Zu meiner Überraschung berührten seine Lippen lediglich meine Stirn. Nur flüchtig küsste er mich und sah mir danach tief in die Augen. Eine gefühlte Ewigkeit. Seine Finger streichelten derweil unablässig über meine Wangen – wischten jede einzelne Träne fort. Ich verstand diesen Kerl einfach nicht. Will er mich so verführen? Meine Gefühle manipulieren? Wenn ja, dann ist seine Mühe vergebens. Ich mag ihn nicht! Will seine Nähe und seine Berührungen keinesfalls! Nichts hiervon wird je mein Herz berühren.
Ein zweiter Kuss folgte. Diesmal direkt auf meine Nasenspitze. Gott, ich konnte ihn einfach nicht aufhalten. Sein Atem glitt weich und warm über mein Gesicht. Er wollte mit mir schlafen. Ich sah es überdeutlich in seinen goldgelben Augen.
“N-nicht ...”, hauchte ich atemlos, als er sich erneut vorbeugte. Hilfe. Ich war so schwach, aber – langsam spürte ich, wie das Leben zurück in meine Glieder kehrte. Stück für Stück. Ob es daran lag, dass die Lähmung von sich aus verschwand oder meine Angst – mein Zorn meinem Körper neue Kräfte verlieh, wusste ich nicht. War aber auch egal. Ich wollte – nein, musste meine Arme bewegen, damit ich ihn endlich von mir stoßen konnte. Kämpfen konnte.
Dass meine Muskeln allmählich reagierten, schien er dann auch zu bemerken. Er hielt kurz vor meinen bebenden Lippen inne und nahm wieder mehr Abstand zu mir ein. Puh! Ich war so erleichtert. Jedenfalls bis zu dem Augenblick, als seine Hände zu meinen Brüsten wanderten.
“Ihr erwacht. Das ist gut. Dann werde ich Euch jetzt noch schnell entkleiden”, sprach er fröhlich und zog gemächlich das erste Stoffband von meinem Körper. O Gott, nein! “B-bitte ...”, stammelte ich und versuchte krampfhaft, ihn davon abzuhalten. Vergeblich. Wie störendes Geäst fegte er meine Arme beiseite. Legte nach und nach meine Brüste frei. “Um was bittet Ihr? Dass ich aufhöre? Warum? Eure Bekleidungskonstruktion ist zwar süß anzusehen, aber unangebracht. Warum tragt Ihr überhaupt solch Gewirr? Ein gesegneter Stoff auf der Haut ist vollkommen ausreichend. Zudem steht dies allein den Fünkchen zu und ein solches seid Ihr nicht.” “N-nein ... Aufhören ... Ich ... I-ich will das nicht”, wimmerte ich, aber das hielt ihn nicht davon ab, weiter zu machen. Zielstrebig entknotete er als Nächstes die Tücher an meiner Hüfte.
“Süß. Euer Schamgefühl behaltet Ihr also bei. Aber, warum? Die Tränen der Sonne kleiden doch Eure Haut, die im Übrigen wundervoll aussieht. Der Kontrast zu Eurem hellen Haar, den leuchtenden weißen Augen und dem roten Körper ist geradezu göttlich. Aus Euch werde ich ein schönes neues Orakel machen. Versprochen”, sprach er lüstern und sah mich eindringlich an. Ich erschauderte unwillkürlich und bedeckte schnell mit den Händen meine Blöße. Er runzelte daraufhin die Stirn. “Darf ich Euch nicht betrachten?”, fragte er irritiert und strich dabei federleicht mit den Fingerspitzen über meine Arme.
“Nein!”, sprach ich wütend und schüttelte hektisch den Kopf. Bevor ich allerdings noch mehr dazu sagen konnte, stand er plötzlich auf. “Seht Ihr? Es ist doch nichts dabei, oder?” “Verschwindet!”, zischte ich zurück, da der Anblick von seinem nackten Körper definitiv nichts war, was ich jetzt sehen wollte. Ein kehliges Lachen erklang, was mir einen weiteren kräftigen Schauer verpasste. Sein Verhalten befeuerte meine Angst. Meine Muskeln reagierten immer noch nicht richtig und wenn er sich jetzt auf mich stürzen würde – das könnte ich nicht verhindern.
“Was denn? Gefalle ich Euch nicht?”, fragte er leicht gekränkt, woraufhin ich ihn fassungslos ansah. Was war das denn bitte für eine Frage in solch einer Situation? “Jeder liebt die Sonne. Liebt meinen Körper. Liebt mich! Ausnahmslos. Wieso wollt Ihr nicht–” Er hielt abrupt inne und schien angestrengt über etwas nachzudenken. Sein Gesichtsausdruck wurde unergründlich. Er blickte ins Leere. Ich schluckte nervös. Sein plötzliches Schweigen ließ meine Panik immer größer werden. Hatte ich ihn mit meinen Worten verletzt? Würde er nun aggressiv und gewalttätig werden?
“Entschuldigt”, sprach er nach einem Moment reuevoll und nahm etwas Abstand zu mir ein. Schritt vom Sofa zurück. “Es ... tut mir leid. Ich ... war zu sehr in meiner Rolle.” Er wandte sich ganz ab. Verschwand aus meinem Sichtfeld. “Ich wollte nicht so forsch zu Euch sein”, hörte ich ihn entfernt sprechen und dann auch wieder das Geräusch von sich öffnenden Schrankfächern. “Ich hoffe, Ihr könnt mir das eben verzeihen. Ich habe Euch doch nicht verletzt, oder? Wisset, dass es nicht in meiner Absicht lag. Ich will, dass Ihr Euch in meiner Nähe wohl fühlt.”
Gott, so ein Irrer! Schnell zwang ich mich in eine aufrechte Position. Ich versuchte, auf die Beine zu kommen – was mehr schlecht als recht funktionierte. Ich wankte bedrohlich. Fast wäre ich nach vorne gestürzt und hätte mir den Kopf am Tisch angeschlagen. Aber natürlich eilte da Lichius auch schon an meine Seite.
“Seid vorsichtig”, sprach er belustigt und presste mich eng an seinen warmen muskulösen Körper. “Fasst mich nicht an!”, knurrte ich dagegen und versuchte, mich sofort aus seinem Griff zu befreien. “Aber, ich will Euch doch nicht stürzen sehen. Bleibt ruhig sitzen, solange Ihr noch nicht richtig bei Sinnen seid. Es ist doch nur zu Eurem Besten.” Er drückte mich bestimmend zurück auf das Sitzpolster. “Wartet einen Moment, ja?”, fragte er anschließend und drehte sich herum. Ich sah, wie er einen roten Mantel vom Boden aufhob und erst einmal das weiße Pulver abklopfte.
“Ich hab doch was zum Anziehen für Euch.” Freudig kam er zurück und hielt mir den fein verarbeiteten Stoff auffordernd hin. Blutrot schimmerte die Oberfläche, als bestünde es aus flüssiger Seide. Ich streckte eine Hand aus, um es ihm abzunehmen, aber da beugte er sich schon selbst vor.
“Kommt, ich zieh Euch an”, sprach er aufdringlich und versuchte sogleich, meinen linken Arm in den Ärmel zu führen. “Lasst das! Ich will nicht von Euch angefasst werden! Ich kann das alleine!”, protestierte ich, musste aber hinnehmen, dass er mich wie eine Puppe ankleidete. Er war schlicht und ergreifend viel stärker als ich. Na ja, ganz so schlimm war es ja auch nicht. Immerhin hatte ich jetzt etwas an. Ich schlang den weiten und unglaublich weichen Umhang fest um meinen Körper. Ich wollte ihm so wenig Haut wie möglich zeigen.
“Passt doch gut, oder? Die Robe gehört zwar Allie, aber sie hat sicherlich nichts dagegen, wenn ich ihn Euch zur Verfügung stelle. Ich werde Euch natürlich baldmöglichst etwas Eigenes anfertigen lassen. Gleich morgen, wenn Ihr möchtet.” Ich blickte ihn verärgert an. “Ich will keine Nacht hier verbringen! Holt endlich Zerian her und hört auf mit diesem Quatsch!” “Wirklich? Dann wollt Ihr lieber nackt in Mewasinas herumlaufen?”, fragte er belustigt und setzte sich gemütlich neben mir aufs Sofa. Ich rückte sofort so weit wie möglich von ihm ab. Ich wäre sogar aufgestanden, aber das hätte mir nur einen weiteren Sturz eingebracht. Unerwünschten Körperkontakt seinerseits gleich mit dazu.
“Och kommt schon. Ist meine Nähe so abschreckend? Fürchtet Ihr wirklich einen ständigen Überfall durch meine Wenigkeit?” “Spart Euch das. Es gehört sich nicht, nackt neben einer Frau zu sitzen oder überhaupt sich so zu zeigen. Ich bin nur wegen meines Freundes hier, also lasst ihn herbringen oder führt mich zu ihm. Sofort”, sprach ich in einer gezwungenen ruhigen Tonlage. Von der ganzen Auseinandersetzung mit ihm brannte meine Kehle bereits wie Feuer.
“Hm, wusstet Ihr, dass die einfachen Menschen das Sonnenlicht nur fälschlicherweise als Gelb wahrnehmen?” Ich runzelte die Stirn. “Was hat das jetzt damit zu tun?” “Ah, also nicht, dann lasst mich Euren Geist erleuchten. Die Sonne strahlt jederzeit weiß – ist aber für Eure normalen Augen zu hell, als dass Ihr sie direkt betrachten könnt. Ihr seht also nur ein verwaschenes Trugbild, welches durch die Atmosphäre des Planeten entsteht. Ein guter Beweis für das wundervolle reine Licht ist der Schnee im Winter. Er ist doch immer weiß, nicht wahr? Wäre die Sonne gelb, dann würde auch der Schnee diese Farbe annehmen. Ihr erliegt also einer Täuschung, wenn Ihr die Sonne als gelb erachtet.”
Irritiert von dieser Äußerung starrte ich ihn an. Was war das bitte für eine sonderliche Geschichte? Sowas hatte ich ja noch nie gehört. Und – warum erzählte er mir das? Ausgerechnet jetzt? Moment. Ich schluckte schwer. Schlagartig wurde mir etwas bewusst. Gott, wie konnte ich nur so dumm sein?
“Ihr versucht abzulenken”, sprach ich das offensichtlich aus. “Ihr habt mich belogen, nicht wahr? Zerian ist gar nicht hier, oder?” Ja, das war die einzig logische Schlussfolgerung. Und dass sein eingemeißeltes Lächeln abflachte, war mir Bestätigung genug. Bei Del und Cor, wieso bin ich nicht schon früher darauf gekommen? Zerian könnte man sicherlich nicht so leicht entführen oder überwältigen. Er war doch immer noch ein Gott! Er suchte jetzt bestimmt nach mir und hier unten würde er mich gewiss niemals finden. Ich schluckte erneut. Ich würde alleine auch nicht mehr hinaus finden, oder? Gott, ich war so durcheinander.
“Ich habe Euch nicht belogen”, sprach er mit weicher Stimme, aber ich senkte desinteressiert meinen Blick. Starrte verstört auf meine Handflächen. Mein Eis hatte ich während der ganzen Aufregung komplett vergessen, aber jetzt, wo ich mich darauf konzentrierte, klappte es nicht. Wieso? Lag das noch an dieser komischen Betäubung? Oder ging es nur in Zerians unmittelbarer Nähe? Verdammt! Es lief mir heiß und kalt den Rücken hinunter. Ich saß hier fest. In einer perfekten Falle!
“Dezeria? Hört Ihr mich?”, sprach Lichius besorgt, aber ich ignorierte ihn. Er hielt mich hier unten offensichtlich nur zum Spaß gefangen und würde ohnehin nichts Sinnvolles von sich geben. Ich mein. Es war erfreulich, dass er mich bisher nicht wie Hannes einfach genommen hatte, aber wirkliche Erleichterung verspürte ich auch nicht. Es schien schon fast so, als wollte er nur Zeit schinden. Aber, wieso? Ich stutzte. Konnte das sein? Nein. Nein, oder?
“Gehört das auch zum Spiel?”, fragte ich und sah ihn besorgt an. “Gehört Ihr zu Ludwig? Haltet Ihr mich hier gefangen, bis er mich holen kommt?” Er seufzte. “Fangen wir doch einfach noch mal von vorne an, ja?” “Von-von vorne?”, echote ich verwirrt. Er nickte.
“Das förmliche Gerede lassen wir auch mal weg, einverstanden? Sonst verfalle ich zu schnell in meine Gewohnheiten. Also. Ich bin der Sohn des Grafen dieser Stadt. Mein Geburtsname lautet Zar’Rea Rene Mewasinas, aber ich legte mir lieber einen Lor-Namen zu. Adamek Lichius. Klingt doch gleich viel heiliger – viel erleuchteter, nicht wahr? Bis mein Vater abdankt–” “BEI GOTT! Beantwortet endlich die verdammte Frage!”, brüllte ich wütend. Er sah mich mit großen Augen an. Dass ich es gewagt hatte, seinen fröhlichen Redefluss zu unterbrechen, schien ihn sehr zu verwundern. Vermutlich passierte das einem Mann seines Standes nie. Aber, na ja. Das war mir herzlich egal.
“Ich will keine belanglosen Geschichten mehr von Euch hören! Arbeitet Ihr nun für Ludwig oder nicht?!” “Ähm, nein. Das wollte ich dir–” “Ihr lügt!”, sagte ich ohne Umschweife. Er musste schließlich für Ludwig arbeiten. Alles andere ergab noch viel weniger Sinn.
“Nein, das tue ich nicht. Ich arbeite für niemanden”, sprach er beleidigt klingend und verschränkte die Arme vor seiner muskulösen Brust. Krampfhaft versuchte ich, eine Lüge in seinem Gesicht zu erkennen, fand aber nichts.
“Ich bin mein eigener Herr ... auch wenn mein Vater mich noch oft zu dirigieren–” “Wer hat Euch dann geschickt, um mich zu holen?”, unterbrach ich ihn erneut. Er seufzte lautstark. “Nun. Darf ich denn auch mal ausreden?” “Nein. Ihr wollt mir nur wieder irgendetwas erzählen. Beantwortet doch einfach die Frage ohne eine Geschichte!”, murrte ich zurück und dann kam mir plötzlich noch ein ganz anderer Gedanke.
“Hat Reznick Euch vielleicht geschickt?” Das wäre noch die letzte Möglichkeit, die mir einfiel. Er wollte ja schließlich, dass ich in diese Stadt reiste. Und er war ja auch so freizügig in seinem Zuhause rumgelaufen. Vollkommen ohne jedwede Scham. Möglich, dass sich alle Rea so in ihren Räumlichkeiten verhielten. Ja, was wusste ich schon von diesen Adligen. Diesen heiligen Menschen. Auf einmal sah ich Lichius mit ganz anderen Augen.
“Reznick? Du redest von dem Wyttmann deines Oswelats? Nein, wieso sollte er? Als wenn solch eine Schachfigur mir etwas befehlen oder vorschreiben könnte.” Ich runzelte die Stirn. “Schachfigur? Und Ihr wisst von diesem schrecklichen Spiel um mein Leben?” “Ähm, ja. Sicher. Ich habe mich in der Zwischenzeit über dich informiert. Wisse, dass ich deinen Groll verstehen kann und es mir leidtut, was mit dir passierte. Nichts liegt mir ferner, als dich zu ängstigen oder dir Leid zuzufügen. Ich möchte dich nur gerne ausführlich über diesen Ort hier informieren, damit du verstehen kannst. Ich erzähle dir liebend gerne alles, wenn du mich nur lässt. Vielleicht nimmt es dir ja dann deine Furcht vor mir und den anderen. Ich will dabei ganz offen und ehrlich mit dir sein. Du musst es nur zulassen.”
“Ich werde Euch zuhören”, sprach ich voller Zweifel. Ich wusste nicht, ob dies ein Fehler war. Könnte er mich so beeinflussen oder sah ich dies alles zu eng? Ich war vollkommen durcheinander. Ob seine Magie schon wirkte? Ich wusste es nicht. Wenigstens schien er sich nun zu benehmen – warum auch immer. Obwohl. Etwas störte mich noch immens.
“Aber vorher zieht Ihr Euch endlich etwas an!” “Hm?” Er blickte an sich herunter. “Ach so. Ich musste mein Gewand ablegen, da Ihr ... du verletzt warst. Die Kleidung ist für die heutige Zeremonie bestimmt und es darf sich kein Blut daran befinden. Aber, wenn es dir mit etwas Stoff an meinem Körper besser geht, werde ich dies natürlich sofort tun."
Mit großen Augen verfolgte ich, wie er geschmeidig aufstand und sich doch tatsächlich diesen prunkvollen gelben Kapuzenumhang wieder anzog. So einfach war das? Keine aufdringliche Annäherung? Keine Diskussion? Kein überschwängliches Sonnengefasel? Dadurch war er mir fast sympathisch. Aber eben nur fast. Ich konnte ihn definitiv nicht einschätzen und das machte ihn gefährlich. Trotzdem war ich irgendwie gespannt, was er mir nun zu erzählen hatte. Was es mit diesem verrückten Sonnenkram auf sich hatte. Mit den ganzen nackten Menschen hier. Was war mit Zerian? Was spielte ich bei all dem für eine Rolle?