Wir ritten geschwind auf den schmalen Trampelpfaden, welche sich über die Jahre von den Feldarbeitern auf dem Weg zum Acker gefestigt hatten. Ludwig hatte mal verboten, diese Gehwege auszubauen – er wollte nun mal, dass man die normalen Straßen nutzte. Viele nahmen dennoch lieber diese Strecke am Waldrand als den längeren Umweg über die befestigte Hauptstraße. Ja ... die Hauptstraße, welche auch wir unbedingt meiden mussten. Es gab nämlich eine große Kreuzung, wo eine Straße direkt zum Anwesen des Grafen führte. Wenn sie nach mir suchten, würden sie also garantiert diesen Weg nutzen! Ja, als ich vor ein paar Tagen die Stadt zu Fuß verließ ... hatten sie mich auch auf der Hauptstraße eingefangen. Zu meiner Verteidigung – ich wusste damals auch nicht, dass der Graf mich einfach als sein Eigentum ansah und am helllichten Tage verschleppen würde. Gut, ich war auch ganz schön naiv gewesen. Hier war es sicherer. Hannes dachte wirklich an alles. Er war nicht so kopflos und dumm wie ich ...
Natürlich hatte diese Strecke hier auch seine Nachteile. Von den regelmäßigen Regenfällen war die Straße matschig und immer mal wieder von tiefen Pfützen durchzogen. Es war ein gefährlicherer Weg – wir mussten aufpassen, dass die Pferde nicht stürzten, ausrutschten oder uns anderweitig abwarfen. Ich hatte dabei wohl sichtlich mehr Mühe als er. Er drosselte in den Kurven kaum sein Tempo – ja, er bremste nicht einmal, als es eine echt steile Schräge hinunter ging ... während ich fast mit Schrittgeschwindigkeit hinunter trabte. Gott, er hatte sicherlich nicht solche Schmerzen im Unterleib wie ich!
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Ein frischer, eisiger Wind wehte mir erneut die Kapuze vom Kopf, als ich wieder schneller ritt, um Hannes einzuholen. Mittlerweile hatte ich keine Angst mehr, gesehen zu werden. Die Bauern auf dem Feld waren ganz mit dem Umpflügen der Erde beschäftigt und schenkten uns keinerlei Beachtung. Nja, jedenfalls bis zu dem Augenblick, als Hannes einfach querfeldein über den Acker ritt. Ich hörte, wie sie ihm hinterher brüllten – schimpften. Ich war kurz verunsichert, trieb mein Pferd dann aber doch an, genau denselben Weg zu nehmen. O Bitte, lass dies keinen Fehler sein ...
“Hannes!”, rief ich und presste meine schmerzenden Oberschenkel zusammen, um nicht doch noch vom Rücken meines Tieres zu fallen. Ich war lange nicht mehr auf einem Pferd geritten und dementsprechend fühlten sich meine sämtlichen Muskeln mittlerweile wie Pudding an. “Hannes!”, brüllte ich erneut gegen den Wind, ehe mir bewusst wurde, dass seinen Namen so laut zu rufen denkbar ungünstig war ... aber, verflucht! Wieso wartete er denn nicht und musste hier so viel Aufsehen erregen?!
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Gott, endlich wurde der Kerl mal langsamer, als er sich dem kleinen Bewässerungsgraben näherte. Ich dachte schon, er würde dort im vollen Galopp nun auch noch drüber springen! Ich hätte dies definitiv nicht gekonnt ... Der Fluss Sival wurde hier in regelmäßigen Abständen angegraben und umgeleitet, damit die Leute das Wasser nicht so weit schleppen mussten. Wie künstliche Nebenflüsse so gesehen. Es gab zwar hin und wieder kleine Übergänge, aber diese waren mehr einfache Holzlatten als wirklich feste Brücken. Ich bezweifelte, dass ich mit meinem Pferd heil über sowas gehen konnte.
“Bei den Monden, Hannes! Was sollte das denn? Die Leute werden sicherlich Hellkus informieren!”, schimpfte ich keuchend, als ich ihn soweit eingeholt hatte und ebenso anhielt. “Ja”, sprach er und sprang hurtig von seinem Pferd, “aber bis sie diesen Bastard erreichen, sind wir längst fort, Dezeria. Mach dir darüber keine Gedanken.” Das sagte er so leicht ... in mir stieg die Angst, erwischt zu werden, von Minute zu Minute! “Wichtig ist jetzt nur noch, dass wir vor Anbruch der Dunkelheit das ganze Gebiet hinter uns lassen”, sprach er entschlossen und führte seinen schwarzen Hengst konzentriert über einen wackeligen alten Holzsteg.
Hm ... auch diese Worte sagte er ohne einen Anflug von Zweifel. Ich jedoch hatte Zweifel – sehr große sogar. Woher nahm er nur diese Zuversicht? “Glaubst du, wir schaffen es wirklich an den Wachen am Tor vorbei?”, fragte ich besorgt, auch wenn mir dies im selben Moment dumm vorkam. Ich glaubte unterbewusst nicht an eine Flucht – nicht ernsthaft zumindest. Ja, ich lief weg und wollte frei sein, aber mir war klar, dass sie mich wieder einfangen würden – bestrafen würden. Ludwig hatte sicherlich schon längst einen Boten zum Handelsdurchgang geschickt. Das Eisentor würden wir nie aufkriegen – ein Durchreiten war somit unmöglich. Wir waren längst gefangen ... wir waren verloren! Bei Zerian, was tat ich hier eigentlich? Der Graf war einfach zu mächtig! Ich konnte schon förmlich die Peitschenhiebe auf meinem Rücken spüren ...
“Dezeria?!” Hannes Stimme holte mich sofort aus meinen düsteren Gedanken. Ich blickte auf und sah, dass er bereits auf der anderen Seite des Bachlaufs war. “Entschuldige ... i-ich komme!”, erwiderte ich und versuchte meine schmerzenden Beine zu bewegen, um ebenso abzusteigen. “Das meinte ich nicht, aber bleib sitzen. Ich hole dich”, sprach er und band sein Pferd schnell an einen morschen Holzpfahl. “Du hast mir zwar eine Frage gestellt, aber mir dann nicht einmal mehr zugehört. Du warst in Gedanken, nicht wahr? Du hast Angst, aber die brauchst du nicht haben. Ich werde uns von hier fortbringen”, sprach er mit einem Lächeln und nahm mir die Zügel aus der Hand, um nun mein Pferd über diese kleine Brücke zu führen.
“Warum bist du dir da so sicher ... hast du etwa einen Handelsschein?”, fragte ich verunsichert, denn dies hatte ich noch gar nicht in Betracht gezogen. Wir könnten uns als zwei Kaufleute ausgeben. Mit meinem Mantel und der Kleidung könnte es gehen – na ja, obwohl ... mir dürfte keiner ins Gesicht sehen. Ach was dachte ich da?! Ich würde sicherlich auffallen! Nur ein Blinder würde mich ernsthaft für einen Mann halten ...
“Nein. Dies konnte ich so schnell nicht auch noch besorgen, Dezeria. Vertrau mir einfach, ja?” Gott, ich würde ja gerne ... würde ich wirklich! Aber, alles in mir sträubte sich ... meine Hände begannen sogar zu zittern. “Gut, ich seh schon, mein Wort reicht dir nicht aus”, sprach er und führte mein widerspenstiges Pferd sicher über den Flusslauf, ehe er bei seinem in einer der Satteltaschen kramte. “Siehst du das hier? Damit bring ich uns durch das Tor.” “Hm? Was ist das?”, fragte ich verwirrt, als er sowas wie ein silbernes, längliches Metallstück in die Luft hielt. “Ein Werkzeug?” “Nein. Das ist ein Revolver. Es ist eine Waffe aus Halvigaw. Sowas wie Pfeil und Bogen, nur besser!” Er steckte es wieder ein und stieg auf. “Mein Freund hat sie mir hergestellt und jetzt komm.” Dann preschte er auch schon los, während ich noch überrascht und verwirrt war, dass er eine Waffe dabei hatte. Ich kannte dieses “Revolver” nicht. Wie ein Messer hatte es mir nicht den Anschein gemacht. Zu stumpf waren die Enden dafür und Pfeil und Bogen? Dies konnte ich mir noch viel weniger vorstellen. Wollte er es etwa werfen? Ich war skeptisch, wie uns das weiterbringen konnte – er jedoch schien davon voll und ganz überzeugt. Gut, ich folgte ihm. Musste ihm in dieser Hinsicht wohl oder übel vertrauen ... was gab es schon für Alternativen? Wenn wir es wirklich schaffen konnten – wenn er so sehr daran glaubte, so wollte ich es auch versuchen. O bitte lieber Gott! Bitte lass alles gut werden!
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Nachdem wir noch einmal quer über die Felder galoppierten, erreichten wir schließlich eine Brücke, die uns auf die Hauptstraße führte. Was auch meine Angst wieder stärker in den Vordergrund rückte. Hannes ritt mit mir gleich auf und erklärte, was ich zu tun hatte, wenn wir gleich das Tor erreichten. Eigentlich war meine Aufgabe recht simpel – ruhig bleiben und darauf achten, dass mein Pferd nicht panisch wurde. Ich sollte auf sein Zeichen hin, einfach durchreiten. Irgendwie empfand ich diese Anweisung etwas albern. Wieso sagte er mir nicht, was er genau vorhatte?
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Oje, ich konnte die Mauer schon gut von weitem sehen ... ein imposantes schwarzes Steingebilde, welches mich unweigerlich einschüchterte. Früher als Kinder hatten wir im Wald oft versucht, diese zu überwinden. Wir waren auf Bäume geklettert – so hoch, wie uns die Äste tragen konnten. Ein Blick über die Mauer hatten wir dabei allerdings nie geschafft ...
“Halte dich bereit! Bleib etwas abseits. Achte auf dein Pferd! Es darf bei einem Knall nicht durchdrehen oder mit dir in die falsche Richtung davon stürmen”, sprach Hannes eindringlich und brachte einen größeren Abstand zwischen uns. Ich atmete einmal tief durch und sah ihm besorgt hinterher. Das Eisengatter war bereits unten, dies hatte ich ja befürchtet ... und nu? Er wollte jetzt die Wachen da vorne überzeugen, uns durchzulassen? Sie mit dieser komischen Waffe vielleicht sogar dazu zwingen? Sie kamen ihm auf jeden Fall entgegen, als er sich näherte – signalisierten, dass er anhalten sollte. O Gott! Ich betete ... betete die Monde an, flehte Zerian an ... hoffentlich passiert ihm nichts.
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Wie Hannes es vorhergesagt hatte, ertönte wenig später ein lauter Knall. Ein solch ohrenbetäubendes Geräusch, welches mich mindestens genauso fürchterlich erschreckte wie mein Pferd. Ein zweites peng folgte und nun hatte er auch recht behalten, dass mein Tier durchdrehen würde. Es riss herum und galoppierte zurück! “Hoo! Halt! Nein!”, schrie ich und versuchte die Kontrolle zurückzuerlangen. Als ich es nach einer gefühlten Ewigkeit dann endlich schaffte, raste plötzlich Hannes Hengst an mir vorbei ... Hm? Ohne ihn?! Ich reagierte schnell und eilte hinterher. Versuchte es mit meinem Pferd einzuholen und abzudrängen – es irgendwie zum Anhalten zu bewegen. Wir brauchten die Pferde, dies hatte er mir deutlich gemacht. Zu Fuß würde es nach Halvigaw gute fünf Tage dauern!
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Das Pferd letztlich einzufangen, hatte mir sämtliche Kraft geraubt. Ich musste soweit reiten, sodass ich das Tor schon gar nicht mehr sehen konnte. Auch hatte ich zwischenzeitlich noch weitere Knalllaute vernommen. Mist! Schnell band ich den Hengst an mein Sattelhorn und ritt zurück. Angst herrschte nur noch in meinem Körper und der Gedanke, dass Hannes von den Wachen überwältigt worden war, weil ich zu lange gebraucht hatte. O Gott! Was, wenn sie ihn gerade verprügelten? Folterten? Töteten?! Nur meinetwegen ...
Meine Augen weiteten sich aber ungläubig, als ich ihn freudig winkend mitten auf der Straße stehen sah. Das Eisentor war offen. Wie ... wie hatte er das nur geschafft? Als ich näher kam, sah ich mehrere Männer bewegungslos am Boden liegen. Ich sah Blut – unweigerlich wurde mir schlecht.
“Ah super! Du konntest ihn einfangen”, sprach Hannes und lief mir lächelnd entgegen. “Der hat mich einfach abgeworfen, blöder Gaul!”, hörte ich ihn noch, aber mein Blick klebte förmlich auf dem vielen Blut. Sie waren tot! Kein Zweifel. “Hm? Hey, Dezeria?” Eine streichelnde Berührung auf meinem Bein riss mein Augenmerk letztlich von den Leichen. “Sieh nicht hin, es ist alles gut. Komm, wir verschwinden.” Ich nickte zögerlich, aber mein Unwohlsein blieb. Gott, es waren Menschen gestorben!
“Los jetzt!”, rief Hannes bestimmender, was mich zusammenzucken ließ. “J-ja”, erwiderte ich eingeschüchtert und preschte los, folgte ihm verunsichert durch das Steintor. Der dunkle Gang unter den gewölbten schwarzen Massen fühlte sich beklemmend – richtig erdrückend an. Meine Gedanken kreisten um die Toten ... ich konnte es irgendwie nicht abschütteln. Hätte ich dies auch gekonnt? War dies der Preis für meine Freiheit?
Als der lange schwarze Tunnel endlich in ein helles Licht überging, legte sich wenigstens etwas meine Schwermütigkeit. Ich atmete tief durch und versuchte, dies alles hinter mir zu lassen. Den Tod meiner Eltern, den Grafen, meine Hochzeit, der Sex – versuchte mein ganzes altes Leben zurückzulassen. Versuchte es wirklich ... es klappte allerdings nur bedingt ...
“Sieh mal Dezeria, wunderschön nicht wahr?” Ich sah auf und blickte zur Seite, wohin Hannes deutete. Wow! Ich sah Wasser! Jede Menge! Der Sival, welcher neben uns floss, verbreitete sich und wurde zu einer unendlichen Fläche aus Blau ... schier atemberaubend! Dieser Anblick half meinem betrübten Herz, ja, ich lächelte sogar. Noch nie hatte ich sowas Vergleichbares gesehen. Noch nie war ich jemals zuvor außerhalb von Rotterval gewesen, nicht so wie Hannes, der mal zwei Jahre lang umher gereist war. Gott ... sowas hätte ich nicht einmal zu Träumen gewagt – was hatte ich nur verpasst?
[Lieben Dank wieder mal an Darklover ❤️]