╬Reznicks Sicht╬
Ich riss die Augen auf und war von jetzt auf gleich hellwach. Verwirrt blinzelte ich ins Halbdunkel und versuchte zu verstehen, warum ich auf dem Boden lag. Vermutlich aufgrund einer erzwungenen Bewusstlosigkeit, denn an mir haftete nicht das zähe und schwerfällige Gefühl eines natürlichen Schlafes. Aber wann hatte man mich betäubt? Ich erinnerte mich noch haargenau, dass ich in einem Barrierengefängnis steckte und abtransportiert wurde. Seltsam. Die Dinger konnten einen nicht auf Knopfdruck außer Gefecht setzen, nur eben einsperren. Wie hatte der Wichser das also gemacht?
Verwirrt richtete ich den Oberkörper auf und sah mich um. Leider half mir das diffuse gräuliche Licht, das zweifellos von einer Notbeleuchtung stammte, nicht dabei, etwas Klarheit zu gewinnen. Der Anblick meiner Umgebung machte sogar alles nur noch schlimmer. Selbst als ich mir mehrfach ungläubig die Augen rieb, blieb das Bild von unzähligen Leichen um mich herum bestehen. Was zur Hölle war passiert?
Mein Kopf glühte. Ich verstand nicht, warum hier so eine Verwüstung herrschte und wer dafür verantwortlich war, denn ich konnte es nicht gewesen sein. Wie auch? Das Schiff sah so aus, als hätte man es einmal ordentlich durchgegrillt. Hier und da waren Abdeckungen von Kabelschächten aufgesprungen, Steuerpanels regelrecht explodiert und es stank übel nach verschmorter Elektronik oder Fleisch. An den Wänden, der Decke sowie an den unnatürlich verrenkten Körpern am Boden, waren schwarze Verbrennungen zu sehen. Mir war keine Waffe bekannt, die in diesem Ausmaß Maschinen- und Personenschäden verursachte.
Was mich ebenso wurmte, wieso hatte es mich nicht erwischt? Keine Brandwunden oder andere Verletzungen konnte ich entdecken. Misstrauisch stand ich auf und bewegte der Reihe nach meine Gliedmaßen, aber da bemerkte ich auch kein negatives Gefühl. Kein Schmerz, Erschöpfung oder andere Defizite. Mir ging es hervorragend, was mich immer mehr beunruhigte. Wieso verspürte ich nicht einmal Hunger oder Durst? Verflucht, was ging hier vor?!
Das machte mich fix und fertig. Gerade war die Welt doch noch in Ordnung gewesen! Ich hatte mich ganz gemütlich als Gefangener in der blauen Lichtbarriere von diesem Pfirsching wegschaffen lassen, aber jetzt? Nun lag der Kerl tot neben mir, wie jeder seiner Männer UND nichts davon war mein Verdienst!
Das war unglaublich frustrierend. Egal wie intensiv ich mich umsah, das Schlachtfeld gab kaum brauchbare Informationen preis. Nicht einmal der Tathergang ließ sich irgendwie rekonstruieren, weil es den Anschein machte, als seien alle gemeinsam unter Krampfanfällen ohnmächtig geworden. Von jetzt auf gleich. Zudem befand ich mich zwar auf dem fremden Schiff, aber immer noch in dem Verbindungskorridor zum Schottentor. Das ergab alles keinen Sinn. Genau bis zu dieser Stelle erinnerte ich mich doch und – Scheiße.
Verzweifelt fuhr ich mir durch die Haare und verkrallte schließlich brutal die Finger darin. Allein mein Vater kam für die Manipulation meines Verstandes infrage. Ja, das würde perfekt zu ihm passen. Erst uns alle wie-auch-immer betäuben und mir dann für ein neues Spiel irgendwelche falschen Erinnerungen geben. Oder? Musste doch so sein! Wahrscheinlich hatte er diese Szenerie sogar extra für mich dementsprechend hergerichtet. Verflucht! Bei dem Gedanken, dass er persönlich hier gewesen sein musste und sich köstlich über meinen hilflosen Zustand amüsiert hatte – da riss etwas in mir.
Wütend biss ich die Zähne zusammen und unterdrückte einen Aufschrei. Das kotzte mich alles dermaßen an, dass ich im ersten Moment nichts mit mir anzufangen wusste. Also so wirklich gar nichts. Keine Idee. Nur Fragen. Fragen über Fragen, an denen ich gleich zu ersticken drohte. Ich fühlte mich überfordert und gleichzeitig so verdammt leer, als würde nichts eine Bedeutung haben. Nicht einmal ich selbst.
Plötzlich hörte ich Schritte, was mich sofort versteifen ließ. Verstört blickte ich den Gang entlang und erkannte zwei Atemzüge später eine kleine zierliche Gestalt. Eine Bedienstete, aber kein Mensch. Nein. Es handelte sich offensichtlich um eine Maugeri in Form eines kleinen Mädchens und sie trug ein Tablett mit Speisen sowie einer Glaskaraffe vor sich her. Sie gehörte ohne Zweifel zu meinem Vater, da auf ihrer Uniform unübersehbar sein Zeichen prangte – gespreizte Phönixflügel, welche er auch auf meinem Rücken verewigt hatte.
“Willkommen auf der Tyschenka, werter Re’Nya’Ca Alexander Weckmelan.” Sie lächelte mich freundlich an und knickste leicht. “Ich bringe Euch Speis und Trank. Frische Kleidung wird Euch natürlich auch bereitgestellt, dafür müsst Ihr jedoch erst die Lichtschranke für Eure Reinigung passieren.” Ungläubig starrte ich sie an.
“Soll das ein schlechter Scherz sein?” Lichtschranke? Reinigung? Und was sollte das heißen, dass ich hier auf der Tyschenka war? Das Schlachtschiff meines Vaters glich bestimmt keiner schrottreifen Schüssel.
“Bedaure. Diese Frage kann ich nicht zuordnen. Bitte versucht es mit einem anderen Wortlaut.” Ich ballte die Fäuste.
“Ich gebe dir gleich einen anderen Wortlaut!”
“Ihr seid verärgert, dies ist verständlich, aber ich –” Blitzschnell schoss ich vor und rammte ihr meinen Arm, den ich noch in der Bewegung zu einer langen Klinge formte, direkt in den Schädel. Das Tablett fiel laut scheppernd zu Boden und verteilte die Lebensmittel vor meinen Füßen.
“Dann dürfte das für dich ja ebenso verständlich sein.” Mit einem breiten Grinsen zog ich das Metall aus ihrem Leib und verfolgte, wie sie leblos zusammenklappte. Ich verspürte nach wie vor eine riesige Genugtuung bei der Zerstörung diese Puppen, auch wenn ich mittlerweile wusste, dass mein Hass auf einer Lüge basierte – dass meine gesamte Vergangenheit ein Hirngespinst war. Ich kapierte nur nicht, was mein Vater überhaupt dazu verleitet hatte, sich solch einen Schwachsinn auszudenken. Warum Erinnerungen einer nie existierenden Mutter erschaffen, diese dann auch noch foltern und verstümmeln, sodass ich sie letztlich selbst erwürgte? Wie krank musste man eigentlich sein, um danach auch noch auf die Idee zu kommen, eine Puppe eben jener Mutter zu entwerfen und diese einen auf jede nur erdenkliche Weise aufzuzwingen?
Unwillkürlich überfiel mich ein unangenehmer Schauer, als mir ein Bild vor die Augen kam, wo ich sie vor meinem Vater hatte ficken müssen. Ernsthaft. Das erfüllte doch nur einen einzigen Zweck, und zwar, dass ich ihn töten wollte. Ja. Das wollte ich definitiv immer noch, völlig gleich, was Heka dazu gesagt oder gemeint hatte. Mein Vater war ein Monster, das ausgelöscht gehörte. Es brauchte nur einen geschmeidigen Stich direkt in sein schwarzes Herz.
Gedankenversunken starrte ich dabei auf meine Klinge – drehte diese langsam im fahlen Licht. War es nicht etwas sonderlich, dass ich das noch konnte und wusste? Also die Unterhaltungen mit Heka und auch das mit meinen Waffen? Hätte mein Vater nicht Derartiges als Erstes wieder aus meinem Kopf entfernt? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Wenn Hekas Aussagen tatsächlich stimmten, wusste er hiervon nichts und –
“Ach scheiß drauf!” Frustriert zog ich das Metall zurück in meinen Körper und machte mich auf den Weg, um nach Heka und den anderen zu sehen. Es brachte schließlich nichts hier weiter dumm rumzustehen, weil sich dieses Lügengebilde ständig im Kreis drehte und wenn ich weiter darüber nachdachte, schmorte mir noch vollständig das Hirn durch. Wirklich weit kam ich jedoch nicht, da mich eine Leiche stutzig machte, die nicht wie die anderen aussah.
“Hm ...” Ich hockte mich stirnrunzelnd vor den halbierten Mann und betrachtete die saubere Schnittkante. “Wie von einem Schwert ...” Meine Hand fuhr durch das Blut und die Gedärme am Boden. Im Metall darunter befand sich eine tiefe Kerbe, was bestätigte, dass es nur ein Schlag gewesen war. Seine Innereien fühlten sich zudem noch warm an. Lange konnte sein Tod nicht her sein.
“Warst du das, Vater?” Von der Theorie her, hätte auch ich diesen Mann so zurichten können, aber die Wahrscheinlichkeit hielt ich doch für arg gering. Wenn ich mich hier durchgekämpft hätte, würde jeder so aussehen. Dieses arme Würstchen überlebte vermutlich den zuvor verübten Schockangriff und mein Vater hatte sich dann eben persönlich um ihn gekümmert. Ja. Das würde passen. Wenn ich ein wandelndes Messerset war, lag es doch auf der Hand, dass er dieselben oder ähnliche Fähigkeiten besaß. Es dahingehend nicht bei Heka nachgefragt zu haben, ärgerte mich enorm. Selbst wenn ihre Worte nicht der Wahrheit entsprochen hätten, so wären es doch Indizien gewesen, ob sie mir entweder half oder mich nur weiter verarschte. “Soo dumm ...” Immerhin war es leichter, ein Puzzle zu lösen, wenn man schon Teile hatte und je mehr Informationen ich besaß, desto leichter konnte ich die falschen aussortieren.
Ruckartig richtete ich mich auf, wischte die blutigen Hände an meiner ramponierten Hose ab und setzte mich in Bewegung. Ich musste unbedingt zu den anderen, wobei die Sklaven meine erste Anlaufstelle waren und Heka danach kommen würde. Natürlich gab es da auch noch Johanna und diesen blöden blauäugigen Kerl, aber von den beiden hatte ich vorerst genug. Mir reichten die Männer und Frauen aus Ludwigs Anwesen, völlig egal, was diese wussten. Jede Kleinigkeit würde helfen, da sie mich immerhin nicht anlügen konnten, ohne dass ich es bemerkte. Wobei ich schon gespannt war, ob es einer wagen würde. Ich hatte wahnsinnig große Lust, die Wahrheit aus jemandem herauszuprügeln, um etwas Frust abzubauen.
Ich seufzte schwer. Mittlerweile war es bitternötig, dieses gefährliche Chaos in meinem Kopf zu lichten. Ich brauchte unbedingt etwas, an das ich mich klammern konnte. Das mir einen festen Boden unter den Füßen gab. Etwas Echtes. Richtiges. Klarheit. Andernfalls versank ich in absoluter Finsternis. Ich hatte schon jetzt das Gefühl, als würde mein Verstand jeden Moment zerspringen und da nichts mehr in mir sein, außer Leere.
Ich atmete einmal tief durch und schritt unbeirrt weiter. Ich hatte keinen Bock, jetzt wegen dieser ganzen Scheiße irrezuwerden oder eben – noch mehr. Wenn ich meinem Vater von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand, würde mir das egal sein, denn dann starb entweder er oder ich. Eine andere Option gab es nicht. Alles danach war absolut bedeutungslos. Ebenso wie dieser Mann mit der deutlich sichtbaren Stichverletzung im Brustkorb, über den ich beiläufig stieg. Es war offensichtlich, dass er durch einen gezielten Hieb ins Herz sein Ende gefunden hatte.
Mit wachsendem Unwohlsein beschleunigte ich meinen Gang, denn was, wenn mein Vater nur mich am Leben gelassen hatte? In dem Fall sprach es zwar eindeutig gegen Heka, weil alle abzuschlachten nicht mit Familie und in Sicherheit sein zusammenpasste, ließ mich aber darüber hinaus unglaublich dumm dastehen. Ich hatte dann absolut keine Möglichkeit, ihm irgendwie entgegenzuwirken. Jedes Puzzleteil, das ich fortan bekommen würde, wäre von ihm selbst. Zudem bliebe mir ein Schiff voller Puppen und keinem einzigen normalen Menschen. Das würde mit Sicherheit meinen Willen brechen – was ganz nach seinem Geschmack sein dürfte. Fabelhaft. Ich war sowas von am Arsch.
Meine Befürchtungen bestätigten sich jedoch nicht. Im Verladeraum entdeckte ich neben den unzähligen Leichen und weiteren Maugeris meines Vaters, eine lebendige Frau, die der Kleidung nach zu Ludwigs Eigentum gehörte. Wirkliche Erleichterung deswegen verspürte ich aber noch nicht. Die dunklen Klauen der Abwärtsspirale lagen noch auf mir und warteten nur darauf, mich endgültig in die Tiefe stürzen zu können. Ich musste erst ihre Augen sehen, um mir sicher zu sein, dass sie echt war und keine Fälschung.
Schnell lief ich zu ihr und ignorierte dabei die anwesenden Puppen mit den Essentabletts sowie das riesige Loch in der Außenhülle, das ich im Normalfall sofort inspiziert hätte. Gerade jedoch konnte es mir egaler nicht sein. Alles um mich herum war unbedeutend, es zählte nur diese Frau und der verzweifelte Wunsch, dass sie nicht zu meinem Vater gehörte – kein Teil dieses Spiels war.
Grob packte ich ihren Arm, riss sie auf die Füße und noch in derselben Bewegung in meine Richtung. Um diesen blutverschmierten Kerl am Boden konnte sie schließlich später immer noch trauern, jetzt aber gab es Wichtigeres! Ich umfasste ihren Kopf und starrte sie atemlos an. Sie war zumindest schon mal wirklich ein Sklave von Ludwig, denn ich erkannte ihr Gesicht. Ihr Name lautete Charlotte und sie war hauptsächlich als Baddame bei ihm tätig gewesen.
“Wie lautet deine Sklavennummer?” Als damaliger Wyttmann des Spiels hatte ich sämtliche Daten des Anwesens und der dort lebenden Menschen bekommen. Ob ich dieses Wissen noch immer besaß, würde sich nun zeigen.
“I-ich ...” Ihre großen dunkelbraunen Augen blickten mich an. Überraschung, Verwirrung und eine ordentliche Portion Angst las ich darinnen. “Sn 9912 ... mein Herr.”
“Danke.” Mit einem Ruck zog ich sie an meine Brust und umarmte ihre kleine Gestalt. “Du hast keine Ahnung, wie wichtig mir diese Wahrheit ist.” Ihre Augen, ihre Worte – ja selbst ihre verkrampfte Haltung durch meine Nähe, das spielte sie nicht. Das war echt und gab mir Stabilität, die ich so verdammt dringend gebraucht hatte. Dass mein Vater diese Schwäche von mir vermutlich gerade mitverfolgte, kümmerte mich nicht. Sollte er uns doch durch diese dämlichen Puppen beobachten und glauben, Charlotte bedeutete mir etwas. Damit könnte er nicht falscher liegen. Wenn er sie später folterte, um mich damit treffen zu wollen, würde ich nicht einmal mit der Wimper zucken.
“M-mein Herr? W-was ... kann ich für Euch tun?” Sie zitterte und ihr Atem beschleunigte. Sie fühlte sich ganz offensichtlich nicht wohl, derart von mir berührt zu werden. Verständlich. Bedeutete solche Zuwendung für Sklaven doch unweigerlich eine sexuelle Gefälligkeit. Aber ich wollte gar nichts dergleichen. Ich wollte sie einfach nur im Arm halten.
“Nur dastehen.” Das war eigentlich gar nicht meine Art und ich wollte sie auch loslassen, aber es ging nicht. Es war absurd, doch ich fühlte mich an jene Momente zurückversetzt, als ich Dezeria umarmt hatte. Wo ich für einige Sekunden ganz gewesen war.
“U-und f-für wie lange?” Ihre Frage machte mich wütend. Wieso konnte sie nicht einfach die Klappe halten? Warum mir nicht diese längst vergessenen schönen Erinnerungen gönnen, die vielleicht nie existiert hatten?
Genervt zog ich sie von mir, massierte meine Schläfen und atmete einmal tief durch. Sich jetzt in Aggressivität zu verlieren wäre unangebracht und würde mir nichts bringen. Dass sie diese Situation seltsam fand, war ihr gutes Recht, ebenso wie sich ein schnelles Ende davon zu wünschen. Außerdem wollte ich mich selbst nicht zu sehr in diesen Irrsinn hineinsteigern. Es war besser, Dezeria sowie all jenes, was ich mit ihr verband, wieder in die hinterste und dunkelste Ecke zu verbannen, die ich in mir überhaupt finden konnte. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich sie tatsächlich vergessen wollen, denn dann tat es nicht länger weh.
“Lassen wir das. Erzähl mir einfach, was hier passiert ist.” Ich versuchte, es freundlich zu betonen, weil ich keine Lust hatte, dass sie so furchtsam blieb. Das würde mich nur weiter aufregen.
“Ich ... also ... Es tut mir leid, aber ich weiß es nicht.” Was stimmte, aber eben auch nicht hilfreich war.
“Hast du irgendetwas gesehen oder ist dir was aufgefallen? Ganz gleich, wie unbedeutend es dir erscheinen mag.”
“Also, ja ... Ja, ist es! Ich bin zusammen mit Emeli aufgewacht und ... ich habe meine Stimme wieder und sie ihre Finger! Das ... ist unglaublich.” Ich runzelte die Stirn und sah auf ihren Hals, den sie mir gut sichtbar präsentierte. Dass ihr Halsreif fehlte, war mir nicht entgangen, aber jetzt, wo sie dieses Detail erwähnte – dort hätten einige tiefe Narben sein müssen. An diesen Eintrag in ihrer Akte erinnerte ich mich genau. Sie war eine jener Sklavinnen gewesen, die Ludwig nebenbei loswerden wollte. Sie stand zum Verkauf und die Verletzungen hatten sich auf den Preis ausgewirkt. Viel hatte er nicht für sie verlangen können.
“Interessant ... Und Emeli ist auch geheilt? Wo ist sie jetzt?” Dann waren also schon einmal zwei Leute lebendig, nur den Aspekt mit dem Heilen kapierte ich dabei nicht. Warum sollte mein Vater das tun? Zumal er dabei ja ganz offensichtlich mich ausgelassen hatte. Auf meinem Oberkörper befanden sich nach wie vor unzählige Narben, die er mir einst zufügte. Was wollte der Arsch mir also nun damit sagen? Dass ihm diese Sklaven wichtiger waren als ich? So wie es auch schon Heka erzählte? Die anderen retten, während ich an diesen beschissenen Spielen teilnehmen musste? Das konnte doch unmöglich sein Ernst sein.
“Ja, Emeli hat wirklich alle Finger an den Händen zurück. Sie war genauso verwirrt darüber, wie ich mit meiner Stimme.” Ein strahlendes Lächeln zog in ihr Gesicht. “Es ist ein Wunder!” Ich schnaubte abfällig. Wie konnte man nur so naiv sein?
“War es ganz bestimmt nicht. Also, wo ist sie jetzt?” Ihre Freude erstarb und sofort senkte sie unterwürfig den Blick.
“Entschuldigt ... Emeli sieht ... Sie sieht nach den anderen und ich passe in der Zeit auf Theodor auf.” Sie deutete auf den blutüberströmten Leichnam neben sich, der tatsächlich atmete. Verrückt. Durch das Blut hatte ich angenommen, dass er ebenso hingerichtet worden war. “Ich wollte ihn bei diesen Servicemaschinen nicht alleine lassen. Da war nämlich eine bei ihm, als wir aufgewacht sind, und sie hat etwas gemacht.” Ich hob eine Augenbraue.
“Was gemacht? Ich will es genau wissen!”
“I-ich weiß es nicht!” Sie sah ängstlich auf. “Das Mädchen hatte eine graue Schachtel dabei und hat da irgendwas reingepackt. Ihre Hände waren voller Blut, deswegen hatten wir angenommen, dass sie ihn verletzt hat, aber wir konnten nichts finden.” Zittrig kniete sie sich wieder neben Theodor auf den Boden. “Könnt Ihr vielleicht mal nach ihm sehen? Bitte! Er wacht einfach nicht auf.”
“Von mir aus ...” Dass der Kerl immer noch schlief, fand ich jetzt nicht unbedingt besorgniserregend. Konnte immerhin auch die Nachwirkung von dem Fruchtsaft sein. Dennoch hockte ich mich neben die beiden und tastete lieblos seinen Oberkörper ab. So zu tun, als würde mich sein Wohlergehen interessieren, lockte meinen Vater vielleicht auf eine ähnliche falsche Fährte, wie zuvor die Umarmung mit Charlotte.
Während ich mich also um Theodor kümmerte, lag meine Konzentration ganz und gar auf meiner Umgebung. Im Augenwinkel zählte ich sechs Puppen, die den neuen ins Metall gefrästen Ausgang bewachten. Auch wenn ich dahinter, außer einer leuchtenden blassgelben Wand, nicht viel erkannte, führte dieser Weg ohne Zweifel ins Innere der Tyschenka. Jetzt ergab das vorherige Gefasel einer Lichtschranke auch mehr Sinn. Mein Vater hatte uns in einem Stück, samt den beiden verbundenen Schiffen, in seinen Hangar verfrachtet. Was uns unweigerlich zu seinen Gefangenen machte. Aber. Warum hockten wir dann nicht in einer Zelle oder einem Folterzimmer?
Ich neigte leicht den Kopf, um mich unscheinbar weiter umzusehen. Rechts von uns an der Wand standen in einer Reihe zusätzlich noch sieben Maugeris. Es war schon seltsam, dass jede von ihnen etwas zu Essen oder Trinken auf einem Tablett hatte. Von der Menge her reichte es locker für zwanzig oder dreißig Leute – viel zu viel für uns.
“Habt ihr eigentlich was von dem Zeug, das sie hier anbieten, zu euch genommen?”
“Nein.” Sie schüttelte den Kopf und half mir, Theodor auf die Seite zu drehen, damit ich auch seinen Rücken zum Schein begutachten konnte. “Wir hatten beide weder Durst noch Hunger und ... in der Regel werden Sklaven nicht von Maschinen bedient. Jedenfalls nicht als Gäste ...”
“Wohl wahr.” Puppen wurden seither für die Sklavenerziehung hergenommen, da diese perfekt dafür geeignet waren, den Willen des entsprechenden Menschen rund um die Uhr bearbeiten zu können. Daran ging jeder unweigerlich kaputt oder verbog sich in die gewünschte Richtung.
“Darf ich Euch auch eine Frage stellen?”
“Wenn’s sein muss.” Und wenn man davon absah, dass dies bereits eine Frage gewesen ist.
“Könnt Ihr mir vielleicht sagen, ob das ein Spiel ist oder wage ich damit zu viel?”
“Möglich ...” Es war nicht auszuschließen, dass mein Vater mit uns ein Drogenspielchen spielen wollte. Wetten, wer was zu sich nahm und welche Substanz wie in uns wirken würde. Wäre für ihn und irgendwelche gelangweilten Reas sicherlich höchst unterhaltsam. “Ich würde jedenfalls davon abraten, irgendwas von den Dingern anzunehmen.” Ich drehte Theodor zurück auf den Rücken und beendete damit meine oberflächliche Untersuchung. Außer das alles um ihn herum voller Schweiß, Blut sowie anderen undefinierbaren angetrockneten Flüssigkeiten war und er bei diesem allgemeinen Gestank in der Luft schlafen konnte, fehlte ihm nichts.
“Wisst Ihr, was er hat? Was die Servicemaschine gemacht haben könnte?”
“Nö. Verletzt ist er jedenfalls nicht. Was auch immer uns bewusstlos werden und wieder aufwachen ließ, braucht bei ihm vielleicht einfach nur länger.” Von möglichen Spekulationen, was die Puppe alles an ihm hätte machen können oder mein Vater, wollte ich gar nicht erst anfangen.
“Können wir ihn dann vielleicht bewegen? Ich will ihn hier nicht liegenlassen. Vorher hatten wir uns nur nicht getraut, ihn von dieser Lache wegzuziehen.” Ich seufzte.
“Ich mach schon.” Ich zog Theodor ein Stück weit vor, wo es nicht ganz so verdreckt war, hielt dann aber inne und betrachtete seine ramponierte Anzugjacke, auf die er bis eben gelegen hatte.
“Habt ihr ihm das Oberteil so zerschnitten?” Der Stoff war vorne fein säuberlich durchtrennt, was eigentlich nur einen Schluss zuließ.
“Nein. Nur vollständig ausgezogen. Es hing ohnehin nur in Fetzen an ihm dran.” Mein Vater hatte also wirklich etwas mit ihm angestellt. Hatte er ihn hier operiert oder sogar diese Puppe? “O Scheiße ...” Mir wurde schlagartig schlecht und angewidert machte ich einige Schritte rückwärts.
“Was? Was habt Ihr?!”
“Es ist ein Slak ... ein Schlupfspiel.” Ich sollte ihn am besten schnell töten, aber – verdammt noch mal – ich hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen.
“Was ist das? Was hat man mit ihm gemacht?” Panisch blickte sie zwischen uns hin und her. “Können wir ihm helfen?”
“Dem kann man nicht mehr –” Ich würgte, während sich in meinem Gedächtnis unglaublich penetrant eine Erinnerung abspielte, wo sich aus einer Gruppe von nackten Männern und Frauen unzählige Tubwürmer fraßen. Erst passierte es in Bereichen, die ohnehin wenig Widerstand boten. Mund, Nase, Ohren. Danach kamen die Biester meist aus den Augen, dem Bauchnabel oder dem Intimbereich. Zum Schluss stroben sie so ziemlich überall aus der Haut. Verflucht, ich wollte das nicht noch einmal sehen oder hören!
“HHIILFEEE!” Plötzlich stolperte ein Mann in den Verladeraum, der fix und fertig aussah. “Bitte! W-wir brauchen ein Schlüssel oder ...” Er keuchte. “Oder ein W-Werkzeug zum Schneiden! I-ich kenn mich hier ... doch nicht aus!” Durch seine Aufregung verebbte zum Glück etwas meine Übelkeit.
“Einen Schlüssel?” Das ergab keinen Sinn, aber es beruhigte mich, dass er ebenso die Kleidung von Ludwig trug und die Wahrheit sagte.
“Carsten? Was ist denn passiert? War Emeli bei dir? Wozu ein Schlüssel? Wir brauchen Medizin für –”
“Keine Zeit! Es geht um Marianne, sie hat sehr starke Bauchschmerzen! Wir kriegen ihr Korsett nicht auf! Und –” Ich hatte genug gehört und rannte sofort los. Ich musste sie mir unbedingt ansehen – musste mich vergewissern, dass mein Vater mit uns wirklich ein Slak gestartet hatte. Allein der Gedanke daran, dass er jedem von uns irgendwelche Tiereier eingesetzt hatte, die nun nach und nach schlüpften, jagte umgehend die Galle meine Speiseröhre hinauf.