ihn. Was hatte er vor?
“Du kennst doch den Himmel bei Nacht ...”, begann er und kaum ausgesprochen bildeten sich über uns viele kleine bunte Punkte gleich einem echten Sternenmeer. Wow! So nah hatte ich es noch nie gesehen oder jemals etwas Vergleichbares. Einfach wunderschön. Magisch. Vorsichtig streckte ich die Arme aus, um einige davon zu berühren, aber leider spürte man nichts.
“Ich kann nur von mir erzählen, aber soweit ich das von Meekamahi mitbekommen habe, stammen wir alle von Sternen ab. Seelen die durch die Dunkelheit wandern.” Ein kleiner weiß-gelber Punkt schwebte zwischen uns und wuchs mit jedem Atemzug. Es bildete sich ein glimmender handgroßer Feuerball mit einem langen Schweif hinten dran.
“Menschen sprechen von Eltern. Von einer Mutter und einem Vater, aus denen sie entstanden sind. Wenn ich dieses Prinzip als Grundlage nehme, dann kannst du diesen Stern als meine Eltern verstehen.” Er öffnete langsam die Lider und fixierte die brennende Kugel mit seinen leuchtenden Augen.
“Anders als Menschen, die viele Kinder im Laufe ihres Lebens machen können, erschaffen Wanderseelen ihre Nachkommen, wenn sie das Ende ihres Weges erreicht haben. Verstehst du? Ich entstand also, als meine Eltern starben.” Der Stern zersprang in viele winzige Funken, die wild in jede Richtung schossen und anschließend verblassten. Nur ein zweifarbiger blieb übrig und zog seine Kreise weiterhin zwischen uns. Es leuchtete genauso wie seine Augen.
“Dann bist das du?”, fragte ich fasziniert von diesem Schauspiel. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass ein Stern andere Sterne hervorbrachte. Oder aus einem solchen jemand wie er geboren wurde. Die Kirche erzählte uns schließlich immer etwas anderes und auch meine Mutter hatte dazu ganz eigene Geschichten. Angefangen von weit entfernten Planeten, über Götter, bis hin zu Schiffen der Rea. Ich hatte so viel gehört und auch gelesen, aber das hier war mir völlig neu.
“Vor langer Zeit einmal gewesen, ja.” Er hob einen Arm und ließ die Kugel über seine offene Handfläche schweben. “Leo nennt so etwas hier Ungebunden. Ich selbst jedoch habe keinen Namen dafür, aber es würde wohl dem Wort Ursprünglichkeit nahekommen. Und wenn ich mich nicht gebunden hätte, wäre ich das noch heute.” Neben dem gelb-weißen Punkt tauchte eine weitere Kugel auf, die zwar wesentlich größer aber dafür farblos und dunkel wirkte.
“Ich traf irgendwann eine andere Wanderseele. Im Gegensatz zu meinen Eltern teilte sich diese nicht vor ihrem ableben, sondern festigte ihren Körper. Sie schenkte der endlosen Weite den Grundstein für eine neue Welt – einen Planeten, wie deine Heimat zum Beispiel.”
“Heißt, ich habe auch auf so einer Wanderseele gelebt? Und wie bist du dann menschlich geworden? Hast du dich auch ... gefestigt?” Gebannt starrte ich auf seine Hand, wo der kleine Stern nun eifrig die grau-schwarze Kugel umrundete. Einfach atemberaubend. Diese Magie könnte ich ewig betrachten.
“Ich vermute es. Meekamahi stammt von deiner Heimat Nepner, sie weiß es mit Sicherheit. Wenn dich das interessiert, kannst du sie ja mal fragen. Und das mit mir ... Aufgrund der hohen Masse stürzte ich auf diese Welt. Ich hatte der starken Anziehungskraft schlicht nichts entgegenzusetzen.” Der Stern stieß mit der Kugel zusammen und kurz leuchtete alles hell auf. Aus den beiden wurde eins. Ein großer schimmernder Ball, der sehr viel Ähnlichkeit mit Del, dem weißen Mond hatte.
“Ich weiß nicht wie viel Zeit verging und wie lange ich versuchte, dort wieder wegzukommen, aber irgendwann tauchte ein riesiges Schiff auf.” Meine Augen weiteten sich. Elian konnte nicht nur Sterne und Planeten aus seinem Licht formen, sondern auch andere Abbildungen. Ich erkannte tatsächlich ein Schiff der Rea und dann sogar Menschen in geschmückten Gewändern. Ich blinzelte und rieb mir ungläubig die Lider. Verrückt, zu was er alles imstande war.
“Da ich unfreiwillig auf der Oberfläche dieser Welt festhing und nicht viel machen konnte, habe ich diese Wesen beobachtet.” Es bildeten sich Umrisse einer Gruppe von maskierten Gestalten, die mit irgendwelchen Dingen – vermutlich Rea-Technik auf der Erde herumliefen. Sie bauten eine Art Haus mit einigen langen Zacken, die weit in den Himmel ragten.
“Damals wusste ich nicht, was sie machten. Leo erklärte es mir einmal, aber ich habe es vergessen. Dieses Konstrukt hat mich jedoch irgendwie angezogen. Kein Vergleich mit der Kraft dieser Welt und doch ähnlich.” Plötzlich verschwanden all die bunten Bilder und es wurde wieder Tag in dem Zimmer. Im ersten Moment kniff ich schützend meine Augen zusammen.
“Entschuldige, aber was danach passierte, muss ich dir nicht unbedingt so zeigen.” Er lächelte etwas zerknirscht und deutete anschließend auf sich selbst. “Du musst nur wissen, dass in dem Tempel dieser Mensch hier geopfert wurde. Nachdem er starb, habe ich mich an seinen leblosen Körper gebunden – die Hülle mit mir beseelt sozusagen.”
Ich runzelte die Stirn. “Also bist du eigentlich tot? Oder dein Körper ist es und gehörte vorher jemand anderem? Ansonsten wärst du noch immer ein Stern? Ein Gott?”
Jetzt sah er mich verwirrt an. “Ich bin doch nicht tot. Ich lebe so wie du auch. Mein Herz schlägt. Ich muss essen, trinken sowie atmen und ich blute, wenn ich mich verletze.” Er seufzte. “Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Du musst verstehen, dass ich damals viel zu jung und schwach war, um aus mir selbst etwas Neues zu machen. Es hätte noch Jahrtausende gebraucht und ich wollte nicht länger auf dieser öden Welt festsitzen. Die Rea gaben mir eine Möglichkeit, mich sofort weiterzuentwickeln – zu wachsen und ich habe es dankbar angenommen. Ich löste den toten Mann auf. Nutzte seine Form als Vorlage und passte meine Essenz Stück für Stück der seinen an. Alles, was ich war, machte ich zu dem, was du jetzt siehst.”
“Ich denke nicht, dass ich das jemals verstehen werde.” Es war einfacher, wenn ich ihn mir weiterhin als Gott vorstellte. Ein Gott, der von den Sternen stammte.
“Erkläre ich es denn so schlecht?” Er legte den Kopf schräg und lachte in sich hinein. “Normalerweise redet Meekamahi mit jedem neuen.”
“Es liegt glaube ich nicht an dir. Ich kann mir das mit den ganzen Sternensachen nur schwer vorstellen. Und auch das mit der Form ... Wer ist überhaupt diese Meeka-mai? Du hast den Namen vorhin auch schon benutzt.”
“Meekamahi ist die Frau von Leo und sie ist auch ein Elementar. Allerdings ist sie unvollkommen oder auch instabil. Was bedeutet, dass sie keinen festen Körper hat. Nicht zu verwechseln mit Ungebunden. Sie ist ja nicht ganz ohne Körper. In deinem Fall allerdings wird damit die fehlende Kontrolle über deine Fähigkeit gemeint. Und Fähigkeit ist auch Essenz oder bei dir ganz schlicht Eis. Und? War das jetzt besser erklärt?”
“Ich verstehe es, Eli ...”, säuselte Suciu leise, während mir der Kopf schwirrte. Nachdenklich blickte ich auf meine Hände. Auf meine Fesseln. So kam ich irgendwie nicht weiter. Wieso war ein Elementar die Frau eines Rea-Monsters? Wieso spielten die beiden ein Spiel um mich? Mir fehlte nach wie vor der Zusammenhang. Und eine winzige Möglichkeit bestand ja immer noch, dass er mich anlog.
“Elian?” Ich sah zweifelnd zu ihm auf. “Können wir vielleicht darüber reden, was das alles mit mir zu tun hat? Warum bin ich hier und warum lässt man mich nicht gehen? Du scheinst die Rea zu mögen und Leo ist auch nett zu dir, aber das gilt nicht für mich. Ich werde behandelt wie ein minderwertiger Sklave ohne Rechte. Er verletzt mich ununterbrochen und macht sich lustig darüber. Ich verstehe nur nicht wieso. Zudem habe ich gesehen, wie er mit Hendrick gekämpft hat, und Reznick sagte auch, dass seine grausigen Narben von seinem Vater stammen.”
“Was du aufführst, hat unterschiedliche Gründe. Und du liegst falsch, wenn du glaubst, dass ich die Rea mag.” Er schloss kurz die Augen und atmete einmal tief durch. “Ich war eine unendlich lange Zeit ein Sklave in ihren höchsten Reihen. Zuerst fand ich es nicht schlimm. Alles war als Mensch neu und aufregend für mich. Ich sah und lernte viel. Irgendwann jedoch fingen die Bestrafungen an, wenn ich mich nicht so verhielt, wie ich es sollte. Ich lief oft weg und erhielt dafür Schmerzen. Bei meiner letzten Flucht verlor ich schließlich mein Bein.”
“Aber kannst du dir nicht einfach einen neuen Körper machen? Oder als Stern in die Nacht verschwinden? Zerian hat das immerhin auch mit seinem Wasser gekonnt. Also darin verschwinden ...”
“Nein. Es ist nicht umkehrbar. Wenn sich eine Seele für einen Weg entscheidet, dann ist dieser endgültig. Einige geben neues Leben, andere werden zu Welten. Ich entschied mich dazu, ein Mensch zu werden, und so bin ich einer. Wenn mein Herz aufhört zu schlagen, sterbe ich wie jeder andere auch. Dass sich Zerian noch in Wasser lösen konnte, lag vermutlich daran, dass er gerade im Begriff war sich zu wandeln. Ich bezweifle, dass er seinen Körper jetzt noch in Wasser wechseln kann. Lenken ja, aber nicht darin verschwinden.” Ein Lichtfaden schlängelte aus Elians Schulter, flog eine Runde um ihn herum und verschwand schließlich wieder.
“Auch ich habe nach wie vor mein Licht. Das hat was mit der übriggebliebenen Essenz zu tun. Aber ich schweife schon wieder ab. Du bist hier, weil alle Rea uns als Nahrung betrachten. Also nicht alle! Leo nicht!” Er lächelte entschuldigend. “Er wird uns nicht verschlingen oder in unsere Bestandteile zerlegen. Wir sind hier sicher, verstehst du?”
Ich verengte die Augen. “Sicher bin ich hier keineswegs! Und warum sollten die Rea einen essen wollen? Das ist doch absurd. Bei mir hat das jedenfalls keiner versucht. Ich musste zur Belustigung der Rea einen Adeligen heiraten und mit ihm schlafen. In der Wasserstadt hat dann einer von ihnen Zerian gequält und mich für was-auch-immer behalten wollen. Und hier? Dieser Leo ist genauso schlimm wie alle anderen auch. Außerdem erklärt nichts von deinen Worten das mit seinen Söhnen. Wieso ist er nur zu dir so seltsam freundlich? Das ergibt überhaupt keinen Sinn.”
“Das ist nicht wahr. Leo ist natürlich immer noch ein Rea. Das schon. Er spielt, ist roh und herrisch, aber ... Nun ...” Er seufzte schwer. “Es gab viele Leute und Bedienstete hier, die uns schaden wollten. Selbst etliche der befreiten Elementare standen noch unter dem Einfluss ihrer alten Meister, verstehst du? Ich rede von Verrat! Es passierten Unfälle. Die befreiten landeten schließlich wieder bei den Rea. Nur noch ich und Suciu sind übriggeblieben. Leo ist seit damals viel vorsichtiger geworden. Daher gibt es hier auch nur Puppen auf dem Schiff. Und warum er dich so grob behandelt rührt sicherlich auch dadurch. Er traut dir nicht. Du bist zudem instabil und hast deine Fähigkeit nicht im Griff. Du hättest mich töten können.”
“Wozu dann das Spiel?”
“Hm?”
“Das Spiel! Er spielt mit seiner Frau, hat er mir gesagt! Das allumfassende Rea-Ding, wo ich auch dran teilgenommen habe. Wenn er mich angeblich nur retten wollte, wieso hat er das nicht gleich am Anfang gemacht? Wieso hat Reznick nichts davon gewusst? Du versuchst, diesen Mann hier als den Guten hinzustellen, aber das glaube ich dir nicht. Dafür passt einfach nichts zusammen!” Nein absolut nicht. Das Verhalten des Monsters war für eine Täuschung zu echt gewesen. Ihm hatte es deutlich Spaß gemacht, mich zu ängstigen und zu quälen. Selbst Reznick hatte allein bei der Erwähnung seines Vaters so viel Hass gezeigt. Mich vor ihm gewarnt – wozu das alles, wenn es doch nur gespielt war?
Elian hob beschwichtigend die Hände. “Bitte versteh doch, Dezeria, es geht nicht anders. Ein Spiel kann nicht so leicht unterbrochen werden. Leo gehört immerhin noch zum System. Er ist mit allen Reas verbunden, kann jedoch selbst entscheiden, wann sie durch seine Augen sehen können und wann nicht. So ganz habe ich das nie verstanden, aber ich weiß, dass er uns beschützt.”
“Und wer beschützt mich vor ihm!?” Das Thema machte mich unglaublich wütend. “Es hätte sicherlich unzählige andere Möglichkeiten gegeben, als mich so zu behandeln! Er hat versucht, mich umzubringen oder so getan als ob! Das ist alles andere als lustig!”
“Es tut mir leid. Ich bin vermutlich der falsche Ansprechpartner dafür. Wenn Meekamahi wieder hier ist, wird sie dich sicherlich richtig aufklären können ... Bitte, Dezeria, ich will mich nicht mit dir streiten, in Ordnung? Lass uns doch lieber etwas anderes machen, ja? Wie zum Beispiel ... Hm, genau! Deine Haare! Ich könnte sie kämmen, was hältst du davon?”
Ich blinzelte irritiert. “Meine Haare?”
“Ja.” Er lächelte liebevoll. “Die von Suciu flechte ich auch immer und sie freut sich sehr darüber. Vielleicht du ja auch?”
“Ich weiß nicht so recht ...” Vernünftige Antworten wären mir eigentlich lieber.
“Keine Angst, ich kann das gut! Es wird dir sicherlich gefallen. Ich hol mal eben– AHHHH!” Elian erhob sich schwungvoll, kippte aber sofort unkontrolliert zur Seite weg. Sein Versuch, den Sturz mit den Händen am Tisch abzufangen, scheiterte. Die dünne Tischdecke rutschte weg und er knallte lautstark mit dem Kopf gegen die Kante – landete bewusstlos auf dem Boden. Das Licht ging aus. Geschockt über das gerade Geschehene starrte ich einige Sekunden in die Dunkelheit, bevor mein Verstand endlich reagierte.
“O Gott, Elian?!” Ich rutschte hastig vom Sofa und tastete nach ihm.
“Eli? Eli?! Was ist mit ihm? Bitte tu ihm nichts!”, rief von irgendwo Suciu und dann hörte ich nur noch Schluchzgeräusche. Weinte sie etwa?
<Schutzperson verletzt>, ertönte plötzlich eine fremdartige blecherne Stimme und ließ mich erschrocken zusammenfahren. Das kam eindeutig nicht von Suciu. Es klang viel deutlicher und vor allem – bedrohlicher.
“W-wer ist da?”, fragte ich nervös und zog Elian behutsam zu mir – weg von diesem Zischen und dem unheimlichen roten Licht, das sich ein paar Meter vor uns gebildet hatte. Was war das nur? Sonst gab es hier doch nichts, oder?
Ich schluckte. Ein ungutes Gefühl breitete sich in meinem Innern aus. Kam das nicht genau aus der Ecke, wo das Monster diese Waffe hingestellt hatte? War es das? O Gott! Wird mich das Ding jetzt bestrafen?