❅Zerians Sicht❅
Es war zu spät. Ich sah, wie Dezeria Eis herbeirufen konnte – wie sie damit einen der anderen Menschen festsetzte. Sie bestätigte mir auf diese Weise unweigerlich, was ich schon die ganze Zeit befürchtet hatte. Ojee, was hatte ich nur getan?
“Eine Hexe!” “Eine echte Hexe!”, hörte ich die anderen Männer sofort panisch rufen und mit ihren Pferden einen größeren Abstand zu ihr einnehmen. “Lass mich sofort frei, du teuflisches Weibsbild!”, zischte auch dieser halb eingefrorenen Typ, aber Dezeria schien dies nicht zu kümmern. Wobei, vielmehr hatte sie wohl selbst Probleme, weil ihre Hände sich nicht vom Eis lösten und sie an ihm festklebte. Sie hatte also noch nicht ganz die Kontrolle über mein Eis erlangt, vielleicht konnte ich es also noch irgendwie rückgängig machen? Und wenn ja, wie? Wie nur?
Ich überlegte, ohne auf etwas Hilfreiches zu kommen, und beobachtete dann weiter die Situation aus dem Verborgenen. Ich bezweifelte allerdings, dass sich mein Problem – mein Fehler – dadurch von alleine lösen würde. Aber immerhin hatte Dezeria es nun geschafft, sich von dem Eis zu befreien, und rannte ... in die falsche Richtung. Warum? Sie entfernte sich von ihrem Zuhause. Das war nicht gut. Sie sollte doch eigentlich nur nach Hause – an ihren Platz. Sie musste an den Ort, wo sie hingehörte. So war es doch für jeden vorherbestimmt. Dann war auch wieder alles gut. Genau, denn alles hatte seine Ordnung. Alles musste exakt dort sein, wo es sein sollte und dadurch wäre auch mein Fehler behoben. Alles wäre wieder so, wie es war.
Aber nein, Dezeria lief weiter fort und wurde jetzt auch stärker von den übrigen Männern verfolgt. Ich hörte Geschrei und wusste nicht so recht, was ich machen sollte. Eigentlich gehörten die Menschen doch zusammen, oder nicht? Sie wohnten in diesen abgesteckten Bereichen und ließen kleine Pfade für Waren untereinander offen. Ich hatte es oft beobachtet. Unzählige Male. Ich verstand auch den Sinn dahinter, aber ein jeder dieser umherziehenden Menschen kehrte immer wieder zu seinem Ursprung zurück. Zu seinem Zuhause. Warum also Dezeria nicht?
Hatte ich etwa schon wieder einen Fehler gemacht? Konnte ich denn gar nichts richtig machen? Offensichtlich nicht. Einer der Männer verpasste ihr gerade beim Vorbeireiten einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf, wodurch sie stürzte und das Schlimmste war, dass ich es fühlen konnte. Es schmerzte. Es tat mir weh, wie so vieles in letzter Zeit. Das war neu. Das war seltsam. Das war nicht so, wie es sein sollte. Aber noch ehe ich es richtig realisierte, hatte ich längst aus Wasser einen festen Körper gebildet. Nicht gut. Ich mischte mich schon wieder ein, dabei solle ich dies doch nicht. Das war nicht meine Aufgabe. Ich hatte mich bereits viel zu viel eingemischt, aber was sollte ich sonst tun, wenn sie doch Schmerzen hatte? Mir Schmerzen bereitete?
Ich hockte mich also zu ihr, um sie erneut zu heilen – ungeachtet der umherbrüllenden Männer. Dezeria lag im Gras und atmete langsam, aber sie schlief nicht. Nein. Sie war vermutlich ohnmächtig – sowas kannte ich, denn ich hatte es schon oft beim Menschen gesehen. Da sie auch nicht blutete, schien sie doch nicht so schlimm verletzt zu sein. Ich würde also nicht lange für eine Heilung benötigen. Was mich dann aber doch aus der Konzentration holte, war ein Schuss. Es knallte und ich fühlte erneut ein Stechen, ein Brennen – eben lauter Dinge, die ich nicht spüren sollte. Ich war Wasser. Ich war Eis. Ich war ... verletzt?
Verwirrt betrachtete ich das Loch in meiner Brust, aus dem seltsamerweise leicht rötliches Wasser floss, ohne dass sich mein Körper wieder regenerierte. Ojee, es war sogar noch schlimmer, als ich es befürchtet hatte. Ich wurde sterblich! Nein, ich konnte nicht sterblich werden! Ich war kein Mensch! Ohh nein, nein! Nein!
Weitere Rufe ertönten und auch ein zweiter Knall. Bei aller Kälte! Das tat verdammt weh! Das war gar nicht gut. Ich fühlte, wie sich in meinem Inneren ein Sturm zusammen braute und dann begann es auch schon zu regnen. Das tat es immer, wenn ich nicht klar dachte und gerade schaffte ich es auch nicht, mich wieder zu beruhigen. Meine Form – mein menschlicher Körper schmerzte und solange er dies tat, würde ich weiter in diesem unklaren Zustand bleiben. Das war nicht gut. Augenblicklich war die ganze Gegend von dicken, dunklen Wolken verhangen und Regen prasselte unaufhörlich herab. Ich war im Moment irgendwie mit dem Ganzen, was mich ausmachte, nur noch überfordert. Ich wollte mich lösen, aber es ging nicht. Meine provisorische Hülle blieb bestehen – zerfiel einfach nicht! Schmerzte nur weiterhin. Was sollte ich denn jetzt machen? Ich konnte doch nicht so bleiben?
Verunsichert blickte ich umher. Beobachtete, wie die Männer auf den Pferden vor dem Unwetter davon rannten und mich mit Dezeria alleine ließen. Das war schlecht. Bei dem Unwetter konnte ich sie nicht so auf dem Boden liegen lassen. Menschen wurden schnell krank ... Ob ich es jetzt auch werden konnte? Nein. Ich war doch Wasser. Ich war Eis – nun, zumindest zu einem Teil noch, stellte ich erleichtert fest, als ich zum Schutz für Dezeria eine Kuppel aus Eiskristallen über uns zog.
Irgendwie erschöpft setzte ich mich schließlich neben sie und bemühte mich, erstmal die beiden Wunden in meinem Brustkorb zu verschließen. Es waren eigentlich nur kleine Löcher, aber irgendwie gestaltete es sich unfassbar schwierig, diese wieder zu regenerieren. Sonst hatte ich nie solche Probleme damit gehabt, zu heilen – wobei, wann war ich je verletzt gewesen? Ich überlegte. Fand aber keine Antwort darauf. Stimmt, ich war nie verletzt gewesen, weil ich nie einen echten Körper besessen hatte. Ich war Wasser. Ich war Eis. Nun, jedenfalls war ich es mal ... Besorgt ging mein Blick zu der noch immer bewusstlosen Dezeria. Wenn sie jetzt tatsächlich zu Eis wurde, würde sie mir dann auch das Wasser nehmen? Was würde dann von mir noch übrig bleiben?
*
Meinen Körper vollständig zu heilen, hatte mich meine ganze Kraft gekostet. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich mich jemals so seltsam schlapp und erschöpft gefühlt hatte. Das war ebenso neu und ich mochte es kein Stück. Mir missfiel einfach alles an der jetzigen Situation. Ich hatte noch ein paarmal versucht, meine Hülle zu lösen, aber diese blieb beständig. Ebenso, wie dieses seltsame Atmen. Je länger ich in diesem Körper blieb, desto menschlicher wurde ich ... Aber das ging doch nicht. Ich war das nicht. Ich war ...
Dezeria rührte sich langsam. Sie gab grummelnde und unverständliche Geräusche von sich. Es dauerte eine Weile, bis sie soweit erwachte, dass sie sich auf den Rücken rollte und ihren Oberkörper aufrichtete. Sie griff sich stöhnend an den Kopf und unweigerlich spürte ich es ebenso. Spürte einen leichten Schmerz. Wieso passierte das ständig? Sie war nicht ich und ich nicht sie.
“DU!”, knurrte sie schließlich, als sie mich erblickte und deutete mit dem Finger auf mich. “DU! Du wolltest mich zurückbringen! Zu diesem wahnsinnigen Grafen!” Sie stand wackelig auf und realisierte dann erst, dieses ganze Eis über uns. “Was ist das?! Lass mich hier raus! Sofort!”, schrie sie nun richtig wütend, was ich als höchst unangenehm empfand. Ihre helle schrille Stimme hallte von den Wänden und erzeugte dadurch erneute Schmerzen in meinem Kopf. Daran könnte ich mich nie gewöhnen.
“Zerian?! Lass! Mich! Raus!”, schimpfte sie weiter und ich überlegte, was ich sagen sollte. Ich hatte mich bereits so viel eingemischt und so viel beeinflusst, aber ich konnte nun einmal auch nicht verschwinden. Ich war hier genauso wie sie in dieser Kuppel eingeschlossen. Ohne, dass ich etwas dagegen ändern konnte. Ich war nicht mehr Eis, sondern sie. Genau. Ich hatte keine Zweifel mehr, denn ich sah es überdeutlich in ihren Augen – diese waren nun leuchtend weiß geworden. Allein die Pupillen hatten ihre ursprüngliche schwarze Farbe beibehalten.
“Du allein kannst es”, sagte ich, aber dies hörte sie wahrscheinlich nicht, da sie im selben Atemzug bereits auf das Eis einschlug. Sie hatte offensichtlich sehr viel Kraft in diesen Schlag gesteckt, aber es hätte auch eine einfache Berührung gereicht. Sie stürzte natürlich, weil das Eis ihr keinen Widerstand gegeben hatte und dafür erhielt ich kurz darauf einen bitterbösen Blick von ihr. Ojee, sicherlich dachte sie nun, ich hätte dies mit Absicht gemacht.
“Danke!”, hörte ich sie knurrig sprechen, als sie sich wieder aufrichtete. Ich überlegte, ob ich darauf etwas sagen sollte, verwarf es allerdings und stand ebenso wackelig auf. Daran würde ich mich wohl auch nicht gewöhnen. Ich wollte wieder Wasser sein – wollte formlos durch die Welt wandern. Was hatte ich da nur angerichtet?
Mit einem sonderlichen Gefühl schritt ich durch das Loch nach draußen und betrachtete den Himmel. Ich war überrascht, dass draußen nur noch vereinzelte Regenwolken am Himmel vorbeizogen. Ich fühlte mich nicht klar, aber scheinbar hatte sich das Wetter dennoch beruhigt. Verlor ich also noch mehr Kontrolle? Wieso war ich nur so fehlerhaft? Ich blickte zur Sonne. Hoffte, irgendetwas sehen zu können, was mir eine Hilfe sein könnte. Wieso konnte ich nicht wie das Feuer sein und schlicht eine Aufgabe erfüllen? Nicht wie der Wind still und stumm um die Welt ziehen? Nicht ruhig daliegen, wie die Erde? Warum war ich denn bloß von Anfang an kaputt gewesen? Wieso hatte ich schon immer denken können? Ich hatte nie richtig funktioniert. Nicht so wie die anderen ...
“Hallo?! Hörst du mir überhaupt zu?!”, hörte ich Dezeria nur dumpf am Rande. Die Ohrfeige danach spürte ich allerdings deutlich. Mein Blick ging zu ihr und ich versuchte zu verstehen, warum sie das gemacht hatte. Warum ich ihre Berührung auf meiner Wange spüren konnte. Ich sollte es doch nicht – sollte nicht einmal hier sein.
“Gott hin oder her! Antworte endlich!” Sie sah mich eindringlich mit ihren weißen Augen an, aber ich wusste nicht, was sie von mir jetzt wollte. Sollte ich sie fragen? Sollte ich? Es wäre erneute Einmischung, aber eigentlich war sie doch jetzt ein Teil von mir, dann war es doch erlaubt? Ich war mir nicht sicher. Eigentlich sollte ich ja auch nicht denken. Ich war Wasser – ich war Eis und keins von beidem sollte denken. Unweigerlich sah ich erneut zur Sonne. Wieso konnte ich denn nicht wie die anderen sein?
“Du machst mich wahnsinnig!”, schimpfte Dezeria einen Moment später und berührte meine Hülle. Kurz glaubte ich, dass sie mich erneut schlagen würde, aber das tat sie nicht. Sie griff lediglich an das, was sich Kleidung nannte und ebenso zu meinem Körper gehörte. “Wieso tust du mir das an?”, fragte sie und ich konnte Tränen sehen, welche aus ihren großen Augen kullerten. Sie war traurig. Das kannte ich. Ich hatte schon viele Menschen gesehen, die traurig waren.
“Warum bist du traurig?”, fragte ich und berührte einen der kleinen Wassertropfen, über die ich noch nie herrschen konnte. “Das fragst du noch?!” Ihr Gesicht nahm wieder Wut an. “Wieso bringst du mich zurück nach Rotterval?! Von da bin ich doch erst geflohen! Wo sind überhaupt Hellkus und die anderen? Hast ... hast du sie wieder ge-getötet?”, fragte sie nun sichtlich bleich werdend. Ich wusste nicht, ob ihr unwohl war, oder ob es sich hierbei um eine weitere Veränderung aufgrund von Eis handelte. Ich war mir auch nicht ganz sicher, ob ich darauf antworten sollte, aber da ich gefragt hatte, erschien mir das doch sinnvoll.
“Ich wollte dich zurückbringen, weil du dort hingehörst. Es ist deine Aufgabe”, sagte ich und fing mir gleich eine weitere Ohrfeige ein. Was hatte ich falsch gemacht? “Ich bin nicht seine Sklavin!”, schimpfte sie, was mich aber nur noch mehr verwirrte. Menschen waren doch recht seltsam, aber damit musste ich mich nun ebenso auseinandersetzen. Jetzt, wo ich auch einer von ihnen war.