╫Hendricks Sicht╫
Interessiert sah ich mir bereits seit Stunden eine Videodatei nach der anderen an. Die Aufzeichnungen enthielten mein bisheriges Leben – meine angebliche Vergangenheit. Es war faszinierend und zugleich vollkommen absurd. Egal wie viel ich mir auch anschaute, da gab es kein Erkennen. Keine Erinnerung. Nichts wirkte vertraut. Wobei es nicht daran lag, dass ich mich auf den Bildern nicht erkannte. Nein. Ich wusste mittlerweile, wie ich aussah, immerhin hatte ich mein Spiegelbild ausgiebig im Badezimmer betrachtet. Ich fühlte es nur eben nicht. Als würde mich das alles nicht betreffen. Auch das Gespräch mit meinem vermeintlichen Vater hatte mir keine wirkliche Klarheit zu meiner Person verschafft, obwohl er sich redlich bemüht hatte. Auf all meine gestellten Fragen hatte er mir eine Antwort gegeben, aber genau da lag eben auch das Problem. Laut seinen eigenen Aussagen hatte er mich unentwegt gelenkt und manipuliert. Demnach gab es jetzt ebenso keine Gewissheit, dass er dies nicht immer noch tun würde.
Seltsamerweise war ich darüber weder schockiert noch wütend gewesen. Nicht am Anfang und auch nicht am Ende unserer Unterhaltung. Es war mir gleich, was er alles getan hatte oder seit meiner Geburt meinte tun zu müssen. Einzig der Grund störte mich. Mein Körper. Ich hatte einen schwerwiegenden Defekt in mir, der eine Art Selbstzerstörung glich. Die Welt wollte nicht, dass ich lebte und ohne diese ganzen Spielchen wäre ich längst tot. Wie bescheuert war das denn bitte?
Das kotzte mich an. So richtig. Von all den verrückten Dingen, die mein Vater mir erzählt hatte, wollte ich mein unvermeidbares Sterben einfach nicht wahrhaben. Aber. Ob ich es nun glaubte oder nicht hatte keine Bedeutung. Dies hatte er mehrfach überaus nachdrücklich erwähnt. Ich würde die Richtigkeit seiner Worte schon erkennen, wenn es so weit war. Und er behielt recht. Je mehr Zeit verstrich, desto deutlicher wurde diese Unruhe in mir. Ich spürte es – spürte deutlich, das etwas nicht stimmte. In mir tat sich langsam aber sicher eine Leere auf, die mich Stück für Stück ausfüllte und mit jeder weiteren Minute ein Teil von mir verschlang.
“Lästig ...” Ich seufzte schwer, schob das Tablet von mir fort und vergrub anschließend mein Gesicht in die Bettdecke unter mir.
“Ist etwas nicht zu Eurer Zufriedenheit?” Die CeKyde, die auf meiner Hüfte saß und die ganze Zeit über meinen Rücken massiert hatte, unterbrach ihr tun. “Oder habt Ihr einen Wunsch? Verspürt Ihr vielleicht Hunger?”
“N-einnn ...”, nuschelte ich kaum hörbar in den Stoff, aber sie schien es dennoch verstanden zu haben. Im Nu begann sie von Neuem, sämtliche Muskelpartien durchzukneten. Dass mein Vater mir künstliche Männer und Frauen an die Seite gestellt hatte, damit diese mich anfassten, war immer noch gewöhnungsbedürftig. Allen voran einmal die Tatsache, dass dies keine echten Menschen waren, obwohl es den Anschein hatte, und dann eben auch dieses Berührtwerden.
Mein Körper durfte nicht den Bezug zu dieser Welt verlieren und das funktionierte am schonendsten auf diese Weise. Ich war natürlich zuerst vollkommen dagegen gewesen, aber auch dabei hatte ich keine wirkliche Wahl gehabt. Wie von meinem Vater vorhergesagt, traten nach einer Weile dumpfe Schmerzen auf. Ein echt ekliges Unwohlsein hatte sich durch mein ganzes Innerstes gezogen und auch jetzt spürte ich es noch. Krämpfe oder Verspannungen – als würde sich etwas durch meine Adern winden, was dort nicht hineingehörte. Das machte mir angst. Ich wollte nicht sterben.
“Geh von mir runter.” Ich hob den Kopf und drehte ein Stück den Oberkörper. “Lass mich aufstehen.”
“Wie Ihr wünscht.” Sie glitt von mir und setzte sich elegant hin, während ich zur Kante robbte und schließlich das Bett verließ. Ich steuerte den runden Glastisch im Raum an, auf dem mein Vater eine Schale mit silber-blauen Kugeln abgestellt hatte. Seinen Worten nach sollte es ein Mittel sein, dass mir helfen würde, wenn sich mein Zustand verschlimmerte. Bisher hatte ich es vermieden, etwas davon zu mir zu nehmen, aber dieses schreckliche innere Gefühl konnte ich nicht länger ertragen.
Ich schnappte mir eine der elastischen Kügelchen und steckte sie mir in den Mund. Ich verschwendete dabei keinen Gedanken daran, was es beinhaltete oder ob es mir letztlich stärker schadete. Wenn er mir wirklich etwas antun wollen würde, gäbe es immerhin genügend Möglichkeiten. Für mich spielte das im Moment einfach keine Rolle. Solange ich überlebte, reichte mir das. Zwar wusste ich noch nicht genau, was mich derart zwingend am Leben hielt, aber es war da. Unleugbar. Ich durfte nicht sterben. Nicht jetzt!
“Ihr habt die Medizin genommen.” Die CeKyde stieg ebenso aus dem Bett und kam mit wiegenden Hüften auf mich zu. “Geht es Euch nicht gut? Soll ich vielleicht Euren Vater informieren?”
“Brauchst du nicht. Mir geht es besser.” Das sonderlich schmeckende Zeug wirkte erstaunlich schnell. Mein Unwohlsein minderte sich deutlich, auch wenn es nicht ganz verschwand. “Außerdem glaube ich nicht, dass er gerade Zeit hat.” Mein Blick schweifte zu der Wand mit den sechs Bildschirmen, die alle einen anderen Bereich des Schiffes zeigten. Beziehungsweise gezeigt hatten. Vier der Monitore waren schwarz geworden, als der Kampf zwischen meinem angeblichen Vater und meinem Bruder seinen Höhepunkt erreichte. Was ich schade fand. Gerne hätte ich dieses äußerst verrückte Schauspiel noch länger verfolgt und auch das Ende erfahren. Bisher stand lediglich fest, dass einiges kaputt gegangen sein musste.
“Euer Vater wird gewiss Zeit für Euch finden, wenn Eure Gesundheit sich verschlechtert.”
“Na dann ...” Ich zuckte mit den Schultern, “versuch dein Glück. Sag ihm, mir ist langweilig.” Zwar hatte ich noch genügend Aufzeichnungen, um mich damit zu beschäftigen, aber das lastete meinen Körper nicht genügend aus. Ebenso nicht die Massage von der Puppe. Ich brauchte etwas anderes. “Bewegung wäre toll.” Er mochte mich aus Sicherheitsgründen eingesperrt haben, aber das konnte doch nicht auf Dauer so bleiben. Das Schiff dürfte jawohl groß genug sein, um auch mir darin ein paar Gänge zum Laufen zur Verfügung zu stellen.
“Ich werde es ihm ausrichten.” Sie ging zu einer Steuertafel an der Wand und tippte darauf herum.
“Frag ihn dabei gleich noch, ob sein Geschenk, das er für mich machen wollte, fertig ist.” Er hatte von einer Partnerin gesprochen. Ein Bindungsstück, das ich brauchte, um nicht länger instabil zu sein und ich wollte unbedingt wissen, ob es stimmte – ob sich diese unerträgliche Unruhe in mir dadurch vertreiben ließ.
“Das mache ich sehr gerne.” Mit einer gleichgültigen Handbewegung schlenderte ich zu einer Anrichte an der Seite und nahm mir dort von einem gut befüllten Tablett einige kleingeschnittene weiße Fruchtscheiben. Den Geschmack von diesen Helines mochte ich sehr. Es hatte etwas Süßes und Saures zugleich.
“Was, wenn mein Vater nicht antwortet?” Genüsslich aß ich eines der Stücke und warf mich auf das nächstgelegene Sofa. “Wie lange muss –” Plötzlich öffnete sich die Zimmertür und eine andere Puppe kam herein. Es war eine Maugeri in der Erscheinung eines kleinen Mädchens und hinter ihr befand sich ein schwebendes Konstrukt mitsamt einer halbnackten Frau darauf. Ich runzelte die Stirn. War das nicht Dezeria? Und was waren das bitte für komische surrende Drohnen bei ihnen? Die Modelle konnte ich nicht zuordnen.
Einen Moment lang herrschte absolute Stille, in der wir uns alle gegenseitig musterten. Sobald sich die Maugeri jedoch mit ihrem Anhängsel auf mich zu bewegte, wurden die CeKydes munter. Dabei nicht nur die eine, die mich zuvor massiert hatte, sondern auch alle anderen, die sich hier befanden und bis eben in einer Art Standby geruht hatten.
“Du bist hier falsch, Einheit 3411, dieser Bereich ist nicht für Gäste bestimmt.” Die Frauen und Männer bauten sich wie ein Schutzwall um mich herum auf. “Der Herr, Re’Nya’Ca Fyl. Leopold Weckmelan, hat verboten, dass seine Söhne sich ohne seine Anwesenheit begegnen dürfen.” Interessiert versuchte ich, zwischen ihren Körper hindurch zu spähen. Dass mein Bruder mit dabei war, hatte ich zuvor gar nicht gesehen.
“Hendrickson? Sag deinen Bediensteten bitte, sie mögen sich abschalten oder erlaube zumindest, dass wir uns hier aufhalten dürfen.” Die Maugeri deutete hinter sich. “Dein Bruder benötigt die hier befindliche Stasekapsel mit dem Ail-Gel, um sich von seinen Verletzungen zu erholen. Es ist dringend. Er liegt im Sterben.”
“Im Sterben?” Nachdenklich schob ich mir das letzte Fruchtstück in den Mund. Diese Nachricht löste nichts in mir aus, aber das sollte es für gewöhnlich – oder? “Von mir aus könnt ihr das Ding benutzen.” Ich selbst hatte davon abgesehen. Mir missfiel der Aspekt, dass es mich vollkommen betäubt hätte. Heilwirkung hin oder her. Wer weiß, ob ich dann jemals wieder aufgewacht wäre.
“Danke ...” Dezeria stieg zittrig von der komisch aussehenden schwebenden Liege und blickte mich erschöpft an. Eine Hand ruhte auf der Decke, worunter sich scheinbar mein bewusstloser Bruder befand, während sie in der anderen eine Int-Ampulle hielt. Sie sah so aus, als wollte sie noch etwas sagen, schwieg aber dann doch lieber. Keine Ahnung, was in ihr vorging, aber das war für mich auch nicht von Belang. Ich bemühte mich vielmehr zu verstehen, warum ich mich einst für sie eingesetzt hatte – warum ich sie in einigen Aufnahmen sogar umarmt hatte. Da war eindeutig Zuneigung von meiner Seite aus gewesen, aber jetzt? Ich fühlte nichts bei ihrem Anblick.
Seltsam. Was war nun so anders? Warum hatte ich mich damals so verhalten? Ihr Äußeres konnte es schon einmal nicht gewesen sein. Ich fand sie weder schön noch reizte mich ihre üppige Oberweite. Ebenso lösten ihre Verletzung und der flehende Ausdruck in ihren Augen kein Mitleid oder einen Beschützerinstinkt bei mir aus. Meine einstigen Beweggründe blieben mir somit ein absolutes Rätsel, was mich extrem frustrierte.
Mit einem schweren Seufzen sah ich ihr nach, wie sie zusammen mit meinem Bruder und der Maugeri in dem Bereich mit der Stasekapsel verschwand.
“Was habt Ihr?” Eine Hand landete auf meinem Oberschenkel.
“Fühlt Ihr Euch nicht wohl, werter Re’Nya’Ca Hendrickson Weckmelan?” Weitere Hände folgten.
“Können wir Euch etwas Gutes tun?” Kaum dass die CeKydes meinen freien Oberkörper berührten – unzählige Finger meine Haut streichelten, sprang ich auf.
“Lasst das!” Mein Körper reagierte eigenartig darauf und damit konnte ich aktuell nicht umgehen. “Ich will nicht, dass ihr mich ohne Erlaubnis anfasst!” Das Massieren war vorhin noch gerade so aushaltbar gewesen, aber mehr duldete ich auf keinen Fall. Ich hatte genügend Aufzeichnungen gesehen, was die Dinger hier sonst so alles mit mir anstellten und davon brauchte ich gewiss keine Auffrischung. “Schaltet euch ab. Alle!” Früher oder später würde ich wieder eine von ihnen in Anspruch nehmen müssen, das war mir klar, aber ich wollte diese Notwendigkeit so lange wie möglich aufschieben.
“Wie Ihr wünscht.” Alle Puppen verneigten sich simultan und gingen anschließend zu der Sitzecke, die aus vielerlei Kissen bestand, um sich dort niederzulassen. Erleichtert atmete ich einmal tief durch, schnappte mir anschließend noch eine Handvoll dieser silber-blauen medizinischen Kugeln, die ich in meiner Hosentasche verstaute, und trottete schließlich ebenfalls in die Heilkammer. Ich war schon richtig gespannt, wie lange Dezeria und mein Bruder mich beschäftigen konnten, bevor die Langeweile wieder Einzug hielt und sich damit auch meine körperliche Schwäche von Neuem bemerkbar machte.
“Und? Wie steht’s um ihn?” Ich lehnte mich entspannt an den Türrahmen und betrachtete das Treiben. Die Maugeri tippte an dem Bedienelement der Stasekapsel herum, während Dezeria meinem darin liegenden Bruder sanft das Gesicht streichelte. Die Kammer füllte sich bereits mit einem zähflüssigen blauen Gel und würde ihn bald restlos überziehen.
“Ich habe alle Einstellungen so weit an seine Bedürfnisse angepasst. Wie schnell er sich jedoch von den vielen inneren Verletzungen erholt, wird sich zeigen.”
“Hm ...” Das hieß warten. Wie langweilig. “Und bei dir, Dezeria?” Sie besaß eine auffällige schwarze Narbe an der rechten Schulter, die zusätzlich auch noch leicht blutete. “Du hast eine mir unbekannte Brandwunde. Was ist passiert, nachdem mein Vater spektakulär auferstanden ist? Habt ihr noch einmal mit ihm gekämpft?”
“Wie?” Sie drehte den Kopf zu mir. “Du hast das gesehen? Du warst doch gar nicht dabei.”
“Ich habe es durch die Überwachungssysteme mitverfolgt.”
“Überwachungssysteme? Ist das Rea-Technik?” Diese Gegenfragen nervten. Warum gab sie mir denn keine vernünftige Antwort? Ich war es hier schließlich, der etwas wissen wollte!
"Kurz gesagt. Ja.” Die Maugeri stellte sich an ihre Seite. “Das Schiff ist an fast allen Stellen mit Kameras ausgestattet. Sprich man muss nicht vor Ort sein, um sehen zu können, was sich dort abspielt.” Sie schöpfte mit einer Hand etwas von der blauen Flüssigkeit aus der Kapsel, bevor die Verschlusskappe mit einem lauten Klicken alles abriegelte. ”Darf ich? Das Ail-Gel sollte auch von Euch erst einmal die größten Schmerzen nehmen.”
“Das geht? Ganz ohne diese Maschine?”
“Der Heileffekt ist nun natürlich nicht sehr ausgeprägt, aber wird Euch dennoch Linderung verschaffen.”
“Das wäre schön.” Sie zuckte kurz zusammen, als die Puppe sie berührte. “Es brennt fürchterlich ...”
“Das wird gleich vergehen. Habt keine Angst, ich bin vorsichtig.”
“Danke.” Nun richtete sich ihre Aufmerksamkeit wieder auf meinen Bruder. “Das Zeug steigt immer noch. Nicht, dass Reznick ertrinkt ...”
“Wird er nicht. Keine Sorge. Das Ail-Gel erlaubt die Atmung, da es aus –”
“Genug davon!” Meine Geduld war am Ende. “Was ist jetzt? Es war äußerst interessant euren Kampf mit anzusehen und ich will jetzt wissen, wie er ausgegangen ist.”
“Interessant?!” Dezeria warf mir einen wütenden Blick zu. “Hat es dir etwa spaß gemacht, uns leiden zu sehen?!” Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
“Warum bist du jetzt sauer?” Das verstand ich nicht. Ich hatte schließlich nichts getan, was solch eine Reaktion rechtfertigte. “Beantworte doch einfach meine Frage. Was ist passiert, nachdem mein Vater sich in Blitz gehüllt hatte? Wo habt ihr ihn gelassen? Erzähl mir ausführlich von eurem Kampf, ich will alles wissen.”
“Dieses Monster hat uns aus Spaß gequält!” Ihre Augen glühten leuchtend weiß und auch ihr Sklavenhalsband mit dem eingearbeitetem Kristall flackerte wild. Ich wusste, was das bedeutete. Sie nutzte Essenz, oder wollte es zumindest. Faszinierend. “Ich weiß nicht, wo er jetzt ist und es ist mir auch herzlich egal, solange er es nicht wagt, hierher zu kommen!”
“Und wenn er doch kommt? Was machst du dann? Noch einmal kämpfen?” Das würde sicherlich unterhaltsam werden, doch bevor Dezeria antworten konnte, mischte sich die Maugeri.
“Re’Nya’Ca Fyl. Leopold Weckmelan ist aktuell vollkommen mit sich selbst beschäftigt. Sein Körper bricht in Essenz und diesen Vorgang rückgängig zu machen kosten ihn viel Kraft und Zeit.”
“Ah, gibt es davon Aufzeichnungen? Das will ich unbedingt sehen. Wo ist er? Bring mich hin!” Alles mit diesen Fähigkeiten interessierte mich brennend. Ich hatte bereits freudig das mit dem Wind, der in mir steckte, ausprobiert. Es war leicht gewesen. Wie das Atmen selbst und zugleich unbeschreiblich machtvoll. Hätte mich meine blöde Schwäche nicht aufgehalten – wer weiß. Irgendwie kribbelte es mir in den Fingerspitzen, bei dem Gedanken, meinen Vater herauszufordern. Würde ich ähnliche Fortschritte dabei erreichen können, wie mein Bruder? Oder doch gänzlich scheitern und zusammenbrechen?
“Das ist nicht möglich.” Die Worte der Puppe waren wie ein Schlag ins Gesicht.
“Was?! Wieso?” Genervt drehte ich herum. “Ach, spar dir die nichtssagenden Antworten. Ich sehe selbst nach.” Warum unterhielt ich mich überhaupt mit einer künstlichen Lebensform? Die Tür meines Zimmers stand ja immerhin noch offen. Ich würde meinen Vater schon irgendwo finden.
“Hendrickson, warte!” Sie griff nach meinem Arm, was mir umgehend eine Gänsehaut bescherte.
“Fass mich nicht an!” Zu ihrem Glück ließ sie mich sofort los, andernfalls hätte ich sie in kleine Stücke zerteilt.
“Er würde dich töten. Du darfst nicht zu ihm.” Ich runzelte die Stirn. Diese Aussage war doch reichlich überzogen.
“Quatsch. Warum sollte er das tun?” Dezeria schnaubte abfällig.
“Als wenn dieses Monster einen Grund brauchen würde.”
“Wenn es ihm nur darum gegangen wäre, euch zu töten, hätte er das wohl locker gekonnt, oder nicht? Er wollte eure Fähigkeiten testen. Also jedenfalls die meines Bruders.” Ich hätte vermutlich ähnlich gehandelt. Es gab nichts Schöneres, als mit den Elementen zu spielen. “Ich bezweifel daher stark, dass er mich umbringen würde, wenn ich ihn aufsuche.”
“Wird er.” Mein Blick fixierte die Puppe. “Er kann es in seinem aktuellen Zustand nicht beeinflussen, daher wurde Reznick überhaupt erst so schwer verletzt.”
“Er hat eben nicht richtig aufgepasst.” Ich zuckte mit den Schultern. Bei ihrem Kampf hatte ich so viele Fehler gesehen. “Vergebene Chancen. Fehlende Konzentration ...”
“Was soll der Blödsinn?!” Dezeria wurde wieder wütend oder war es immer noch. Schwer zu sagen. “Willst du damit andeuten, dass es unsere Schuld gewesen ist?” Ich überlegte. War schuld das richtige Wort dafür?
“Ich finde, er war unwillig zu lernen. Wenn er auf die Worte unseres Vaters gehört hätte, wäre es sicher anders gelaufen.” Irgendetwas knackte und dann spürte ich Kälte. Unfassbare Kälte. Interessant. Der Bleasta an ihrem Halsreif war zersprungen. Essenz wirbelte für mich gut sichtbar in Form von grell leuchtenden Fäden um sie.
“Auf wessen Seite stehst du? Auf seiner oder auf unserer?” Oh, sie zu reizen machte unglaublich viel Spaß.
“Auf meiner.” Mit einem breiten Grinsen sendete ich einen Lufthauch in ihre Richtung. Ich wollte ausprobieren, ob ich ihre Fähigkeit beeinflussen konnte. Es wäre lustig, wenn sich ihr Eis mit meinen Luftströmen lenken ließ.
“Hört auf!” Die Maugeri stellte sich genau zwischen uns. “Fräulein Dezeria, bitte. Das ist nicht hilfreich.” Ihr ernster Blick traf anschließend mich. “Und du, Hendrickson, dein Vater nutzt das Callyn, das wird dir doch ein Begriff sein.” Ich hob eine Augenbraue. Das war mir in der Tat ein Begriff. Alle Rea reagierten darauf. Der Königsruf wirkte ähnlich wie das Auwolast und doch irgendwie ganz anders. Unterbewusst eben. “Bitte zügelt eure Fähigkeiten. Es wurde bereits genug gekämpft und die Zeit drängt. Wir schweben alle in Gefahr. Die Tyschenka nimmt immer weiteren Schaden. Wir müssen das Schiff verlassen.”
“Verlassen?” Das klang verlockend. “Wohin?”
“Nach Weckmelan.”
“Hm ...” Die Parzelle meines Vaters. Eigentlich war es auch egal, wohin es ging. Hauptsache ich kam hier weg. So sehr mich das mit den Elementaren auch faszinierte, ich wollte keine Bekanntschaft mit dem Callyn machen. Mein Vater hatte einige Experimente mit unterrangigen Rea durchgeführt. Eins verrückter als das andere und immer endete es blutig. “Gut, warum nicht.” Auf der Welt gab es zumindest viele Berge. Wie es sich wohl anfühlte, den Wind vollkommen auf einem Planeten zu entfesseln?
“Du willst wirklich mit uns kommen?” Dezeria musterte mich abschätzig. “Das letzte Mal hast du mich wegen etwas zu Essen im Stich gelassen.” Ich zuckte mit den Schultern.
“Ich hatte Hunger.” Damit war für mich das Thema auch erledigt. “Also. Was ist jetzt? Gehen wir nun zum Hangar?”
“Nicht ohne Reznick!” Stimmt. Da war ja was. Lästig. Das hieß warten. Ich hasste es jetzt schon. Wobei.
“Haben wir denn Zeit dafür? So weit ich weiß, hat mein Vater die Reichweite des Callyns nie ermitteln können.
Was, wenn es sich bis zu uns ausbreitet? Ich habe keinen Bock, mich ebenfalls davon erwischen zu lassen.“
“Ist es das? Dieses Callyn, was ihn leiden lässt? Dann ist es noch nicht vorbei? Es kann ihn auch hier treffen?”
“Die Chance besteht. Das ist korrekt.” Die Puppe wandte sich ganz Dezeria zu. “Wirklich sicher wird es erst sein, wenn wir das Schiff verlassen haben. Reznick ist dafür aktuell jedoch zu schwer verletzt und die Stasekapsel in Betrieb nicht transportfähig. Mein Plan sieht vor, dass er in der Zeit, in der ich die anderen Elementare hole, genesen kann. Während ich nicht da bin, werdet Ihr seinen Zustand überwachen müssen.”
“Ich? Das ist Rea-Technick. Ich kann damit nicht umgehen! Zudem ... wie soll ich erkennen, wenn etwas nicht stimmt? Reznick ist bewusstlos. Wenn er nun in diesem Ding ebenso leidet ... K-kann er darin sterben?” Ihre Stimme bebte. Sie schien wahrlich viel für meinen Bruder zu empfinden. Schon seltsam. Mir war es nach wie vor egal, ob er lebte oder starb.
“Das Gerät ist ungefährlich und so eingestellt, dass Ihr es jederzeit mit einem simplen Knopfdruck öffnen könnt.” Sie zeigte auf die entsprechende Stelle. “Seid unbesorgt. Ich werde diese Räumlichkeiten abschirmen, was das Callyn abmildern wird, sollte sich der Wirkungsbereich bis hierher ausdehnen. Außerdem werde ich für Euch immer erreichbar sein, selbst wenn ich unterwegs bin.” Eine der geräuschlastigen weißen Drohnen, die sich unentwegt in ihrer Nähe tummelten, schwebte hinab und nahm auf ihrer ausgestreckten Hand platz. “Ich zeige Euch jetzt, wie Ihr mit mir in Kontakt treten könnt, sollte etwas vorfallen. Ihr müsst dazu ...” Ich drehte herum und ging. Jemandem, ohne ein Driv-Cor-Implantat etwas beizubringen, war doch unglaublich lästig. Man musste das Gesagte ständig wiederholen und selbst dann war nicht sicher, ob derjenige alles einhundertprozentig verinnerlicht hatte. Es würde Fragen über Fragen nach sich ziehen. Ich stöhnte und hielt mir den Kopf. Der Gedanke an diesen Ablauf nervte mich derart, dass ich eine der medizinischen Kugeln aus meiner Hosentasche kramte und essen musste.
“Besser ...” Ich streckte mich ausgiebig und blickte anschließend neugierig zur Tür. Sie stand noch immer offen. “Hm ...” Was hinderte mich eigentlich, selbst den Hangar aufzusuchen und zu verschwinden? Richtig. Gar nichts.
Mit langen Schritten trat ich hinaus in den Flur, hielt dann jedoch überrascht inne. Gleich rechts neben mir saßen zwei Leute auf dem Boden. Lange musterte ich die beiden. Das waren ohne Zweifel Elian und Suciu. Dank dem Wissen, das mir mein Vater zur Verfügung gestellt hatte, wusste ich nun ihre Geschichte und auch ihre Fähigkeiten. Er konnte Licht sowie Schatten heraufbeschwören, während sie Pflanzen lenkte und zum Wachsen brachte – was ich jetzt nicht so spektakulär fand. Mein interesse an ihr war dementsprechend gering. Selbst ihre zerstörte Erscheinung war mir gleich. Währe ich für Mitgefühl empfänglich, würde die Sache vielleicht anders aussehen, jetzt jedoch galt allein Elian meine Aufmerksamkeit.
Mein Vater hatte mir das mit dem Geneva erklärt. Es gab neben der natürlichen Anziehung eben auch eine Art Abstoßung. Ich verstand nun, warum ich Elian bei unserem letzten Aufeinandertreffen derart verabscheut hatte. Er war mein Gegenpol – wobei es zu wissen jetzt lustigerweise auch nicht viel änderte. Hier neben ihm zu stehen reizte alles in meinem Innern. Verrückt. Ich hatte unbändige Lust, ihm etwas anzutun, obwohl es keine logische Begründung dafür gab. Weder hatte er mir etwas angetan noch bedrohte er mich in irgendeiner Weise. Er saß vollkommen friedlich mit Suciu in den Armen da. Kuschelte mit ihr. Und doch. Ich wollte ihn verletzen. Ihn töten.
Plötzlich sah er zu mir auf. Sein Herzschlag beschleunigte und ihm wurde deutlich unwohl. Ja, blanke Panik war ihm ins Gesicht geschrieben. In seinen weit aufgerissenen Augen konnte ich dicke schwarze Adern erkennen. Er war von Schatten belastet und meine Anwesenheit schien das noch zu verstärken. Da musste ich aufpassen. Ich wusste von seinem kürzlichen Zusammenbruch und so sehr mich auch eine Auseinandersetzung lockte, ich durfte diesem Impuls nicht nachgeben. Das wäre äußerst dämlich. Seine Fähigkeit war mächtiger als meine.
“Alles gut. Ich hau schon ab.” Gesagt. Getan. Ich schritt an ihnen vorbei, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, und nahm Kurs Richtung Hangar. Weit kam ich jedoch nicht. Keine fünf Meter weiter hörte ich die Maugeri hinter mir.
“Hendrickson!”
“Jap, das ist wohl mein Name.” Ich dachte nicht daran, anzuhalten. Was auch immer die Puppe wollte, es war mir gleich.
“Warte!” Sie rannte an mir vorbei, stellte sich mitten in den Weg und hielt mir ein Tablet hin. Verwirrt darüber runzelte ich die Stirn.
“Was soll das?”
“Es sind Aufzeichnungen von deinem Vater darauf. Ich habe ein Stück seines Essenzausbruchs mit einer Drohne gefilmt.”
“Oh, fabelhaft!” Freudig griff ich nach dem Gerät, welches sie jedoch sofort zurückzog.
“Nicht so schnell.” Sie wedelte damit herum. “Ich habe eine Bedingung."
“Bedingung?” Was sollte dieser Quatsch? “Gib es mir, das ist ein Befehl!” Meine Worte zeigten keinerlei Wirkung. Seltsam. Die Maugeri verhielt sich nicht wie die anderen Bediensteten.
“Ich will, dass du mich zu Zerian und Johanna begleitest.” Ich schmunzelte darüber. Was sie wollte, war doch null und nichtig. Mit meinem Wind könnte ich sie zudem spielend zerstören und mir dann einfach nehmen, was ich wollte. “Spar dir das.“ Als hätte sie meine Gedanken gelesen, reichte sie mir nun wieder das Tablet. “Du willst dich aller Wahrscheinlichkeit nach alleine Aufmachen, aber was ist, wenn du unterwegs einen Anfall erleidest und zusammenbrichst? Deine Schwäche könnte dich jederzeit in die Knie zwingen oder schlimmer. Dich töten.” Hm. Guter Punkt.
“Und wenn ich dir folge nicht, oder wie?” Ich nahm ihr das Gerät ab und tippte eifrig auf dem Bildschirm herum.
“Wenn meine Berechnungen stimmen, könnten alle gesund und munter die Tyschenka verlassen, du eingeschlossen.”
“Hmm ...” Ich betrachtete fasziniert die Aufnahme. Man sah deutlich ein gigantisches schwarzes Metallgeflecht, das von meinem Vater stammen musste. Es füllte den gesamten Flur und glich einer Dornenranke, die zusätzlich von Blitzen durchzogen wurde. Ein atemberaubender Anblick.
“Warte bitte kurz hier. Ich muss noch Vorbereitungen treffen.” Ich sah kurz auf. Die Puppe ging tatsächlich zurück. Sie schien meine Entscheidung bereits zu wissen, obwohl ich ihr keine Antwort gegeben hatte. Unheimlich. Denn ja, ich würde mit ihr kommen. Es lag dabei nicht allein an meiner Schwäche, sondern an der schlichten Tatsache einer Gruppe. Das würde mir viel Ablenkung verschaffen. Dieses ganze Vorhaben würde das. Fragte sich nur, was danach mit mir passierte.
Nachdenklich lehnte ich mich an die graue Wand des Flurs und wog ab, ob das Schiff zu verlassen wirklich eine so gute Idee war. Natürlich reizte es den Wind in mir, sich auf einem Planeten frei und ungezähmt auszutoben, aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war, würde mich das vermutlich umbringen. Schon meine kleinen Wind-Tests hatten mich an den Rand des belastbaren gebrach. Und wie stand mein Vater überhaupt dazu? War das in seinem Sinn, wenn ich einfach abhaute? Würde ich dann noch mein Geschenk bekommen? Oder war es ihm egal, weil er gerade genug mit sich selbst zu tun hatte?