•‡Dezerias Sicht‡•
“Nein nein. Du hast einen völlig falschen Eindruck von diesem Ort”, säuselte die kleine Verrückte jetzt bestimmt schon zum zehnten Mal, weshalb ich mir ein genervtes Stöhnen nicht länger verkneifen konnte. Sie sollte mich schnell zu diesem Lichius bringen, aber hielt mir lieber einen Vortrag über das Leben hier. Unglaublich. Was denkt die sich? Dass ich hier unten häuslich werden will?
“Sicherlich nicht. Aber ... sind wir an diesem Gang nicht schon mal vorbeigekommen? Versuch bloß nicht, mich in die Irre zu führen oder Zeit zu schinden”, sprach ich warnend, auch wenn es dumm war. Ich kannte mich hier nicht aus und es wäre für sie ein Leichtes, mich noch tiefer in dieses Labyrinth zu bringen. Zumal es sie überhaupt nicht zu beeindrucken schien, dass ich immer noch die gelbe Tonscherbe als Waffe hatte. Sie schritt gut gelaunt ein-zwei Meter vor mir und blickte nur gelegentlich nach hinten, wohl um zu kontrollieren, ob ich noch brav folgte.
“Oh, ich würde es nie wagen, Euch zu täuschen. Der heilige Tempel besitzt unzählige ähnliche Gänge und Räume. Daher gleicht das Sonnenrefugium für jeden Neuankömmling einem wunderlichen Irrgarten, aber das legt sich schnell. Ich brauchte ganze drei Tage, um mich hier unten zurechtzufinden.” “Pff, als ob ich Euch trauen würde. Bringt mich nur auf dem schnellsten Weg zu diesem Lichtheini und gut ist.” “Wir sind gleich da, keine Sorge. Ihr könnt mir wirklich vertrauen, werte Eishexe”, sprach sie lieblich und bog ein weiteres Mal nach links. Ich schüttelte den Kopf über ihre Worte. Sie wollte es nicht verstehen oder sie konnte es nicht. Aber wenigstens hielt sie Wort. Der neue goldene Korridor schrie geradezu nach Adel – nach einem Rea. Die Fackeln an den Wänden wichen dicken Kerzen und es roch nach einer herrlichen Blumenwiese.
“Sind die etwa alle aus Nyswachs?” “Ja. Ein prachtvoller Anblick, nicht wahr? Das Zusammenspiel von dem tiefen Rotton mit der flackernden grellen Flamme und dann noch dieser Duft nach Blüten ... Jeder hier liebt es und unser Sonnenherr bringt immer reichlich von ihnen mit. Natürlich schmücken wir überwiegend seine Räumlichkeiten und die Haupthalle damit, wenn ein Ritual oder eine Feier ansteht. Ihr werdet Euch also auch während Eurer Reinheitszeremonie daran erfreuen können.” Ein schlichtes ja hätte mir zwar gereicht, aber sei's drum. Mich erstaunte vielmehr, wie groß der Vermögensunterschied in dieser Stadt im Vergleich zu Rotterval war. Dieses rote Wachs verkaufte sich auf den Markt teurer noch als Gold oder Edelsteine, sagte zumindest Pater Manfred immer. Es soll aus den Körpern von irgendwelchen extrem gefährlichen Insekten gewonnen werden. Unsere Kirche hatte davon lediglich eine einzige Kerze besessen und diese wurde nur bei Ankunft eines Reas entzündet. In Ludwigs Anwesen fiel mir spontan auch nicht ein, ob es dort welche gegeben hatte. Und hier? Hier verzierten sie in Massen die Wände. Unglaublich.
“Mit Verlaub, ich kann es kaum erwarten, Euch in unserer Familie willkommen zu heißen.” “Hm?” Ich stutzte, ehe mir ihre Worte richtig bewusst wurden. “Ich bin hier nicht freiwillig und werde auch ganz gewiss nicht mehr lange bleiben.” “Ach was. Ich hab noch nie jemanden gesehen, der nicht zur Sonne gehören wollte. Es ist doch schön bei uns. Alle sind stets nett und hilfsbereit. Jeder liebt jeden, wenn Ihr so wollt. Wo gibt es das schon? Wir sind eine wundervolle Familie und Ihr gehört nun auch bald dazu.” Ich seufzte frustriert. “Ihr könnt es noch so oft wiederholen, aber dieser Unsinn wird dadurch nicht wahr. Ihr bezeichnet mich als Hexe, sagt andauernd, dass das Wasser sowie die Monde schlecht seien, und haltet meinen Freund gefangen. Ihr behauptet sogar, dass Zerian ein echter Teufel sei. Würde sowas eine Familie tun? Nein. Würde sie nicht! Lichius soll mir bloß nicht zu nahe kommen, andernfalls werde ich ihm wehtun”, sprach ich zornig und blickte entschlossen auf die dreieckige Tonscherbe in meiner rechten Hand. Ja, ich bin definitiv zu allem entschlossen.
Die Frau schüttelte schnell den Kopf, wodurch ihre schulterlangen Haare wild hin und her wirbelten. “Nein nein. Ihr könnt ihn doch nicht verletzen. Ausgeschlossen! Niemand kann das. Er ist doch die Sonne, das Feuer, das Licht. Er will mit Euch reden und wird durch seine heiligen Worte Eure letzten Zweifel zerstreuen. Ihr werden ihn lieben, wie wir ihn alle lieben.” “O Gott, hört Ihr Euch überhaupt selbst reden? Wart Ihr schon immer so verblendet oder hat ER das erst mit Euch gemacht?” Sie lachte. “Bitte seid doch nicht so abweisend. Gebt ihm – gebt diesem neuen Pfad, der sich nun hell erstrahlend vor Euch auftut, eine echte Chance.” “Mitnichten!” Erneut lachte sie verzückt über meine Worte. “Wisst Ihr ... ich war einst genauso verloren wie Ihr.” Ich schnaubte abfällig und verkniff mir alles Weitere. War ohnehin hoffnungslos mit der.
“Nein, ehrlich. Ich kann Euch wirklich verstehen, auch wenn Ihr mir das jetzt nicht glauben wollt. Ich war nicht immer eine Lichtzofe – nicht immer fröhlich und sorglos. Ich weiß nicht mehr viel von meiner Kindheit, aber meine Eltern hatten mich wohl ausgesetzt. Ich musste von klein auf in einem der Freudenhäuser in Valahanig arbeiten, um Geld zu verdienen, da ich für die einfachsten Bergbauarbeiten zu schwach war. Ich hatte kaum genügend zu essen. Nicht mal eine Bleibe und es war jeden Tag so verdammt kalt dort auf den Straßen. Aber ... während einer Feierlichkeit zu ehren der Rea, kehrte das Licht zurück in meine kleine Welt. Der Sonnenherr fand und rettete mich aus diesem Alptraum. Er nahm mich mit zu sich und schenkte mir ein neues Leben voller Wärme. Ohne ihn wäre ich sicherlich gestorben, aber nun bin ich hier und einfach nur glücklich. Versteht Ihr das? Ich bin wirklich gerne in diesem Feuertempel und wenn Ihr erstmal mit ihm gesprochen habt, wird es Euch sicherlich genauso ergehen.”
Ich hörte ihr aufmerksam zu und unter anderen Umständen hätte ich sicherlich Mitleid empfunden, aber – es fiel mir schwer, diese Geschichte zu glauben. Er war ein Rea und sollte selbstlos handeln? Nein. Bestimmt nicht. Er hatte sie wahrscheinlich, wie alle anderen auch, mit seinem Pulver verzaubert und ihr aufgetragen, mir dies zu erzählen. Gott, werde ich nachher auch so sein, wenn ich bei ihm war? Wobei, ich war seiner Magie doch schon ausgesetzt und sie hatte nur kurz gewirkt. Es konnte also nicht so schlimm sein, oder?
“Wisst Ihr ...”, plötzlich blieb sie stehen und drehte sich herum, “ich wollte mich noch bei Euch bedanken.” “Hm? Bei mir? Wieso?”, fragte ich verwirrt, umfasste aber sofort meine Waffe fester. Nicht, dass sie mir diese jetzt entwenden wollte. “Euretwegen ist der Sonnenherr wieder hier.” Ich sah sie weiterhin nur fragend an. “Ach so, ja, Ihr müsst wissen, dass er nicht die ganze Zeit im Sonnenrefugium verweilt. Er ist oft sogar sehr lange fort und nur die edle Allie Falame-sere-me verkündet währenddessen den Segen des Feuers. Sie erfreut mit ihrer Lieblichkeit zwar uns alle, befasst sich allerdings hauptsächlich mit den Funken. Wir haben uns etwas vernachlässigt gefühlt, aber durch Euch ist jetzt alles anders, Hexe des Eises. Für Eure Prüfung ist das Licht zurück zu uns gekommen.” “Ah ja ...”, sagte ich allein dazu, da es für mich nur wie sinnloses Gerede klang. Die Frau war durch und durch verrückt. Allein die Information, dass sich der Lichtheini hier nicht durchgehend aufhielt, war gut zu wissen. Das würde eine Flucht erleichtern.
“Ich meinte es ernst. Mein unendlicher Dank ist Euch sicher.” Sie lächelte und neigte kurz ihr Haupt, ehe sie zur Seite schritt. “Das Zimmer vom Sonnenherrn ist gleich am Ende des Ganges. Ihr müsst die letzten Meter allein beschreiten. Ich war heute schon bei ihm. Es steht mir nicht zu, noch mehr Aufmerksamkeit und Nähe zu wollen.” “Mhm”, gab ich gehaltlos von mir und schritt mit einem großen Bogen an ihr vorbei. Trotz meiner Vermutung, sie würde mir nachkommen, um mich doch noch zu entwaffnen, blieb sie an Ort und Stelle. Als ich nach einigen Schritten erneut prüfend zurückblickte, winkte sie mir kurz und drehte sich selbst herum. Sie ging tatsächlich. Erleichtert atmete ich auf. Ich war also allein. Gut. Eine Sorge weniger.
Ich folgte dem Pfad und erreichte wenig später eine prunkvolle Wendeltreppe, die nach oben führte. Mit der Tonscherbe fest in meiner Hand schritt ich mutig die ersten Stufen empor, nur um im nächsten Moment innezuhalten. Ich hörte etwas. Stimmen. Frauen Stimmen:
“Mira, komm jetzt! Du bist noch vom Licht berauscht. Du kannst doch später noch bei der Wiedergeburt des Wasserteufels weiter machen.” “Genau, wir sollten so langsam zurück. Was, wenn die Eishexe das sieht?” “Was soll schon sein?”, brachte sich nun eine tiefe Männerstimme mit ein. “Wenn sie mir zu Diensten sein möchte, ist daran doch nichts einzuwenden. Ihr könnt doch zurück und nachsehen, ob Sara schon auf dem Weg ist. Lichius wartet.” “Und das soll er nicht!”, antwortete eine Frau geradezu entsetzt klingend. Dann wurde es verdächtig still. Verdammt, ich hörte Schritte. Schnelle Schritte!
“Oh, da bist du ja”, sprach keinen Augenblick später eine kurzhaarige schöne Frau, welche mir mit zwei weiteren auf der Treppe entgegenkam. “Ja, die Hexe, wie bestellt”, entgegnete ich patzig, was sie irritiert die Brauen heben ließ. Sie brauchte ein paar Sekunden, um ihr Lächeln wiederzufinden. “Unser geliebter Herr erwartet dich bereits. Komm, folge mir.” Sie drehten sich alle freudig herum und wiesen mir den Weg, auch wenn ich diesen wohl locker alleine gefunden hätte. Immerhin gab es hier nur eine Richtung. Was also soll der Quatsch? Meine Waffe verbarg ich vorerst in meiner Hand, um im Notfall das Überraschungsmoment nutzen zu können.
Überrascht war ich allerdings dann selbst, als wir oben ankamen. Meine Augen ignorierten die weiße Tür mit den riesigen roten Edelsteinen, welche eine Flamme darstellen sollten und fixierten lieber die drei nackten Männer davor. Dass die Frauen hier nichts anhatten, konnte ich mittlerweile mehr oder weniger ausblenden, aber das da? Vor allem, was tat die eine Frau da vorne? Sie kniete vor einem der Typen und ihr Kopf befand sich genau – ohh.
“Psst! Mira! Komm jetzt, die Hexe ist da! Wir müssen doch noch was für die Prüfung vorbereiten!”, rief die kurzhaarige und stemmte die Hände währenddessen an ihre schmalen Hüften. Die andere Frau erhob sich prompt von dem Mann und drehte herum. “Ist ja gut!”, murrte sie angesäuert, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und musterte mich gründlich mit grimmiger Miene. “Was trägt sie denn da? Die Kluft der Fünkchen? Wieso? Die Tränen und der Segen allein, sollten jetzt ihren Körper bekleiden. Kommt, ich nehm diese unwürdigen Stoffe von Euch.” “Nichts da!” Ich wich einen Schritt zurück. Diese durchlässigen Tücher hatte ich mir mühselig mehrfach um den Oberkörper und meine Hüften gewickelt, damit ich nicht vollkommen freizügig war. “Niemand von Euch fasst mich an! Und ich werde gewiss nicht nackt da rein gehen!” “Aber das geht doch nicht”, hielt sie dagegen, wurde aber erstaunlicherweise von einer anderen Frau von mir ferngehalten. “Lass sie doch, wenn sie das so möchte.” “Tz! Das ist doch eine respektlose Geste für unseren geliebten Sonnenkönig!”
“Die Verzögerung durch euch Lichtzofen, reicht nun”, ergriff plötzlich einer der Männer das Wort. “Last die Hexe vorbei und kümmert euch endlich um eure Aufgaben. Andernfalls sagen wir Lichius Bescheid. Euer Verhalten wird ihn sicherlich enttäuschen.”
“Nein!” “Alles, nur das nicht!”, riefen die Frauen entsetzt und dann rannten sie auch schon von dannen. Toll. Jetzt so ganz alleine mit diesen nackten Männern zu sein, ließ mein Herz vor Angst schneller schlagen. Die sahen wirklich unglaublich kräftig aus. Ihre dunkle Haut war mit einer weißen Farbe verziert. Deutlich sah ich ihre Muskeln und – andere Dinge.
“Tretet näher, Hexe des Eises. Ihr werdet bereits erwartet”, sprach der Mann in der Mitte mit einer sehr dominanten Stimme, die mir gleich durch und durch ging. Unweigerlich wanderte mein Blick zu seinem Geschlecht, welches immer noch aufgereckt von ihm abstand. O Gott, war mir das vielleicht unangenehm! Ich konnte keinen Schritt machen. Panik wallte in mir auf. Wenn die sich auf mich stürzten, hatte ich keine Chance. Tonscherbe hin oder her.
“Ihr braucht nicht zu zittern”, ergriff dann der Typ links das Wort und lächelte mir freundlich zu. Unweigerlich musste ich dabei an Hannes denken. Was meine Angst nicht kleiner werden ließ. Er war auch immer nett und liebevoll gewesen. Ja, gewesen, bis er sich als ein widerlicher Arsch entpuppte. Da ich nicht reagierte, wechselten die Männer untereinander kurz einige Blicke aus, ehe alle drei wieder zu mir sahen.
“Es wird Euch nichts geschehen, Ihr seid hier vollkommen sicher.” “Wir öffnen Euch nun das Tor, bitte erschreckt nicht.” “Treten ruhig ein”, sprachen sie dann im fließenden Wechsel und öffneten anschließend die funkelnde Tür. Langsam. Unglaublich langsam setzten sich meine Beine in Bewegung. Ich krallte meine Finger so stark um meine Waffe, dass ich mir sicher war, mich bereits verletzt zu haben. Aber, sonst hatte ich nun mal nichts, was mir Schutz versprach. Nichts, woran ich mich klammern konnte, außer dieses Stückchen Ton.