❅Zerians Sicht❅
Dezeria weinte und bildete immer mehr Eis um sich, warum war mir allerdings unklar. Ich fühlte mich gut – wir hatten gegessen, was also machte sie nun so traurig? Sie hatte die Drohne zerstört, ich konnte aber keinen Angriff oder dergleichen von dieser Maschine erkennen ... Hatte ich etwas übersehen? Ich wollte jedenfalls nicht, dass sie so unglücklich war.
“Dezeria?”, fragte ich vorsichtig und schritt näher zu ihr. “Hey Dezeria, was ist denn? Warum weinst du?” “Bl-bleib w-weg von mir, sonst ver-verletze ich dich auch n-noch!”, schluchzte sie schwer verständlich, was mir seltsamerweise dumpfe Schmerzen in meiner Brust bereitete. Das war neu und alles andere als schön. Ich wollte, dass es aufhörte – wollte, dass sie nicht länger so traurig war. Ich entschloss mich also, etwas dagegen zu unternehmen. Diesmal durfte ich es ja auch. Sie hatte gesagt, ich war ihr Freund und Freunde trösteten einander. Ich kniete mich an ihre Seite und umarmte sie behutsam mitsamt dem ganzen Eis an ihrem Körper.
“Fass mich nicht an, sonst ergeht es dir genauso! Du wirst von Eis aufgespießt ...” “Ich verstehe nicht, was meinst du? Das Eis tut nur das, was du auch willst, erinnerst du dich? Du sagtest, du wolltest nicht, dass mir etwas passiert. Also wird es das auch nicht”, sprach ich bemüht ruhig und streichelte langsam über ihr weiches Haar. Ich hatte oft gesehen, wie die Menschen das untereinander taten. Es war wirklich schön.
“Aber ... aber ich wollte nicht, dass Heka getroffen wird ... ebenso nicht, dass der Mann starb”, schniefte sie und versuchte, sich von mir zu lösen, was ich aber nicht zuließ. Ich hielt sie fester, denn ich wusste, dass man beim Trösten entschlossen vorgehen musste. Nur dann wirkte es letztlich auch. “Geh weg! Zerian! Lass mich los! Das Eis tut, was es will ... Ich wollte Reznicks Vater nicht töten, aber er wurde einfach von Stäben durchbohrt ... I-ich sehe ... es noch immer ... vor mir.” Kaum sagte sie dies, wuchsen neue Säulen aus massivem Eis und stachen nun auch in meine Haut. Höchst unangenehm, aber aushaltbar. Ich musste sie schließlich trösten und das war wichtiger als dieser Schmerz. Vor allem, da ich nun eine Ahnung hatte, warum das alles passierte. Warum sie sich solche Vorwürfe machte. Ojee ... es war meine Schuld!
“Dezeria, ganz ruhig. Ich glaube, ich weiß jetzt was du meinst. Du redest von dem einen Mann, der in diesem eiförmigen Schiff war, nicht wahr? Der mit diesen rot-weißen Gewändern – der dir Schmerzen bereitete, oder? Du hast ihn nicht getötet, sondern ... ich”, sagte ich entschuldigend und drückte meine Stirn gegen ihren Kopf. “Ich war es, nicht du. Es ist alles gut, Dezeria.” “Das sagst du jetzt nur so ...”, schniefte sie weiter, aber wehrte sich nicht mehr gegen meine Umarmung.
“Nein. Ich fühlte dein Leid, so wie ich es andauernd empfand, seit ich dich aus dem See holte. Ich wusste nicht, was los war und brauchte eine Weile, um dich zu erreichen. Ich war wild – ich war unkontrolliert und wollte nur noch, dass dieses Sonderliche und Unbegreifliche, was ich verspürte, endlich aufhörte. Dein Schmerz brachte mich dazu, unüberlegt zu handeln ... Ich hatte Angst um dich – ich fühlte deine Angst. Es sollte aufhören. Das war alles, woran ich dachte ...”, sprach ich fast schon flüsternd, wodurch sie mich endlich anblickte. “Es tut mir Leid, Dezeria. Ich wollte nicht, dass du dich wegen meinem unüberlegten Handeln schlecht fühlst oder Angst hast oder traurig bist. Du bist kein Monster, du bist du. Du bist noch immer diejenige, die mit Elisabeth lachend am See gesessen hat oder die Monde in den Nächten bewunderte. Du bist noch immer das Mädchen, das mit Freude die Enten am Ufer fütterte”, sprach ich liebevoll von diesen schönen Erinnerungen und strich ihr dabei einige Haarsträhnen hinters Ohr zurück.
Sie bemühte sich um ein Lächeln, sah dann aber besorgt das Blut an meinem Arm. Oh, rotes Blut ... das war neu. “O Gott! Ich verletze dich!”, sprach sie sofort schockiert und wollte erneut von mir weg. “Dezeria, es ist alles in Ordnung”, erwiderte ich und umfasste ihr Gesicht. “Beruhige dich einfach und denk nicht mehr an das Eis. Denk an den ruhigen See oder die schönen Monde ... Dezeria, sag mir ... welche Farbe hat Cor?” “Blau ...”, flüsterte sie traurig zurück, während unablässig Tränen über ihre Wangen kullerten. Ojee ...
Sie hatte sich zwar beruhigt und das Eis wuchs auch nicht mehr weiter, aber wirklich getröstet hatte ich sie nicht. Zweifel überkamen mich. Machte ich es vielleicht nicht richtig? Ob ein Kuss nun helfen würde? Ich überlegte. Sie sagte, man machte dies nicht einfach so, aber würde ich ja auch nicht. Es sollte sie trösten, dann musste es doch in Ordnung sein. Genau! Ich gab ihr also entschlossen einen sanften Kuss auf ihre weichen Lippen. Nur einen kurzen. Ich wollte sie ja nicht wieder verärgern, wie das letzte Mal.
Als ich meinen Kopf wieder etwas zurückzog, blickte sie mich einfach nur unergründlich an. Hach, ich mochte das Weiß in ihren Augen – es strahlte so schön, wie Del in jeder zweiten Nacht. “Soll ich dich noch mal küssen?”, fragte ich vorsichtshalber, denn wirklich getröstet schien sie mir immer noch nicht zu sein. “Nein, sollst du nicht, du Idiot.” Sie senkte hastig den Blick und ich sah deutlich, wie ihre Wangen erröteten. “Was bedeutet es, wenn dein Kopf rot wird?”, fragte ich neugierig, da es ja ziemlich häufig passierte und irgendwie lustig aussah.
“Sowas fragt man nicht!” Schien sie nun empört darüber zu sein und endlich löste sich auch das Eis um uns herum. “Ich habe dich verletzt ...”, sagte sie danach noch bestürzt und kramte eifrig in ihrer Tasche herum. Ich betrachtete währenddessen meine Arme und auch den Oberkörper. Hier und da floss noch etwas Blut, aber es war auszuhalten – solange sie nicht mehr so traurig war. Dass ich überhaupt blutete ... ganz und gar menschlich. Ich konnte es immer noch nicht so ganz fassen.
“Reznick hat echt an alles gedacht ...”, flüsterte Dezeria kaum hörbar und hielt sofort danach einen Verband in den Händen. “Du willst meine Verletzung verbinden?”, fragte ich, aber da begann sie schon, mir den Mantel auszuziehen. “Natürlich! Es blutet ganz schön schlimm ... Es tut mir so Leid!” “Warte noch einen Moment, ich will versuchen, ob ich heilen kann.” Ich schob ihre Hände weg und blickte konzentriert auf meine Wunden. Das interessierte mich wirklich, ob ich es noch konnte ...
“Wow Magie! Du bist doch noch ein Gott ...”, murmelte Dezeria, als ich Wasser um meinen Körper fließen ließ und die Verletzungen nach und nach verschwanden. “Gott?”, fragte ich und blickte sie nachdenklich an. “Ich war nie ein Gott.” “Natürlich, ich mein ... oder nicht? Was bist du denn dann?” “Ich bin ein Mensch und Wasser”, sagte ich mit einem Lächeln, wodurch sie mich skeptisch anblickte. “Früher dachte ich eine lange Zeit, ich wäre dieser Gott, von dem immer alle sprachen. Aber nein. Ich konnte nie alle Wünsche der Menschen erfüllen, aber als Gott hätte ich dazu doch in der Lage sein müssen. So hörte ich es jedenfalls von jedem, den ich belauschte. Aber egal, wie sehr ich mich bemühte, ich konnte dem nicht gerecht werden. Ich vermochte es zwar, Krankheiten zu heilen und konnte Regen für die Ernte geben, aber mehr auch nicht.”
Nach meinen Worten sagte sie nichts mehr, betrachtete nur mit einem besorgten Blick den Mantel. “Es tut mir Leid. Ich habe ihn kaputt gemacht ...”, murmelte sie mehr zu sich selbst, als wirklich mit mir zu sprechen. “Ist nicht so schlimm”, sprach ich und strich ihr durch die Haare, weil ich es unglaublich mochte, wie sich das anfühlte. Sie schien sich auch nicht daran zu stören, wobei ... Sie war wohl in Gedanken – streichelte behutsam mit den Fingern über den zerrissenen und löchrigen Stoff, ohne auf mich zu reagieren. Ojee, hoffentlich wurde sie jetzt deswegen nicht wieder traurig. Ich hatte es zwar geschafft, das Blut aus dem Mantel zu ziehen und ihn so sauber zu machen, aber reparieren konnte ich ihn nicht.
“Die Löcher werden bleiben”, sprach ich schließlich, stand auf und zog mich wieder an. Dezeria blieb derweil immer noch auf dem Boden hocken. Das sollte sie nicht – sie sollte so nicht sein. “Dezeria? Ich weiß ich bin für deinen Kummer verantwortlich und es tut mir Leid. Bitte sag mir, was ich tun kann, um dich aufzuheitern. Ich kann den Mann leider nicht wieder lebendig machen ... Ich habe auch noch nie jemanden bewusst getötet. Nie! Ich war unkontrolliert ... ich wollte das nicht. Bitte glaube mir! Ich weiß, jemanden zu töten ist etwas Schlechtes und es gibt keine Entschuldigung dafür. Ich erbitte dennoch deine Vergebung. Bitte, Dezeria, sei nicht mehr traurig, bitte ...” Ich reichte ihr meine Hand. “Bitte lass uns weitergehen.”
“Ich bin dir ... nicht böse”, sagte sie und ergriff meine Hand. “Ich habe Angst, jemanden zu verletzen. Dich habe ich gerade verletzt.” Sie blickte nun zu dem großen Eisklumpen, in welchem noch einige Teile der zerstörten Drohne steckten. “Ich habe auch Heka getötet, ohne es zu wollen. Was, wenn du es das nächste Mal bist?” Ich schüttelte schnell den Kopf. “Nein, du darfst nicht daran denken ... Mach es doch einfach so: Wenn du unsicher bist oder das Eis unkontrolliert zu wachsen droht, denk an die Monde oder an deine Familie. An alle möglichen Dinge, die dich das Eis sofort vergessen lassen. Dann wird auch nichts passieren.” Ich umarmte sie nach diesen Worten noch einmal kräftig, ehe ich ihr tief in die Augen sah.
“Geht es? Du wolltest doch nach Mewasinas oder hast du es dir nun anders überlegt?” Sie wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht und versuchte dann ein Lächeln. “N-nein.” “Gut, das Moor haben wir sowieso fast hinter uns. Ein bisschen musst du den Boden aber noch einfrieren, schaffst du das?” Sie nickte, ergriff meine Hand und ging weiter in die Richtung, die ich ihr zeigte.
*
Nach dem Moor folgte eine hügelige Wiese und danach ein Waldstück. Die Sonne passierte bald darauf auch den Horizont und läutete die Nacht ein. Del würde heute scheinen und uns somit den Weg erhellen, falls Dezeria im Dunklen weiter laufen wollte. Ich hingegen fühlte irgendwie nur noch Erschöpfung ... Mensch zu sein war auf Dauer echt anstrengend ...
“Ich würde gern ausruhen. Ich weiß nicht, wie du so lange wandern kannst, ohne eine Pause machen zu müssen”, sprach plötzlich Dezeria, was mich erleichtert aufatmen ließ. “Ich dachte schon, du wolltest die Nacht durchlaufen.” Sie lachte und hockte sich auf einen umgestürzten Baumstamm. “Wir sind schon zwei ... Wieso hast du nicht schon vorher gesagt, dass du nicht mehr kannst? Hast du etwa auch schon wieder Schmerzen?” Ihre Worte klangen zum Schluss böse, aber ich schüttelte schnell den Kopf. “Ich wollte mit dir mithalten, wieso hast du denn nichts gesagt?”, fragte ich genauso vorwurfsvoll zurück. Sie war doch hier länger der Mensch und sie war mein Beispiel, an dem ich mich orientierte.
“Ach, du bist doof!”, sprach sie mehr belustigt und kramte anschließend in ihrer Tasche. “Vielleicht ist ja etwas drin, womit wir ein Feuer machen können. Ich weiß nur leider nicht, was davon uns hilft ...” Sie hielt ein Stück Metall in die Luft, was ich sofort als Taschenlampe erkannte. “Darf ich?”, fragte ich und warf selbst mal ein Blick in den Lederbeutel. Ich hatte unzählige Dinge in meinem Leben gesehen. Wie man ein Feuer machte, wusste ich. Auch wenn ich noch nie verstand, warum das Feuer den Menschen gehorchte. Ob dies ein Teil seiner Aufgabe war? Ich hatte jedenfalls nie eine Antwort darauf gefunden.
*
Ich zog das Wasser aus den Hölzern, welche Dezeria schnell zusammengetragen hatte, und schaffte es binnen Sekunden, ein Feuer zu entfachen. Ich starrte eine Ewigkeit in die Flammen und erst als Dezeria mich an der Schulter berührte, war ich fähig, mich aus diesem Bann zu befreien. “Alles in Ordnung?”, fragte sie und sah mich dabei prüfend an. “Ja”, antwortete ich, da ich sonst nicht wusste, was ich sagen sollte. “Dann halt deine Nase da nicht so rein, du holst dir sonst noch eine Verbrennung. Komm, setzt dich da hin.” Ich nickte und ließ mich von ihr zu dem Baumstamm einen halben Meter weiter rechts dirigieren.
“Hier. Du solltest noch was essen”, sprach sie und reichte mir aus der Tasche ein Stück von diesem leckeren Brot. “Ich werde mich kurz dahinten in die Büsche schlagen, du wartest bitte hier.” “Du musst mal?”, fragte ich, da sie sich den Bauch hielt und scheinbar Schmerzen hatte. “Ja, bin gleich zurück.” Ich sah ihr nach und starrte dann wieder automatisch zum Feuer, während ich aß. Hmmm ... es war köstlich. Ich musste mich richtig zusammenreißen, nicht alles aufzuessen. Dezeria musste schließlich auch noch was davon bekommen. Hunger war etwas Schreckliches und ich wollte nicht, dass sie dies noch mal durchlitt.
Ich spürte plötzlich eine Berührung neben mir, wodurch ich meinen Blick sofort vom Feuer riss. “Dezeria?!”, fragte ich überrascht, da ich ihr Zurückkommen gar nicht bemerkt hatte. “Ja?”, fragte sie nun wiederum verwirrt und runzelte die Stirn. “Was ist? Hast du Schmerzen?” “Nein ... Hier für dich. Du musst auch etwas essen. Ich hab es für dich aufgehoben” “Lieb von dir, aber kannst du mir kurz Wasser geben? Ich will mir vorher die Hände waschen”, sprach sie auffordernd, wodurch ich nickte. Ich wob eine kleine Wasserwoge über ihre Handflächen und ließ es anschließend etwas entfernt von uns in den Boden fließen. “Danke”, sprach sie mit einem zögerlichen Lächeln und setzte sich direkt neben mich. “Musst du nochmal?”, fragte ich besorgt, da sie sich immer noch den Bauch hielt und auch kurz gequält aufstöhnte. “Nein, solche Bauchschmerzen sind das nicht.” “Kommt das vom Hunger? Dann musst du schnell essen, damit es dir besser geht!” Ich reichte ihr erneut das Brotstück und verfolgte sorgsam jede ihrer Bewegungen. Sie nahm nur kleine Bissen und schien auch nicht glücklich darüber ... Hatte ich etwas falsch gemacht?
“Sag mir, was ich machen kann, damit es dir besser geht”, sprach ich schließlich, als sie sich auch weiterhin so auffällig benahm. “Es geht schon, sowas haben Frauen nun mal ab und zu, mach dir bitte keine Sorgen.” Sie aß noch etwas, packte aber dann den Rest zurück in die Tasche. Ich wollte grade etwas dazu sagen, aber da kuschelte sie sich auch schon dichter an meine Seite und lehnte ihren Kopf gegen meine Schulter. Das mochte ich – das fühlte sich gut an. Ich beließ es also dabei, erfreute mich an ihrer Nähe und blickte wieder in die rot-gelben Flammen ...
“Zerian?”, flüsterte Dezeria irgendwann und drückte sich enger an meinen Körper. “Ja?” “Wie alt bist du eigentlich?” “Alt?” “Ja ... na, wie lange bist du schon hier?” “Ich habe die Zeit nie gezählt, wie ihr das tut. Sie war für mich immer bedeutungslos.” “Ach so ... ich dachte wegen deiner Erscheinung. Du ... siehst ziemlich jung aus. Ich dachte ... das hat eine tiefere Bedeutung ...”, sprach sie müde und blickte mich verschlafen an. Ich überlegte kurz und sah an mir herab – hatte ich mein Äußeres beeinflusst? Nein, nicht dass es mir bewusst aufgefallen wäre. “Mag sein, dass ich jung aussehe, aber ich habe diesen Körper nicht bestimmt.” “Dann ... hättest du auch ... eine Frau werden können?” Ich überlegte. Hätte ich wohl, oder? “Ich weiß es nicht. Möglich ... vielleicht hat es einen Sinn, dass ich nun so bin, vielleicht aber auch nicht. Was meinst du?”, fragte ich und sah sie an. Ihre Augen waren geschlossen – sie schlief. Ich lächelte über diesen süßen Anblick und kuschelte mich ebenso an sie. Ich sollte wohl jetzt auch schlafen. Der Tag heute war ... anstrengend. Ich warf noch einen letzten Blick ins Feuer, ehe ich meine Augen schloss und wohl das erste Mal in meinem Leben zu schlafen versuchte.