•‡Dezerias Sicht‡•
Tiefste Verzweiflung erfüllte jeden Winkel meines Seins. Ich sah Reznick, wie er brutal mit seinem Vater kämpfte und dabei unablässig verletzt wurde, ohne dass ich ihm helfen konnte. Ich wusste nicht warum, aber mein Körper war schlicht unfähig, sich zu bewegen. Kein Muskel rührte sich. Kein Wort verließ meinen Mund. Nicht einmal das Eis reagierte. Ich war vollkommen erstarrt. Stand einfach nur da und sah zu. Dabei so nah, dass ich sie hätte berühren können und gleichzeitig so weit weg, als währe ich gar nicht anwesend. Als würde ich nicht existieren. Und doch tat ich es. Ich war hier. Gefangen an diesem schrecklichen Ort und dazu verdammt, alles mit anzusehen.
Es war die Hölle. Innerhalb eines Augenblicks tränkte Reznicks Blut in rauen Mengen den Boden. Ein Meer aus flüssigem Rot umspielte meine Füße und bildete mit der umliegenden Dunkelheit einen gigantischen Strudel, der meine Sicht verschlang. Ich fühlte Hilflosigkeit. Hilflosigkeit, die so sehr schmerzte, dass es mir den Atem raubte. Mein Herz verstummen ließ.
Ich fühlte mich schwach, so verdammt schwach. Selbst als das grinsende Monster in Menschengestalt Reznick mit einer fließenden Bewegung den Arm abtrennte, blieb ich reglos. Still. Einzig ein feines Plätschern war zu hören. Meine Tränen fielen wie ein endloser Regen und umspielten das Geschehen, das unwirklicher nicht hätte sein können. Die Umgebung wechselte wild hin und her. Mal saßen wir an einem gedeckten Tisch, dann befanden wir uns wieder in diesem leeren Raum und der Kampf begann von Neuem.
Mein Verstand zerfloss Stück für Stück bis zu jenem Moment, in dem Reznick vor mir auftauchte und mich emotionslos anstarrte. Er wollte mich berühren und etwas sagen, kam aber nicht dazu. Sein Vater stand plötzlich bei uns und schlug ihm, ohne zu zögern, den Kopf ab. Der Schock darüber befreite mich zum Glück endlich von diesem grauenvollen Hirngespinst. Ich riss vor Entsetzen die Augen auf und sog gierig Luft in meine brennenden Lungen. Was ich jedoch sofort bereute. Der beißende Gestank von Qualm bescherte mir umgehend einen üblen Hustenanfall. Jämmerlich rang ich nach Atem und zuckte dabei mehrfach schmerzerfüllt zusammen. Irgendetwas stach dermaßen heftig in meinem Rücken und der Schulter, dass ich beinahe wieder bewusstlos wurde. Mein Wachsein änderte also nichts daran, dass ich mich nach wie vor in einem Alptraum befand.
Wimmernd lag ich auf dem Boden. So gut es eben ging, nahm ich eine Schonhaltung ein und bedeckte das Gesicht mit einem Stück Stoff meines ramponierten Kleides. Es dauerte eine Weile, bis ich halbwegs dazu in der Lage war, mich etwas aufzurichten und umzusehen. Von der Helligkeit her glich es meiner Wahnvorstellung. Nur vereinzelt sorgten kleine Funken, Flammen oder zischende Blitze für etwas Licht. Die Wände waren überall großflächig aufgerissen oder geschmolzen, was vorher definitiv nicht so ausgesehen hatte. Was war bloß passiert? Wo war Reznick oder dieses abscheuliche leuchtende Monster hin?
Meine Augen hefteten sich an die Umrisse des Torbogens. Der Ausgang stand offen. Ob sie dort hinaus waren und jetzt woanders weiterkämpften? Was wenn ich mir Reznicks Enthauptung nicht eingebildet hatte und er schon lange tot war? Oder er genau in diesem Augenblick starb? Vielleicht auch nach wie vor von diesem Irren gefoltert wurde? Möglichkeiten gab es da viele und jede einzelne davon bereitete mir unsägliche Magenkrämpfe.
Mit aller Kraft unterdrückte ich den Drang, mich zu übergeben, und quälte mich auf die Füße. Ich musste nach Reznick sehen. Der Gedanke, dass er nun alleine seinem abartigen Vater gegenüberstand und wahrscheinlich schwer verletzt war – nein. Das hielt ich keine Sekunde länger aus. Selbst mit dem Wissen, das meine Hilfe nutzlos sein würde, so konnte ich dennoch nicht anders. Ich musste es versuchen – musste zu ihm. Alles in mir schrie förmlich danach.
Entschlossen ignorierte ich das schreckliche Ziehen in meinem Rücken sowie die Übelkeit und eilte zum Durchgang. Ich beschleunigte meine Schritte, stoppte aber dann abrupt, weil sich plötzlich noch ein anderes Gefühl in mir ausbreitete, welches ich nicht benennen konnte. Seltsam. Mein Körper wollte nicht weiter, als würde mich etwas genau in die andere Richtung ziehen. Äußerst dringend. Geradezu zwingend.
Beunruhigt drehte ich herum und blickte durch den dunklen Raum. War das der Einfluss dieses Monsters? Hatte er mir wieder etwas angetan während meiner Ohnmacht? Mir erneut sein Blut – nein. Das war es nicht. Zielsicher fanden meine Augen zwischen all der Zerstörung und den vielen Eisbrocken den Grund für mein merkwürdiges Empfinden. Eigentlich konnte ich nur grob einen Menschen erkennen, der kniend auf dem Boden saß und doch spürte ich es unumstößlich. Dieses Prickeln. Diese tiefe Sehnsucht.
“Reznick!” Mein Verstand setzte aus und ich rannte sofort zu ihm. Vergessen war all mein Leid. “O Gott, Reznick!” Mit rasendem Herzen schossen mir tausend Fragen durch den Kopf. Warum bewegte er sich nicht? Wieso hockte er dort? Warum reagierte er nicht auf meine Stimme? Weshalb starrte er auf den Boden? War er es vielleicht doch nicht? Eine Täuschung? Ein neues widerliches Spiel seines Vaters?
“Reznick!” Angst wallte wie ein gewaltiger Sturm in mir. “Kannst du ... mich hören?” Wankend blieb ich vor ihm stehen und sank auf die Knie. Er wirkte wie eine Statue. Gebrochen. Tod. “Oh, Reznick ...“ Mit zitternden Händen und laufenden Tränen berührte ich sein Gesicht. Ein Ruck ging sogleich durch seinen gesamten Körper und ließ seine Augen kurz silber aufleuchten. Er sah mich dabei nicht direkt an. Sein Blick schien durch mich durch zu gehen. Erkannte er mich nicht?
“Reznick? Ich bin es ...” Vorsichtig streichelte ich seine Wangen. Am liebsten hätte ich ihn umarmt, aber ich war mir nicht sicher, ob ihm das Schmerzen bereiten würde. Blutungen konnte ich bei dem schlechten Licht zwar nicht erkennen, aber allein schon, dass er aufrecht das Bewusstsein verloren hatte, machte seinen katastrophalen Zustand deutlich.
“De-zeria ...” Blitzschnell umfasste er mich mit einem Arm und zog mich zu sich. “... bleib.”
“Alles gut. Ich bin hier ...” Schniefend schlang ich nun doch die Arme um ihn, wodurch er endgültig zusammenbrach. Mit einem qualvollen Stöhnen sank er gegen mich.
“Du wolltest mich verlassen ...” Seine Hand krallte sich in mein Kleid.
“Nein.” Behutsam streichelte ich seinen Rücken, dabei immer prüfend, ob sich dort frische Schnittwunden befanden. “Ich habe dich nicht gesehen ... Der Raum ist zerstört und die Tür steht offen. Ich dachte erst, ihr kämpft draußen weiter und das konnte ich nicht ertragen. Ich wollte dir doch helfen ... Weißt du denn, was passiert ist? Wo ist dein Vater jetzt? Hast du es ... geschafft?” Wobei ich das doch arg bezweifelte. Wenn ich eines bei unseren Angriffen gelernt hatte, dann das man diesem Monster nichts anhaben konnte. Mein Eis war völlig wirkungslos gewesen und auch bei Reznick hatte es nicht anders ausgesehen. Sein Vater heilte sich mühelos jedes Mal aufs Neue, egal, wie oft wir ihn getroffen hatten oder wie stark unsere Gegenwehr ausfiel. Selbst nachdem er Reznick mit einem brutalen Blitz quer durch den Raum geschleudert hatte und ich ihn daraufhin mit all meiner Wut in Form einer Eisspitze von oben bis unten durchbohrte – nichts. Nicht den geringsten Kratzer hatte er davon getragen!
“Heka war da ... Sie hat ihn mitgenommen ...” Ich runzelte die Stirn. Der Namen war während ihres Gesprächs auch schon gefallen und schien mehrere Bedeutungen zu haben. Was mich verwirrte. Das Monster hatte damit zweifellos seine Frau gemeint, aber Reznick wohl die Rea-Technik, welche ich auch schon kennenlernen durfte. Um wen also ging es jetzt und half uns das oder nicht? Würde es schlimmer werden oder hatte sie uns nun befreit?
“Wer ist das? Deine Mutter od–”
“NENN SIE NICHT SO!” Ich zuckte erschrocken zusammen. Seine Wut peitsche regelrecht auf mich ein und auch seine Haut veränderte sich. Sie wurde erst rau und dann scharfkantig, sodass ich schnell meine Hände von ihm nahm. Half jedoch wenig. Überall sonst, wo er mich berührte, piekste es und reizte mein Eis. Von einer Sekunde auf die nächste überzogen mich schützende Kristalle und froren auch ihn ein.
“Reznick ...” Langsam legte ich die Handflächen zurück auf seinen stacheligen Rücken. Ich zwang mich zur vollkommenen Ruhe, um die Situation nicht noch schlimmer zu machen. “Bitte hör auf damit, sonst tun wir uns gegenseitig weh und das will ich nicht.” Ebenso wollte ich nicht auf Abstand gehen müssen. Seine Nähe war gerade Balsam für meine Seele und bewahrte meinen Verstand davor, verrückt zu werden. Bei ihm fühlte ich mich gut, obwohl mein Körper nach wie vor ordentlich schmerzte.
“Was? N-ein!” Sein Metall verzog sich sofort, während er panisch versuchte, sich aufzurichten, was ihm nicht einmal Ansatzweise gelang. Er war zu schwach. Hätte ich ihn nicht festgehalten, wäre er durch sein Gezappel einfach zur Seite gekippt. “Das war ... keine Absicht!” Er keuchte angestrengt. “Ich will ... dich nicht verletzen! Wollte ... ich nie! Ich –” Seine kümmerlichen Bewegungen stoppten abrupt. Wie ein lebloser Sack Mehl hielt ich ihn im Arm.
“Reznick?” Trotz der unglaublichen Sorge in mir, behielt ich die Nerven. Ich spürte seinen Herzschlag. Er war lediglich bewusstlos, was ich nur allzu gut nachvollziehen konnte. Ich vermied es deswegen auch, ihn aufzuwecken. Später würde das Grauen mit Sicherheit wieder von vorn beginnen und solange wir noch alleine waren, sollte er die Zeit zum Ausruhen nutzen. Wir beide.
Mit etwas Konzentration nahm ich die entstandene Eisschicht von uns, drehte ihn vorsichtig auf den Rücken und bettete seinen Oberkörper sowie den Kopf liebevoll auf meinen Schoß. Anschließend blickte ich durch den Raum. Es stank nach wie vor fürchterlich nach Verbranntem, jedoch wurden die lichtspendenden Flammen immer kleiner und auch die Blitze hatten sich weitestgehend verzogen. Ich konnte kaum mehr etwas erkennen. Wobei es hier ohnehin nichts gab, womit ich Reznicks Leid lindern konnte. Keine Decke oder Kissen und mal eben weggehen, um sich im Schiff umzusehen, war keine Option. Ich konnte und wollte ihn nicht alleine lassen.
Frustriert über die Situation, tat ich das Einzige, was in meiner Macht stand. Wortwörtlich. Mit lautem Knacken und Knirschen ließ ich einige Meter entfernt massives Eis entstehen, das sich wie eine Kuppel über uns stülpte. Immer größer und dicker wuchsen die Kristalle. Meine Kontrolle über diese göttliche Fähigkeit geriet kein einziges Mal ins Wanken. Im Nu entstand ein undurchdringbarer Kokon, der uns vor allem beschützen würde. Leider nicht für immer, aber für den Moment fühlte ich mich sicher. Abgeschirmt vor der Welt. Unerreichbar für das Monster.
Erleichtert streichelte ich Reznicks Kopf und horchte nach seinem leisen Atem. Mittlerweile war es zwar richtig Dunkel um uns herum, aber das war keineswegs unangenehm. Das Eis vervielfachte hundertfach jeden noch so entfernten Funken oder Glutpunkt eines Schwelbrandes. Es funkelte von alles Seiten, wie ein echter Sternenhimmel. Einfach wunderschön und so herrlich friedlich. Es lud geradezu zum Schlafen ein, aber dem konnte ich nicht nachgeben. Zu groß war die Angst vor dem Aufwachen – vor dem Was-Wäre-Wenn. Immerhin könnte das Eis einstürzen, sich zurückziehen oder auch unkontrolliert weiter wachsen und uns aufspießen, wenn ich nicht aufpasste. Dann natürlich noch all die Dinge, die sein Vater tun würde, wenn er wieder auftauchte. Es gab so schrecklich viele Möglichkeiten, was passieren könnte, und nichts davon war etwas Gutes. Am schlimmsten quälte mich dabei der Gedanke, alleine aufzuwachen. Ohne Reznick in einem leeren Raum zu sein. Nicht zu wissen, wo er war oder was das Monster gerade mit ihm anstellte. Dieses entsetzlich hilflose Gefühl hatte mir vorhin schon gereicht. In diesem grauenvollen Gebilde wollte ich nicht noch einmal stecken.
Kurz kniff ich die Augen zusammen, schüttelte den Kopf und konzentrierte mich wieder voll und ganz auf Reznicks Wohlbefinden. Seine Atmung ging schwerfällig aber dafür gleichmäßig und sein Herz schlug in einem ruhigen Takt. Sorgen bereitete mir dagegen seine Körpertemperatur. Da ich alles was die Kälte betraf, schlecht spürte, konnte ich nicht einschätzen, wie sehr mein Eis die Umgebung mittlerweile abgekühlt hatte. Ich war jedoch der Meinung, dass er sich nicht warm genug anfühlte. Bei dem schlechten Licht konnte ich zudem nicht erkennen, ob seine Haut noch diesen sonderlichen Grauton besaß, der ihn vor meiner Fähigkeit schützte. Zittern tat er jetzt zwar nicht, dennoch bereitete es mir ein immer stärkeres Unbehagen. Ich wollte nicht, dass er meinetwegen fror, aber da er nichts am Leibe trug, war das leider nur allzu wahrscheinlich.
Kurzum griff ich nach dem Saum meines Kleides und zupfte es langsam unter meinen Beinen hervor. Danach hob ich sanft Reznick an, damit ich den Stoff weiter hinaufbekam und letztlich mit einem Ruck über den Kopf ausziehen konnte. Auch wenn mein Rücken sich aufgrund dieser Bewegungen mit einem stechenden Brennen beschwerte, lächelte ich. Das Kleidungsstück war nicht besonders dick, an etlichen Stellen gerissen und zerschnitten, aber es würde ihn etwas wärmen können.
“Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun ...” Liebevoll deckte ich ihn zu und schlang noch zusätzlich meine Arme um seinen Oberkörper – kuschelte mich an ihn, so gut es in dieser Position eben ging. Dabei achtete ich sehr genau darauf, ihm keine zusätzlichen Schmerzen zu bereiten oder seinen Zustand irgendwie anderweitig zu verschlimmern. Für mich selbst war diese Haltung zwar überaus unbequem, gab mir aber gleichzeitig ein Hochgefühl, das mich vollauf entschädigte. Sein überaus wohltuender Geruch schmeichelte meine Sinne und ließ mich langsam aber sicher unsere Situation vergessen.
Mit einem leisen Seufzen schmiegte ich etwas umständlich meinen Kopf an seine Wange und blendete alle übrigen Widrigkeiten einfach aus. In meiner Vorstellung waren wir nicht hier. Nicht in dieser Hölle. Nicht von Erschöpfung und Leid geplagt. Nicht in Dunkelheit gehüllt. Nein. Wir waren an einem durch und durch schönen Ort. Berührten uns. Küssten uns ...
*
Wie lange ich in diesem wundervollen Wunschtraum steckte, konnte ich nicht sagen, außer, dass er mit der Zeit immer schöner und vertrauter wurde. Wir saßen Arm in Arm an meinem Lieblingsplatz. Einem kleinen grünen Hügel, der zur Blütezeit allein aus unzähligen bunten Farbklecksen zu bestehen schien und wenn man sich dann noch in den frühen Morgenstunden dorthin schlich – ein unbeschreiblicher Anblick.
Ich schmiegte mich enger an Reznick, während die ersten Sonnenstrahlen die vielen Blumen vor uns weckte. Das Licht verfing sich dabei in einigen Tautröpfchen und verpasste dem Ganzen ein geradezu göttliches Funkeln. Stärker und stärker, bis es regelrecht blendete. Verwirrt darüber runzelte ich die Stirn und öffnete schließlich die Augen, nur um im selben Moment zischend die Hände hochzureißen. Was bitte war hier los? Das Eis leuchtete derart hell, als würden wir uns mitten in einer Sonne befinden oder gerade von einer verschlungen werden.
“Oh, Gott!” Angestrengt spähte ich durch meine Finger und versuchte, irgendetwas zu erkennen, aber es ging nicht. Nur grelles Gelb von allen Seiten. Kam das etwa von dem Monster? Machte er etwas an meinem Eis, um hineinzukommen oder um uns rauszuscheuchen? Zugegeben. Es war äußerst wirkungsvoll – versetzte mich in blanke Panik, die selbst Reznick unruhig werden ließ. Er murrte im Schlaf, während mir die gleißende Helligkeit in den Augen brannte. Allein meine Kristalle aufzulösen hätte es gemindert, aber dann stand uns weitaus größeres Grauen bevor ...
“De-Dezeria? Bist du da drinnen?”, rief plötzlich eine mir vertraute Stimme und ließ mich überrascht den Atem anhalten. Hatte ich da richtig gehört?
“Elian?”
“Ja! Ich bin es!” Das Licht verdunkelte sich schlagartig und nahm ein erträgliches Maß an. “Hier ist alles kaputt und überall dickes Eis! Hast du die Kontrolle verloren? Brauchst du Hilfe?” Angestrengt versuchte ich herauszufinden, ob das Monster irgendwo dort draußen lauerte, aber es gelang mir nicht. Ich konnte weder mit zusammengekniffenen, noch mit weit aufgerissenen Augen etwas erkennen. Da gab es nur bunte Punkte, die in meinem Sichtfeld tanzten und weil mir das alles zu unsicher war, zog ich es lieber vor, zu schweigen. “Dezeria? Hörst du mich?” Auch darauf erhielt er keine Antwort, denn er war ganz offensichtlich nicht alleine. Ich konnte die Worte zwar nicht genau verstehen, aber er unterhielt sich ohne Zweifel mit noch irgendjemandem. “Dezeria? Bitte sag doch etwas!” Wieder erfolgte nach seinem Rufen leises Gemurmel, was meine Nervosität ins unermessliche steigerte. Ob sie gerade einen Plan schmiedeten, wie sie uns hier leichter herausbekamen?
Mit wild klopfenden Herzen legte ich die Hände auf Reznick und betrachtete ihn besorgt. Ich rang mit mir, ob ich ihn nun wecken sollte oder schlafen ließ. Er sah so verdammt fertig aus und musste sich ausruhen, andererseits konnte er viel besser abwägen, was wir nun tun sollten. Welche Möglichkeiten wir hatten. Mir selbst fielen nur zwei Dinge ein. Erneut kämpfen oder eben aufgeben. Beides war keine gute Idee.
“Dezeria? Wir holen Leo, ja?” Gänsehaut überzog prompt meinen Körper. Was hatte er gesagt? Er wollte das Monster holen? “Ich lass dir ein Licht da, aber es wird verschwinden, wenn ich mich zu weit entferne. Hab also keine Angst, falls es wieder dunkel wird. Wir sind so schnell es geht zurück!” Nein! Das war gar nicht gut und WEN, um Himmels willen, meinte er mit wir?
“Elian, warte!”
“Keine Sorge, er wird dir helfen und dich ganz schnell befreien!”
“Kommt gar nicht infrage! Dieses elende Monster würde alles tun, aber gewiss nicht HELFEN!” Wütend befahl ich das Eis beiseite. Mit lautem Knacken bildete sich ein Tunnel, an dessen Ende Elian stand und sogleich erschrocken zusammenzuckte. “Seinetwegen sieht es hier überhaupt erst so aus! Verstehst du? ER hat mit uns gekämpft! ER hat uns das angetan!” Ich deutete mit aufkommenden Tränen auf Reznick, der von dem Tumult nun auch langsam erwachte.
“Was ... soll denn der Krach?” Es folgte ein Murren, während er träge nach dem Kleid griff und sich anschließend über das Gesicht zog. “Lass mich schlafen, Heka.” Er war offensichtlich noch nicht ganz bei sich und obwohl ich an seinen freiliegenden Armen sowie Beinen deutlich die frischen Verletzungen sah, minderte sich doch meine Wut. Ich brachte sogar ein schwaches Lächeln zustande, als er sich weiter unter dem Stoff verkroch.
“Reznick?” Behutsam streichelte ich ihn. “Hörst du mich?” Wieder ein Murren.
“Lass mich ... Ich habe kein Bock aufzustehen. Was auch immer es ist, Heka, kümmer du dich darum!”
“Ich bin nicht Heka, sondern Dezeria ...” Reznick kam unter dem Kleid hervor und blinzelte mich verwirrt an, was umgehend Angst in mir aufkommen ließ. Was, wenn er mich nicht erkannte? Sich nicht erinnerte? Diese Sorge wurde allerdings sofort von viel größerer Panik verdrängt, als ich eine Bewegung im Augenwinkel wahrnahm. Elian lief los – rannte zur Seite weg.
“Halt! Elian, warte!” Mein Eis war zum Glück schneller. Ich erwischte ihn noch, bevor er mein Sichtfeld ganz verlassen konnte.
“AAHHH!” Sein angsterfüllter Schrei verpasste mir direkt ein schlechtes Gewissen. Verletzen wollte ich ihn schließlich nicht, aber dass er dem Monster Bescheid gab, konnte ich eben auch nicht zulassen.
“Moment ...” Reznick umfasste mein Handgelenk, als ich ihn von mir runter schob und aufstehen wollte. “Was zur Hölle ist hier los?”
“Elian ist da vorne.” Ich lächelte ihn liebevoll an und wand mich aus seinem Griff. “Er wollte deinen Vater holen, daher hab ich ihn festgefroren. Ich will nur kurz nach ihm sehen.”
“Hm? W-warte, was? Dezeria! Verdammt, bleib stehen!” Ich hörte nicht auf ihn und lief auf wackeligen Beinen durch den Eistunnel. Der Gedanke, Elian vielleicht etwas angetan zu haben, nagte entsetzlich an mir. Direkt bei ihm konnte ich zwar kein Blut erkennen, aber das musste nichts heißen. Quetschungen waren da eher meine Sorge. Immerhin hatte ich ihn großflächig erwischt. Bis zum Brustkorb steckte er in meinem Eis und versuchte bereits eifrig, sich mit den Händen davon zu befreien. Hektisch zerrte und drückte er an den Kristallen, jedoch ohne Erfolg.
“Tut mir leid, Elian, das wollte ich so nicht ... Habe ich dir weh getan?” Umgehend befreite ich ihn und überprüfte erstmal vorsichtig tastend seine Rippen. “Hey!” Kaum dass ich ihn berührte, stieß er meine Arme beiseite und flüchtete. Weit kam er jedoch nicht. Noch bevor ich erneut mein Eis einsetzen musste, rutschte er auf dem umliegenden Schmelzwasser aus.
“Ahh!” Er schaffte es nicht, den Sturz abzufangen, und landete der länge nach auf dem Boden.
“Elian!” Ich kniete mich neben ihm und wollte ihm aufhelfen, aber auch das ließ er nicht zu.
“Nein, lass mich!” Zitternd krabbelte er vor mir weg, was mich verwirrte. Warum reagierte er so? Hatte er jetzt derart viel Angst vor mir, dass er nicht einmal meine Nähe ertrug?
“Ich will dir doch nur helfen ...” Ich unternahm noch einen Versuch, aber auch den wehrte er ab.
“Dann lass mich gehen! Schnell! Es war ein Fehler herzukommen!” Fragend sah ich ihn an. Ich verstand es immer noch nicht, was plötzlich in ihn gefahren war.
“Bitte ...” Eine leise Stimme erklang seitlich von mir. “Bitte tu Eli nichts ...” Aber noch bevor ich richtig begriff, das dort hinten noch jemand oder besser gesagt etwas stand, sauste auch schon eine breite Klinge mit einem lauten Knall vor mir nieder und erschreckte uns beide damit fast zu Tode.
“Reznick!” Kaum ausgesprochen hob er wieder seinen verformten Arm und schlug erneut zu. Haarscharf verfehlte das Metall Elians Körper. “Hör sofort auf damit! Du machst ihm nur noch mehr Angst!” Reznick machte ein abfälliges Geräusch und sah mich emotionslos an.
“Ich wollte ihm keine Angst machen, sondern ihn töten.” Um seine Worte zu untermauern, zog er die Klinge aus dem gesplitterten Boden und ließ sie bedrohlich über Elians Kopf schweben.
“Bist du verrückt geworden? Das kann doch nicht dein Ernst sein. Nur weil er deinen Vater holen wollte, kannst du ihn doch nicht einfach umbringen!” Bei all meinem Verständnis für das erlebte Grauen, das ging definitiv zu weit. “Er tut uns nichts!”
“Pff! Ich habe sehr detailliertes Wissen über ihn in meinem Schädel und dazu noch eine Angriffsblockade, wie man sehr gut sehen konnte.” Er atmete einmal tief durch. Seine Verletzungen machten ihm nach wie vor zu schaffen, auch wenn er es nicht zeigen wollte. “Mein Vater hat das sicherlich nicht aus Nächstenliebe getan, demnach kann es nur bedeuten, dass dieser Wicht hier sein Spielzeug ist ...” Da sich sein normaler Arm nach wie vor nicht bewegen ließ, hob er die Klinge ein Stück und deutete mit der Spitze weiter nach hinten. “Und sie ebenso.” Mein Blick folgte ihm und erfasste wieder dieses Ding, bei dem ich mir immer noch nicht sicher war, ob es sich dabei um einen Menschen oder um eine Rea-Technik handelte – eine Art schwebender Stuhl mit dem Abbild eines misshandelten Menschen darauf. Ich betete für letzteres, denn wenn das wirklich eine lebendige Frau sein sollte, dann hatte sie ohne Zweifel Unvorstellbares erlebt.
So jemanden wie sie hatte ich wahrlich noch nie gesehen. Ich wusste dabei nicht, was mich am meisten schockierte. Die Tatsache, dass ihre Haut so unfassbar dunkel war und sie zusätzlich dazu noch überall tiefe Narben aufwies oder die Verstümmelungen an sich. Bei den Monden, ihr fehlten beide Beine und ein Arm! Dagegen wirkten ihre blassgrünen Augen und das ebenso göttlich anmutende grün-braune Haar fast schon unbedeutend. Kurz fragte ich mich, ob das Monster dafür verantwortlich war und uns mit diesem grauenvollen Anblick brechen wollte. Warum sonst trug sie einen durchsichtigen Stoff, damit man all ihr Leid in vollem Ausmaß sehen konnte? Zwar war auf Höhe ihrer Brüste ein schmaler weißer Streifen vernäht, aber es verdeckte keinesfalls ihre Brüste oder ihre Scham. Ich konnte genau erkennen, dass sie keine Unterwäsche trug und auch an diesen empfindlichen Stellen schwer verletzt worden war.
“Wir sind kein Spielzeug”, sprach sie plötzlich mit einer sehr leisen Stimme, mied es aber, einen von uns direkt anzusehen. “Nicht mehr.”
“Natürlich.” Reznick lachte spöttisch auf. “Dafür hat mein Vater ja jetzt schließlich uns.” Er musterte sie kurz, bevor sein Blick missbilligend auf Elian fiel. “Lass mich raten, durch ihren zerstörten Zustand kann sie nicht vom Schiff und du bist damit für alle Zeit ebenso an diesen Ort gebunden, nicht wahr?” Er antwortete nicht. Sah noch nicht einmal auf, sondern starrte mit zusammengebissenen Zähnen auf den Boden.
“Wenn das Suciu ist, dann ja. Er kann ihretwegen nicht weg ...” Das Thema hatte ich schließlich schon mit ihm durch. Sie allein war der Grund, warum Elian dieses Monster nicht verlassen konnte und jetzt, wo ich sie sah, verstand ich es auch. Sie war auf diese fliegende Rea-Technik angewiesen, die sie nicht nur überall hinbringen konnte, sondern bestimmt auch am Leben hielt. Bei dem Gedanken, was man ihr alles hatte antun müssen, allein schon, um eine derart gleichmäßige Verfärbung der Haut zu erreichen, brannten mir die Augen vor lauter Tränen.
“Vielleicht kann ich ja ihr Leid beenden.” Reznick setzte sich wankend in Bewegung. Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass er sie nun töten wollte. Elian begriff da bedeutend schneller. Kaum das Reznick einen Schritt nach vorne in ihre Richtung machte, ging ein Ruck durch seinen zierlichen Körper. Blitzschnell drehte er sich zu ihm, packte seinen Knöchel und hielt ihn fest umklammert.
“Du wirst ihr nicht zu nahe kommen ...” Seine Stimme klang unfassbar ruhig, während das Licht bei jedem Wort flackerte und schließlich eine ganze Spur dunkler wurde. Die drei leuchtenden Kugeln, die eindeutig aus seiner beeindruckenden Fähigkeit bestanden und den Flur bisher erhellten, wechselten von einem satten Gelb in ein fahles Grau.
“So?” Reznick lächelte kühl und sah abschätzig auf Elian herab. Er erinnerte mich damit unweigerlich an seinen Vater. “Was soll das werden? Sieh sie dir doch an. Sie ist blind! Dazu noch ihr restlicher verstümmelter Körper. Was hat sie schon vom Leben? Ich tue euch beiden damit lediglich einen Gefallen.” Bevor er dann aber nach ihm treten oder sonst irgendeine Dummheit machen konnte, stand ich auf und zog ihn am Ohr zurück. Elian ließ zum Glück auch sein Bein los, sodass ich den Abstand zwischen ihnen noch vergrößern konnte. Erst danach wandte ich mich wütend sowie enttäuscht an ihn.
“Hör endlich auf, dich so schrecklich zu benehmen!" So entsetzlich ihr Zustand auch war, er hatte nicht das Recht, sich so aufzuführen oder derart lapidar über ihre Leben zu entscheiden. “Ich will nicht”, ich nahm einen tiefen Atemzug und fuhr dann etwas sanfter fort, “dass du so wirst wie er ...” Reznick verstand sofort, obwohl ihm zuvor noch deutlich die Verwirrung im Gesicht geschrieben stand, schien er nun von meinem letzten Satz geradezu schockiert zu sein. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber da ergriff schon Suciu das Wort.
“Ich bin froh, zu leben.” Sie legte ihre Hand auf die Stelle, wo sich das Herz befand. “So kann ich bei Eli sein.” Und dann lächelte sie derart liebevoll, dass es mich beinahe in die Knie zwang. Da gab es keine Angst. Kein Bedauern. Sie war glücklich, trotz all der Widrigkeiten.
“Wie du willst ...” Reznick formte aus der gezackten Metallklinge wieder einen richtigen Arm und wollte meine Wange berühren, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne. Er schloss die Augen und drehte leicht den Kopf. Kurz war ich mir nicht sicher, was er hatte, aber dann hörte ich es auch. Ein Surren! Und es wurde immer lauter! Da kam jemand oder besser gesagt etwas von der anderen Seite des Flures. O Gott, bitte lass es nicht das Monster sein!