Ich war wie erstarrt, als der Fremde mir den Brieföffner abnahm. Er war stark, aber dennoch tat er mir dabei nicht weh. “Sag mir warum?”, fragte er erneut, was mir eine richtige Gänsehaut bescherte. Seinem Gesicht konnte man keinerlei Regung entnehmen und seine Stimme klang verzerrt mit einem leichten Hall. Als würde ich dies alles nur träumen. Unwirklich. Ich konnte ihm nicht antworten. Ich wusste ehrlich auch nicht, was er mit dieser Frage meinte. Seine leuchtenden Augen fegten zudem jeden weiteren Gedanken hinfort. Wie er mich anblickte, raubte mir schier den Atem. Seine blauen Augen waren einfach nicht von dieser Welt. So etwas hatte ich noch nie zuvor in meinem ganzen Leben gesehen. Ein feiner weißer Nebel schien sich darin zu winden. Fast als wäre es nicht fest, als würde sich die Farbe ineinander bewegen. Unglaublich und wunderschön.
“Na los! Laut Tracking ist sie beim Brunnen”, rief plötzlich jemand und ließ mich besorgt den Kopf herumdrehen. Erschrocken sah ich durch das lichte Blattwerk der Hecken mehrere Leute den Weg entlanglaufen. Hastig wandte ich mich zu dem jungen Mann zurück, um ihn anzuflehen, mir zu helfen. Aber, ich war allein. Verwirrt starrte ich ins Leere. Blickte auf den Brunnen und den gepflegten Garten. Niemand war hier. Wie war das möglich?
Irritiert merkte ich die Kälte an meinen Händen und sah auch das Blut daran. Schnell griff ich an meinen Hals und tastete. Nichts. Da war keine Verletzung und auch, als ich mich umblickte, lag nirgendwo ein Brieföffner. Aber, das habe ich mir definitiv nicht eingebildet! Das klebrige feuchte Rot an meinen Fingerspitzen ist der eindeutige Beweis. Es ist mein Blut. Kein Zweifel!
“Da!”, rief eine strenge Stimme und ließ mich zusammenzucken. Keine Sekunde später zogen mich kräftige Hände ruppig auf die Füße. Ich stutzte. Mein Knöchel schmerzte ja gar nicht mehr. Wie kann das sein?
“So, dein Ausflug ist nun beendet, junge Dame”, sprach ein schlanker Mann, der nun vor mich trat und seine blonden Haare zu einem seltsamen Zopf mitten auf dem Kopf gebunden hatte. Er sah auch mit seiner feinen goldenen Kleidung gar nicht wie einer der Bediensteten aus. “Oh! Ist das etwa Blut an Eurem Hals? Seid Ihr verletzt?”, fragte er dann sichtlich besorgt und berührte meinen Hals. Dadurch, dass mich die umstehenden Leute noch festhielten, konnte ich seiner Berührung auch nicht entkommen. “Seltsam. Ich hatte Eure Vitalfunktionen die ganze Zeit überwacht. Eine derart schwere Verletzung wurde vom System gar nicht erkannt. Aber ... die Haut ist unbeschädigt, ist das nicht Euer Blut?” Okay, er sah mich skeptisch an und wartete auf eine Antwort. Problem nur, ich weiß selbst nicht, was passiert ist. Ein weißhaariger, blauäugiger Kerl kam aus dem Nichts und hatte mich geheilt – wie auch immer das möglich war – und gleich danach, konnte ich ihn nirgends mehr sehen. Selbst ich finde diese Geschichte mehr als lächerlich.
Mein Schweigen schien Mister Zopfkopf, dann auch resignierend hinzunehmen. “Auch gut, dann lasst mich mal Euer verletztes Bein sehen.” Hm? Verwirrt zog ich eine Augenbraue hoch, aber da bückte er sich schon runter. Zielsicher packte er mein rechtes Bein und tastete sogleich am Knöchel entlang. “Seltsam, spürt Ihr Schmerzen?” “N-nein”, antwortete ich zögernd, sowie mehr und mehr errötend. Ich trug keine Unterwäsche. So, wie er mein Bein anwinkelte, war es zwar unwahrscheinlich, dass er bei dem knielangen Kleid etwas sehen konnte, aber es war mir dennoch peinlich. Ich presste die Oberschenkel zusammen, was ihn aufblicken ließ.
“Keine Sorge”, sprach er freundlich und richtete sich wieder auf. “Ich bin nicht wegen solch Dingen an Euch interessiert, mich wundert lediglich, dass Ihr keine Verletzungen habt.” Er holte nach diesen Worten eine kleine schwarze Tafel aus seiner Jackentasche hervor. Wow! Sie fing an zu leuchten, als er mit dem Finger darauf tippte. Es glich einem Hexenwerk!
“Hm ... jetzt ist alles wieder im Normbereich”, murmelte er leise. “Eventuell sitzt Euer Sensor nicht richtig oder ist fehlerhaft. Das ist wirklich ungewöhnlich, aber für die heutige Zeremonie nicht weiter tragisch”, verkündete er nun sichtlich vergnügt, was ich nicht nachvollziehen konnte. “Was ist denn für Euch als Nächstes vorgesehen?” Er blickte kurz zu mir auf und dann wieder auf diesen glatten magischen Stein. “Der Plan sieht für Euch, Eleonore, nun die Ankleide vor. Gut, gut. Wollt Ihr selbst gehen oder von meinen Männern, ganz dieser heiligen Feier würdig, getragen werden?” Ich runzelte die Stirn. Eleonore? Halten die Leute mich hier etwa für jemand anderen? Das ist meine Chance!
“I-ich heiße Dezeria, Tochter von Elisabeth und Robert D’go. Ich kenne keine Eleonore, es handelt sich sicherlich um eine Verwechslung”, sprach ich ruhig und ernsthaft – versuchte krampfhaft meine Nervosität nicht an die Oberfläche zu lassen.
“Netter Versuch, Eleonore. Also dann, bringt sie zur Hadeza Dagmara, die Zeit drängt.” “Halt! Nein! Wartet!”, protestierte ich und wehrte mich gegen die Verschleppung der Männer. Ein Hüne warf mich dann allerdings mit Leichtigkeit auf seine Arme und presste mich an seine breite Brust. Gott! Ich schluckte und stellte sofort jedwedes Zappeln ein, als seine rechte Hand unter meinen Rock geriet. “HEY!”, schimpfte ich dann aber doch und schlug gegen seinen Oberkörper, als seine Finger weiter auf Wanderschaft in Richtung meines Hinterns gingen.
“Malte ... lass gut sein oder brauchst du noch ne Strafe?”, hörte ich jemanden von der Seite flüstern, was die Finger an meinem Oberschenkel immerhin etwas verlangsamte. Glühend rot vor Scham blickte ich in das Gesicht meines Trägers. Den kenn ich doch. Er hat mich bereits vollkommen entblößt gesehen. Hilfe, wie er so anzüglich auf mich herab grinste, bedeutete es nichts Gutes. Elender Kerl! Energisch versuchte ich, seine Hand zurückzudrängen. Er ließ es dann auch geschehen. Gott sei Dank!
Erleichtert atmete ich auf, aber Zeit zum Entspannen hatte ich nicht wirklich, da es zügig zurück zum Haus ging. Toll. Ich hätte heulen können. Wozu habe ich mir eigentlich zuvor solche Mühe gegeben, hier abzuhauen? Alles umsonst! Panik keimte immer stärker in mir auf und als die Männer mich dann schließlich in ein Zimmer im ersten Stock brachten, hielt ich ungläubig den Atem an. Verdammt! Dort stand ein bauschiges Brautkleid mitten im Raum. O Gott! Wollen die das etwa immer noch durchziehen?! Ich will dieses Monster nicht heiraten!
“Wurde aber auch Zeit!”, rief eine verärgerte Frauenstimme und dann sah ich den Schrecken auch. Die fürchterliche Dagmara stolzierte gebieterisch vor den Zopfheini und stellte sofort das Wedeln mit ihrem kleinen Handfächer ein. Ihr Blick ging an ihm vorbei und huschte zu mir. Missbilligend musterte sie mich.
“Ah, werte Hadeza Dagmara. Hier. Die Braut, wie bestellt”, sprach er und machte einen angedeuteten Knicks vor der alten Schachtel. Sie rümpfte lediglich abwertend die Nase und deutete dann mit einem Wink zu einer weißen Türe hinter sich.
“Bringt sie ins Bad. Das Kind sieht ja schon wieder unmöglich aus!” “Wie Ihr wünscht. Malte, bring die Lady zum Waschen”, erwiderte Zopftyp dann und schon setzte sich Malte mit mir auf den Armen in Bewegung. Ich zog verunsichert den Kopf ein, als er mich an Dagmara vorbei trug und dann besagtes Badezimmer betrat. Dort warteten bereits zwei Dienstmädchen in schlichten, aber dennoch hübschen orangenen Kleidern. Beide kamen mir auch bekannt vor. Wobei mein Blick unweigerlich an der Frau mit den ganzen Narben hängen blieb.
“Danke, Malte, du kannst sie nun runterlassen und dann schließ die Türe”, sprach die ohne Narben und zeigte danach auf die Badewanne. “Lady Eleonore, das Wasser ist bereits für Euch eingelassen. Braucht Ihr vielleicht Hilfe beim Entkleiden?” “Ich heiße so nicht!”, motzte ich zurück und verschränkte die Arme vor meiner Brust, als ich endlich wieder selbst stehen durfte. “Mein Name ist Dezeria!”, stellte ich unmissverständlich klar, da mir dies langsam aber sicher zu doof wurde. “Gewiss”, nickte die Frau, “aber der Herr gab Euch diesen. Ihr werdet Euch daran gewöhnen und schnell vergessen, wer Ihr einst wart.” Ich sah sie ungläubig an. Das ist nämlich ein verdammt schlechter Scherz! Ich bin doch kein Haustier, welches man sich einfach kaufen und mit einem neuen Namen schmücken konnte!
“Ihr seht unwohl aus, braucht Ihr vielleicht etwas zu trinken? Ihr müsst sicherlich durstig sein, nach der ganzen Aufregung. Essen könnte Ihr jedoch erst nach der Hochzeit”, sprach sie weiter und da stutzte ich wirklich. Stimmt. Ich hatte seit dem gestrigen Tag weder getrunken noch gegessen. Seit man mich am Wasser aufgelesen hatte, verspürte ich irgendwie weder Durst noch Hunger. Was hat dies zu bedeuten? Und was war das für ein seltsamer Mann am Brunnen?
“Du brauchst sie nicht so zu bemuttern Emeli”, krächzte nun die andere Frau genervt und griff nach meinem Kleid. “Sie soll sich jetzt ausziehen und baden, das hat die Herrin angewiesen!” “Hey! Lass das”, hielt ich sie empört auf, als sie den Saum meines Kleides hochzog. Gott! Dieser Malte ist doch noch hier!
“Stellt Euch nicht so an. Man hat Euch bereits nackt vor aller Augen im Hof gewaschen und es gibt bedeutend schlimmere Strafen hier!”, erwiderte sie mit ihrer kratzigen Stimme, die mit jedem Wort immer heiserer wurde. “Zieht Euch also jetzt aus. Wir haben nicht mehr allzu viel Zeit!” “Nein!”, hielt ich weiter mit hochrotem Kopf dagegen. Dass ich mich vor dem Typen ausziehe, kann sie vergessen! Der hat sogar die Nerven mich breit anzulächeln. Unverschämtheit!
“Hab doch etwas Nachsicht”, mischte sich Emeli nun ein und zog die andere von mir weg. “Sie wurde doch schon am Hals verletzt, siehst du nicht das ganze Blut?” “Und? Es hat ihr ja offensichtlich nicht geschadet, ich sehe jedenfalls keine Wunde.” Nach diesen Worten hustete sie ein paarmal und strich sich die schulterlangen schwarzen Haare hinters Ohr zurück. “Wenn sie sich nicht freiwillig entkleidet, wird Malte das für sie tun und er wird gewiss nicht so unvorsichtig sein, wie Kastan heute Morgen.” “So hör doch Charlotte, wenn sie des Grafen Frau wird, hat sie vielleicht Möglichkeiten, hier etwas zu verändern.” “Wirklich? Daran glaubst du? Das ist lächerlich!” Emeli dagegen lächelte nur und schob diese Charlotte Richtung Türe, ehe sie sich wieder zu mir wandte.
“Bitte verzeiht Charlottes schroffe Art, wenn Ihr könnt. Ihr seid ihr jedoch bereits einmal entflohen und dafür wird sie heute Abend noch einige Peitschenhiebe erdulden müssen. Ich selbst möchte allerdings auch nicht für Fehlverhalten bestraft werden oder so wie Johanna enden. Wenn Ihr Euch also nun freiwillig ausziehen würdet ...”, sprach sie freundlich und streckte mir auffordernd ihre Handflächen entgegen. Ich starrte schwer schluckend auf ihre Fingerstummel und Furcht wallte in mir auf. Wenn sie schon ihre eigenen Leute für jedes bisschen bestraften, was wird mir dann heute Abend widerfahren? Ich bin doch nun schon zwei Mal abgehauen. Unweigerlich begann ich zu zittern.
“Ich helfe Euch, ja?”, sprach Emeli nach einem Moment, als sie meine Panikattacke bemerkte. Sie zog mich näher zur Badewanne und stellte sich danach hinter mich. “Er wird nichts sehen, habt keine Angst”, flüsterte sie noch und zog dann das verdreckte Dienstkleid behutsam über meinen Kopf. Ich keuchte, war einfach nur stocksteif und stieg auch dementsprechend ungelenk in die Badewanne.
“Entschuldigt das kalte Wasser, aber die Herrin bestand darauf, Euch kein neues einzulassen. Es wäre warm gewesen, wenn Ihr Charlotte heute früh nicht entflohen wärt”, sprach Emeli, während sie das Kleidungsstück beiseitelegte. Ich empfand das Wasser jedoch nicht als zu kalt oder so. Es war sogar recht angenehm auf der Haut. Vielmehr war ich damit beschäftigt, meine großen Brüste zu verbergen und auch, mich ganz klein zu machen. Ich wollte Malte nicht noch weitere Blicke auf meinen Körper ermöglichen.
Verunsichert blickte ich immer wieder in seine Richtung – und ja, er musterte mich. Gott, ist mir das unangenehm! Emeli und Charlotte nahmen sich derweil Seife und auch Schwämme zur Hand, um mich zu waschen. Eine schäumte mir vorsichtig das Gesicht und die Haare ein, während die andere sich erst meinen Armen und dann meinem Oberkörper widmete. Ich ließ es über mich ergehen. Ich mein, was habe ich sonst für eine Wahl? Besser wohl, ich mache erst einmal mit. Warte auf eine weitere Gelegenheit zur Flucht oder – die Möglichkeit für einen Freitod. Wobei ich schon zweimal versucht habe, mir das Leben zu nehmen. Was hatte ich dabei nur falsch gemacht? Konnte ich überhaupt sterben? Oder bin ich gar schon tot und nun hier in meiner ganz persönlichen Hölle?