Ich schaffte es dann doch tatsächlich auf den See hinaus. Weiter. Immer weiter, bis ich gefühlt die Mitte erreicht hatte. In der Ferne sah ich vereinzelte Lichter laufen – fast schon lieblich tanzen. Möglich, dass sie mich bereits gesehen hatten und ebenso Boote zu Wasser ließen, aber das war nicht schlimm. Nein. Der weiße Mond über mir spendete Trost. Ja, ließ mich sogar lächeln, als ich das raue Seil fest um eins meiner Fußgelenke knotete. Es ging dabei so schwer, dass ich mit den Zähnen nachhelfen musste. Meine zitternden und völlig taub anfühlenden Finger waren zu nichts mehr zu gebrauchen.
Als ich mir sicher sein konnte, dass der Knoten hielt, hob ich erleichtert den Kopf. Mein Lächeln blieb, als ich Del, den hellen Trabant unserer Welt betrachtete. Ich musste wehmütig daran zurückdenken, wie mir meine Mutter immer so verträumt berichtete, dass Vater ihr einst bei diesem Schein einen romantischen Antrag gemacht hatte. Sie erzählte mir auch, dass die Frauen unserer Familie immer im Wechsel der Monde heirateten. Meine Hochzeit würde also irgendwann im Licht des blauen Cors sein – ganz dem Gebot von Zerian folgend. Ja, meine Mutter war diesbezüglich immer sehr gläubig gewesen und sie wäre gewiss auch nicht mit meinem Weg einverstanden. Aber irgendwie ist es auch passend, oder? Ich wurde in einer weißen kalten Nacht geboren und in einer solchen würde ich jetzt auch gehen.
Ich blickte von Del ab und griff steif nach dem kleinen Anker, der zwar nicht schwer war, aber für mich ausreichend sein würde. Ich drückte das Metall fest an meine Brust und zwang jede Luft aus meinen Lungen, bevor ich sprang. Ich wollte still und friedlich von dieser Welt gehen. Wählte Ertrinken, da ich zu feige war, es irgendwie anders zu machen. Ich fürchtete mich vor einem Messerstich und die Schmerzen, welche damit einhergingen. Wünschte mir dieses ruhige nasse Grab. Ja, der Geist des Wassers, der Gott der Monde konnte meine Seele haben.
ABER– was zur Hölle?! Das ist ganz und gar nicht friedlich! Das eisige Wasser umschloss blitzschnell meinen Körper und verpasste mir gefühlt unzählige heftige Schläge. Ich erlitt einen richtigen Schock durch die Kälte. Automatisch ließ ich den Anker los und versuchte zu atmen – Angst und Panik schoss in meinen Leib und zwang mich zurück an die Oberfläche. Ließ meine Hände hektisch nach dem Boot greifen, welches sich verschwommen in den Wellen abzeichnete.
Ich schrie. Wollte es, aber kein Ton kam heraus. Nur glühendes Brennen erfüllte meine Lungen. Ein Gefühl, als wollten sie gleich platzen – vor Kälte, vor Schmerz, vor Sauerstoffmangel. Es war die reinste Folter. Doch egal, wie sehr meine Gliedmaßen strampelten und nach oben wollten, so zog mich das Gewicht an meinem Bein unbarmherzig in die Tiefe. Mein Todeskampf dauerte – viel länger, als ich es je für möglich gehalten hätte. Ein seltsames wirres Raunen erklang. Der Wasserdruck schien meinem Verstand den Rest zu geben – und dann war es endlich vorbei.
*
Sterben hatte ich mir definitiv anders vorgestellt. Den Tod auch. Irgendwie endgültig eben. Dass ich noch denken konnte, war seltsam, aber der Verlust von Schmerz und Kälte unglaublich schön. Ich war einfach nur glücklich darüber.
“Hier! Ich hab sie!”, hörte ich plötzlich eine mir unbekannte Stimme und spürte als Nächstes eine kräftige Berührung. Ich öffnete verwirrt meine Augen und erblickte jemanden, der mich grob am Arm hinauf zerrte. Wieso lebte ich noch? Mehr Lichter eilten herbei und weitere Hände halfen mir auf.
“Was ist passiert?”
“Du liebe Güte, wie sieht denn das Kind aus?”
“Holt Decken! Sie ist klitschnass und fühlt sich auch ganz kalt an!”
“Geht es dir gut?”
“Wo sind deine Entführter?”
“Bist du verletzt–”
Ich blendete die Stimmen aus. Starrte nur teilnahmslos in die Gesichter und ließ mich von ihnen mitziehen. Was ist nur passiert? Ich erkannte grob, dass ich mich am Ufer des Sees befand. Ich bin doch gerade ertrunken, oder? Sollte tot sein. Wie ist das hier jetzt möglich? Bin ich in der Hölle gelandet? Hände zogen mich indes unablässig weiter – Schritt für Schritt. Meine Verletzung am Fuß schien auch gänzlich fort zu sein. Ich verstand es nicht. Ich war noch immer hier – wahrhaftig. Mein Verstand realisierte es nach und nach.
“... Schock!”, hörte ich es dumpf klingend.
“Holt den Grafen!”, sprach eine weitere Stimme dann allerdings wieder sehr deutlich.
“Nein!”, rief ich panisch in die Menschenmenge und stemmte mich gegen jene, die mich stützten.
“Haltet sie fest!”
“Passt doch auf sie auf!”
“Hilfe!”, rief ich laut dazwischen, da ich mich nicht befreien konnte, die Griffe an meinen Armen waren einfach zu stark.
“Was ist denn hier los?”, sprach es dann hart und durchdringend. Ich hörte prompt auf zu zappeln und blickte in das markante Gesicht des Sektorands. Hellkus musterte mich sichtlich verstimmt und sah als Nächstes streng zu den Männern an meiner Seite. “Wie sieht sie den aus?! Ich hoffe für euch, keiner hat sie unsittlich berührt!” “Natürlich nicht! Wir haben sie so vorgefunden, nur sie wehrt sich vehement! Vermutlich ist sie verrückt geworden”, erwiderte der Typ zu meiner Rechten, was definitiv meinen Zorn entfachte.
“Von wegen!”, schimpfte ich und versuchte erneut mich loszureißen. “Lasst mich! Ich bin nicht verrückt!”, schrie ich schrill weiter und stand dann augenblicklich frei. “Dezeria, beruhigt Euch”, sprach Hellkus und ließ sich auf einen Wink hin eine graue Decke zu reichen. “Kommt, ich bringe Euch nach Hause.” Was?! Meine Augen schienen vor Wut brennen zu wollen. “Ich habe kein ZUHAUSE MEHR!”, fuhr ich ihn brüllend an, was seine Miene ausdruckslos werden ließ. “Ganz offensichtlich ein Schock der Entführung”, sprach er monoton und trat auf mich zu. Hände legten sich auf meine Schultern und zwangen mich, an Ort und Stelle zu verharren. “SCHOCK?! Ich wurde vom Grafen gegen meinen Willen festgehalten! Er tötete meine Eltern!”, schrie ich, was Hellkus nicht kümmerte. Er legte nur den Stoff seufzend um meine bebenden Schultern, ehe er sagte: “Dezeria, deine Eltern starben bei einem Brand und jetzt kommt, der Graf wartet.” Ungläubig und mit Tränen in den Augen starrte ich ihn an. Fassungslos. Versteht er überhaupt, was ich sage?
“Ich will aber nicht zu diesem Monster!”, hielt ich dagegen, aber das ließ ihn kalt. Allerdings begann nun leichtes Tuscheln unter den Anwesenden, worauf Hellkus seine Hand hob und alle sofort zum Schweigen brachte. “Die Verlobte des Grafen Van Rotterval spricht wirr, was in Anbetracht ihrer Verfassung nicht verwunderlich sein sollte”, sprach er in die Menge und drehte sich sogleich herum. “In die Kutsche mit ihr!”, befahl er weiter und ging voran.
Starke Hände schoben mich unerbittlich vorwärts. Griffen erneut bezwingend um meine Arme, als meine Füße vor Angst den Dienst verweigerten. Ich konnte mich nicht einmal auf die Knie fallen lassen, um das Ganze noch irgendwie hinauszuzögern. Ja, jeder Protest meinerseits wurde von den Leuten ignoriert. Da konnte ich schreien und zerren wie ich wollte. Letztlich hievten sie mich in die vorfahrende Kutsche. Das kann doch alles nicht wahr sein!
Da saß ich nun. Auf weichen, edel bestickten Polstern, die ich so matschig und durchnässt sicherlich ruinieren würde. Es gab mir eine gewisse Genugtuung, da diese protzige Kiste nur Ludwig gehören konnte. Hellkus nahm gegenüber von mir Platz und signalisierte dem Kutscher mit einem kräftigen Klopfen loszufahren. Ich starrte ihn an. Böse. So giftig, wie ich nur irgendwie konnte, auch wenn ich wusste, dass dies sinnlos war.
“Wie kannst du das nur zulassen?!”, fuhr ich ihn nach einer Weile an, denn er war einst der Freund meines Vaters gewesen. Nie hätte ich gedacht, dass er bei solchem finsteren Treiben je mitmachen würde. Er hob daraufhin eine Augenbraue und neigte leicht den Kopf. “Wie kann ich, was?”, fragte er und noch bevor ich antworten konnte, sprach er schon weiter: “Du unterschätzt das Ausmaß der Dinge oder hielt Elisabeth dich gänzlich ohne das Wissen um die Machtverhältnisse?” Ich stutzte. Was war das denn für eine Antwort auf meine Frage? Meine Mutter unterrichtete mich liebevoll und nachsichtig in allem, was sie wusste. Sie war eine sehr gute Lehrerin gewesen.
“Dieser Ludwig ließ meine Eltern ermorden! Ich weiß es! Im Feuer ließ er sie ELENDIG VERBRENNEN!” “Mag sein”, erwiderte er vollkommen teilnahmslos, was mir die Kehle zuschnürte. Mag sein? MAG SEIN!? Was ist das für eine Äußerung auf ein derartiges Verbrechen? Ich kann noch immer ihre schrecklichen Schreie hören. Tränen kullerten über mein Gesicht. Sich daran zu erinnern tat so verdammt weh.
“Versteh mich nicht falsch, ich habe getrauert, aber das alles war nun mal unvermeidbar.” “W-wie u-unvermeidbar?”, echote ich schluchzend. Hellkus seufzte einmal und strich sich durchs kurze Haar. “Deine Mutter stand schon länger wegen ihrer Blasphemie unter Beobachtung. Auch Robert mit seiner Bäckerei. Ich habe ihn gebeten, dies nicht vollbeschäftigt fortzuführen. Er wollte nicht hören. Baute sein Hobby sogar soweit aus, dass er autark arbeiten konnte. Wirtschaftliche Unabhängigkeit verbieten aber die Auflagen der Rea und das hat er auch gewusst. So gesehen ist es letztlich seine eigene Schuld gewesen. Die Rea haben seinen Tod beschlossen und der Graf folgte diesem Befehl.”
Ich verstand das nicht und sah ihn fragend an. “Vater hat nur seine Arbeitsabläufe perfektioniert, das tat er ständig! Und wieso sollte man Mama beobachten?” Frustriertes Seufzen erklang und dann zog plötzlich Zorn in sein Gesicht. “Es wäre vermutlich sinnvoller gewesen, dich ihnen gleich nach der Geburt wegzunehmen. Du bist genau so verblendet wie deine Mutter! Was Robert an diesem irren Weib je fand, konnte ich nie nachvollziehen! Sie war eine Hexe und hätte auf den Scheiterhaufen gehört, wie alle anderen vor ihr!”
Verwirrt sah ich ihn an. Seine Worte waren so voller Hass, dass ich ihn nicht wiedererkannte. Wie redet er denn über meine Mutter? Und was bedeutet Hexe und Scheiterhaufen? Mein unwissender Blick schien ihn nur noch wütender zu machen.
“Deinen einfältigen Gesichtsausdruck müsstest du jetzt mal sehen. Du wirst doch nicht so dumm sein und auch diesen ganzen Unsinn der Monde – diesem Hokuspokus glauben schenken? Das vergiss mal schnell wieder. Bislang war eine derartige öffentliche Zurschaustellung und Einschüchterung der Bewohner hier in Rotterval nicht nötig. Sei aber versichert, dass Franka in Halvigaw nach eurer Abreise auf einem hölzernen Podest für alle gut sichtbar gebrannt hat.” Ich schluckte an dem erstickenden Kloß in meiner Kehle. “M-meine Großmutter ist verbrannt worden?”