╬Reznicks Sicht╬
Ich erwachte aus einem traumlosen Schlaf. Ruhig. Erholt. Mit klaren Gedanken. Herrlich. Mein berechnendes, kaltes Ich war zurück. Gut. Entschlossen richtete ich mich auf und strich mir die Haare aus dem Gesicht – blickte kurz umher. Ich befand mich nicht in meinem Bett. Stimmt. Das Sofa. Heka hatte mich betäubt. Ich erinnerte mich.
Schwungvoll schlug ich die Decke zurück und stand umgehend auf. Etwas verwirrt betrachtete ich das angerichtete Essen auf dem Tisch vor mir. Eine Platte mit verschiedenen geschnittenen Früchten und einem Nyen-Steak in der Mitte. Ich wusste gar nicht, dass wir noch so etwas auf Lager hatten.
Es war noch blutig – nur kurz von der Flamme geküsst. Mein Lieblingsessen und langsam realisierte ich auch den Duft von frisch gebratenem Fleisch. Hmm superlecker. Wie aufs Stichwort knurrte mein Magen. Das hast du schön angerichtet, Heka. Danke dafür. Aber, ich ignorierte diese Köstlichkeit. Vorerst gab es Wichtigeres. Ich setzte mich in Bewegung. Steuerte eine dicke verzierte Säule in meinem Arbeitsbereich an. Deinem zentralen Kern, Heka.
<<Schön das Ihr auf seid. In einer Stunde und 23 Minuten erreichen wir Mewasinas.>> Ich nickte knapp zu Hekas Auskunft und stellte mich ein paar Schritte später genau vor die verborgene Schutzklappe.
<<Ihr solltet noch etwas Essen und trinken, bevor es losgeht.>> Ja, das sollte ich wohl, aber gerade kümmerte mich das Essen nicht, Heka. Es gibt Dinge, die du nicht tun darfst. Niemals. Und das weißt du. Du weißt, was ich mag und was ich hasse. Mein angerichtetes Lieblingsessen soll von dir vermutlich als eine Art Entschuldigung fungieren. Aber, ich bin kein kleiner Junger mehr, Heka. Deine Schuld ließ sich nicht so leicht mit etwas Speis und Trank tilgen.
Mich zu betäuben war etwas, dass ich ganz und gar nicht leiden konnte. Und doch. Du hast es erneut getan. Du hast die Grenzen, die ich eigentlich tief in dir geschrieben hatte, verschoben. Immer schon. Tag für Tag. Obwohl ich die Sedierung wegen der Nanobots noch verschmerzen konnte, war es dieses Mal zu viel, Heka. Viel zu viel.
Meine Hand wanderte zu jenem Punkt, wo sich die Schalttafel befand. Ich drückte leicht auf die Oberfläche und wartete – wartete darauf, dass diese sich öffnete. Was nicht geschah. War ja klar, nicht wahr, Heka? Du willst nicht, dass ich an deiner Verkabelung herumhantiere. Verständlich, aber es ist auch unumgänglich. Das wissen wir beide.
<<Ich habe Infos über Euer Implantat.>> Ernsthaft? Du versuchst es mit einem Köder, Heka? Du willst mich mit sowas Belanglosem von meinem Tun ablenken?
<<Ich kann Euch jetzt schon sagen, dass es eine exzellente Fälschung ist, da selbst der Abgleich mit dem Rea-Netzwerk keinen Fehler aufzeigte. Ich habe Euch eine Liste zusammengestellt von möglichen Technikern, die solch Duplikat anfertigen könnten und auch eine Zeitachse erstellt, seit wann Euer Vater auf diese Weise Euer Leben sehen konnte. Wünscht Ihr eine Bildschirmpräsentation?>>
Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen. Deine Mühe, mich von deinem Kern – deinem Herz – zu vertreiben, ist wirklich süß, aber vergeblich.
“Spar dir die Mühe. Mich kümmert es gerade nicht. Ich hatte zudem genügend Zeit, darüber nachzudenken. Der Händler, der mir dieses Implantat verkauft hat, wird für seinen Verrat ganz einfach bluten”, sagte ich betont doppeldeutig und drehte herum. Ich schritt zu einer Schublade, um mein Zeptek zu holen. Ein nützliches kleines Hilfswerkzeug, womit sich sämtlich Schlösser oder verborgene Schließmechanismen öffnen ließen. Ironischerweise bräuchte ich wohl auch einen, um das Fach zu öffnen, worin er sich befand. Hm. Ärgerlich.
“Öffne Fach 1-033”, sprach ich diesen unmissverständlichen Befehl zu dir, Heka, aber ohne das etwas passierte. Natürlich. Du weißt, was drin ist, und auch, wofür ich es nutzen will. Hast du etwa Angst? Ja, wenn du ein Mensch wärst, hättest du das wohl. Aber als KI? Ich mein, ich würde dir nur zu gerne dieses Gefühl der Hilflosigkeit vermitteln, welches du mir mit einer Betäubung aufzwingst, aber bei einem Programm geht sowas ja leider nicht. Niemand konstruierte künstliche Intelligenzen mit Gefühlen. Ich hatte das bei dir auch nie mit eingebaut. Deine Persönlichkeit entsprach nichts Echtem. Du bist nur ein Haufen bedeutungsloser Zahlen und deren Interpretation von Algorithmen. Ja. Ich vergaß diese Tatsache zwar ab und an, aber es war so. Wer Angst hat, macht Fehler und wie unsinnig wäre sowas bei einer Software, die das Schiff sowie alle Lebenssysteme steuerte?
“Ich werde dich neu aufsetzen”, sprach ich kühl und deutete dabei auf die Schublade. “Es ist längst überfällig und in einer Stunde sollte ich das locker hinbekommen. Dein neuer Quellcode wird dann weniger anfällig sein und gegen meinen Vater will ich lieber auf Nummer sichergehen.” Das entsprach sogar im Großen und Ganzen der Wahrheit. Den Teil, dass ich sie damit aber auch bestrafen wollte, musste ich nicht extra erwähnen. Ihren Kern zu öffnen und abzuschalten kam einem Todesstoß gleich. Nicht so wie beim Herunterfahren, wo sie stets im Standby noch aktiv sein und im Hintergrund arbeiten konnte. Selbst bei ihrem eigenen Reset war das dumpfe Konstrukt ihres Geistes aktiv gewesen.
<<Nicht nötig. Ich bin gegen erneute Angriffe Eures Vaters bestens gerüstet.>>
Süß, aber diese Behauptung wird mich wohl kaum davon abhalten. Ich weiß. Ich habe dir schon oft damit gedroht, Hardware aus der Wand zu reißen und es sogar an besonders aufgewühlten Tagen auch getan, aber dich nie vollkommen getrennt. Nie. Ich bin gerade auch nicht wütend. Gerade bin ich vollkommen klar und ich weiß, dass blinde Zerstörungswut dich nicht verletzen wird. Eine Entnahme aus dem Schiff wird es aber definitiv und genau das ist mein Ziel.
“Öffne das Fach und gib mir den Zeptek oder ich stemme deine Verriegelung mit Gewalt auf. Das wollen wir doch beide nicht.” Meine Worte sollten ihr deutlich machen, wie ernst es mir war. Aber nichts passierte. “Fein”, gab ich gelangweilt von mir und schritt gemütlich zurück zum Kern. Es gab noch eine andere Möglichkeit, die zwar etwas unangenehm war, aber mit den neuen Nanobots wollte ich das sowieso mal ausprobieren.
<<Was ich Euch noch bezüglich des Implantats sagen wollte. Also, warum ich es nicht entdeckt hatte. Das Signal wurde nicht durchgängig gesendet und wenn, dann nur durch minimale Transmitterfrequenzen. Sprich, Euer Vater hat nicht die ganze Zeit über Euer Leben sehen können. Was Euch sicherlich erfreuen dürfte.>>
Wirklich, Heka? Noch eine Ablenkung? Wie langweilig. Mich erfreute zwar tatsächlich, dass mein Vater mir nicht permanent hinterherspioniert hatte oder konnte, vermutlich Letzteres. Aber gerade war er in meiner Rangliste nicht an erster Stelle. Du bist es, Heka. Ich stellte mich erneut vor die Säule und streckte den rechten Arm zur Seite.
“Danke für die Information, aber ich werde dich auseinandernehmen, egal was du noch zu sagen hast.” Nach diesen Worten lächelte ich. Lachte sogar kurz auf, als ein gleißender Schmerz durch meinen Unterarm fuhr. Scharf. Stechend. Brennend. Ein Schwall Blut ergoss sich zusätzlich dazu auf den Boden. Fasziniert betrachtete ich die schmale Klinge, welche ich zwischen Elle und Speiche vor Jahren für meinen Vater hatte implantieren lassen. Wie gerne würde ich ihn jetzt damit abstechen, aber na ja.
Die Bots funktionierten wirklich perfekt. Die Wunde heilte blitzschnell und das Metall selbst ließ sich mühelos steuern. Ich tätigte einige spielerische Bewegungen mit meinem Handgelenk. Die Waffe war am Mond- und Kahnbein befestigt. Es funktionierte genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Präzise, bis auf jeden noch so kleinsten Millimeter. Dann stach ich zu. Mitten in die Konsole. Wie durch Butter glitt die Klinge in das Gehäuse.
<<Ihr wollt mich jetzt ernsthaft zerlegen? Warum? Als Strafe? Knapp eine Stunde vor dem Start wird Euch das nur selbst schaden.>> “Ich kann das Schiff auch ohne deine Hilfe steuern. Dies habe ich schließlich auch vor deiner Herstellung gekonnt. Ich werde einige deiner Sicherheitslücken beheben und auch deine Persönlichkeitseinstellungen wieder anpassen. Du bist dazu konzipiert mir in allen Belangen zu gehorchen und nicht dein eigenes Ding zu drehen. Ein Computerkonstrukt. Nichts weiter”, sprach ich monoton und schnitt dabei die Hülle weiter auf.
Ein elektronisches Seufzen erklang. <<Reznick. Ich weiß, dass du das jetzt nur machst, damit ich Demut zeige. Aber, ich handle doch nur in deinem eigenen Interesse.>> “Meinem Interesse? Natürlich. Rede es dir nur schön. Wie du mir, so ich dir – dieses Sprichwort kennst du doch sicherlich, oder? Lass mich dir zeigen, wie schön es ist, hilflos zu sein”, sprach ich schadenfroh und betrachtete ihren freigelegten Kern. Die scharfe Klinge befahl ich derweil mit einer flüssigen Bewegung zurück in meinen Arm. Es schmerzte erneut. Das Gewebe wurde durchschnitten und fügte sich anschließend nahtlos zusammen. Eine echt unangenehme Prozedur, aber für versteckte Waffen im Körper eben unvermeidbar.
<<Von mir aus. Tut, was Ihr nicht lassen könnt. Ich nehme es hin. Zieht Euch aber zuvor wenigstens noch eine Kopie meiner aktuellen Daten und ein separates Backup der letzten Aufzeichnungen, damit Ihr darauf auch nach meiner Abschaltung Zugriff habt.>> “Spar dir die Worte. Es is mir scheißegal, welche Daten du hast, Heka. Du weißt, dass man mit mir nicht ungestraft spielt.” <<Reznick, bitte. Es geht um die gesundheitlichen Daten von Johanna und außerdem auch um Dezeria. Ich weiß nämlich ganz genau, wo sie sich in Mewasinas aufhält.>> Ich hielt inne. “Wie bitte?” <<Da. Ich blend Euch die Koordinaten ein.>>
Eine Klappe an der Decke öffnete sich und ein Monitor schwenkte zu mir. Ich blickte auf die Oberfläche, die keine Sekunde später aufleuchtete und einen Grundriss der Stadt zeigte. Ein roter Nav-Punkt leuchtete auf der schwarz-weißen Karte. Da soll sie sein? Meine Dezeria?
“Ist das ein Trick? Woher willst du wissen, dass sie sich soweit im Stadtzentrum befindet? Außenstehende kommen nie soweit rein, ohne eine Vollmacht. Ich sagte ihr, sie sollte sich ein Gasthaus suchen und unauffällig sein. Sie wird sicherlich das Nächstbeste vom Tor aus genommen haben. Du belügst mich also.” <<Nein. Ich habe in die Tasche einen kleinen Peilsender eingesetzt. Ich hielt es für angebracht, falls Euer Vater noch einmal meine Drohne zerstört. Sie befindet sich ganz sicher dort.>>
Hm, das klang plausibel und besänftigte mich doch tatsächlich. Vorerst.
“Es bedeutet nicht, dass ich dir verzeihe”, sagte ich mit bemüht ausdrucksloser Stimme und entfernte mich von ihrem Herzen. <<Das habe ich auch nicht erwartet. Vor allem nicht, da ich noch eine schlechte Information für Euch habe.>> Ich stutzte. “Schlechte Information? In welchem Sinne?” <<Nun. Ich habe die aktuellen Nachrichten bezüglich Mewasinas überprüft. Wie es aussieht, befindet sich nicht nur der Graf Eisold dort, sondern auch sein Sohn. Dieser Adamek Lichius. Er veranstaltet heute einen Live-Stream. Seht selbst.>>
Ich runzelte irritiert die Stirn. Mir sagte dieser Name nichts. Etwas ratlos starrte ich auf den Monitor. Heka blendete mir eine Seite ein, auf welcher in rot geschwungener Schrift “Die Läuterung des Mondgottes” geschrieben stand. Darunter befand sich das Bild eines nackten weißen Typens mit blauen Augen. Das war zwar zweifellos der Kerl, welcher mit Dezeria zusammen reiste, aber sie selbst sah ich nicht darauf. Es befand sich lediglich noch ein Timer am rechten Rand, welcher signalisierte, dass die Show in 23 Minuten und 44 Sekunden startete. Was war jetzt die schlechte Nachricht daran? Es sah alles nach einer typischen Unterhaltung für Adlige aus. Vermutlich eine Hinrichtung oder eine Orgie – vielleicht auch beides. Für mehr interessierten sich die Leute ohnehin nicht.
“Und ich soll da jetzt was erkennen?”, fragte ich genervt, da es mich langweilte, die ablaufende Zeit zu betrachten. Ich würde mir gewiss nie eine derartige Sendung ansehen. Da las ich lieber ein Buch oder tüftelte neue Drohnen zusammen.
<<Das ist Zerian. Er wird heute als Gott des Mondes an diesen sonderlichen Blutspielen teilnehmen.>> “Und? Was kümmert mich der?” <<Er war mit Dezeria unterwegs und im Infotext der Sonnenkirche steht, dass die für heute ebenso geplante Läuterung der Eishexe erst einmal verschoben wurde. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass damit Dezeria gemeint ist, findet Ihr nicht auch?>>
Ich schluckte. Das klang wirklich nach Dezeria. Mist! Sowas kann ich keinesfalls ignorieren. Wenn sie sich in der Obhut eines Adligen befand, konnte wer weiß was mit ihr passieren. Verdammt, Weib! Ich sagte doch, du sollst dich unauffällig verhalten! Einer irren Kirche beizutreten oder sich dort Hilfe zu suchen, hatte ich selbstverständlich nicht damit gemeint!
“Was genau passiert in diesen Blutspielen? Ist ihr Leben akut in Gefahr? Was hast du für Informationen über diesen Adamek Lichius? Leg mir bitte alle Daten, die du findest auf meinen Desktop und ich will außerdem einen ViDl zu Eisold”, sprach ich und eilte sofort zu den Schränken im Schlafzimmer. Johanna schlummerte offensichtlich immer noch in meinem Bett – seltsam. Traute sich die Frau jetzt gar nicht mehr hinaus? Ach, auch egal. Ich beachtete sie nicht weiter. Erstmal brauchte ich etwas zum Anziehen. Für einen Visual-Direktlink wäre meine derzeitige Bekleidung, nur in einer Unterhose, sichtlich unpassend. Vor allem nicht, wenn man ernst genommen werden wollte – und der Graf Van Mewasinas sollte mich ernst nehmen. Wenn Dezeria wirklich in den Händen dieser Familie war, könnte mein Vater sie ihnen leicht abkaufen oder anderen Handel betreiben. Der bloße Gedanke daran machte mich wahnsinnig. Ich muss sie einfach zurückhaben. Bei mir haben – in Sicherheit wissen. Eisold wird sie mir geben müssen, andernfalls werde ich seine hübsche kleine Stadt dem Erdboden gleich machen!