⊶Hekas Sicht⊷
“Nein. Vergiss mal das mit der Maschine fürs Erste und auch den Namen Heka. Ich bekomme in jedem Spiel sowieso einen neuen. Richtig heiße ich Rec’zenik, Meemai oder Meekamahi”, wiederholte ich es nun schon zum dritten Mal, ohne dass Zerian eine Erkenntnis erlangte. Er lehnte lediglich an dem großen Himmelbett und hatte einen dümmlichen Gesichtsausdruck aufgelegt. Wie eigenartig. Er schien sich wirklich nicht an mich zu erinnern.
“Du hast dich selbst immer darüber lustig gemacht, dass man mir gleich drei verschiedene Namen zudachte. Nanntest es sogar unfair, dass die Fa’rabelan selbst deinen Nebel zu meinen Fähigkeiten zählten. Dein Regen fiel tagelang deswegen und hat einen Haufen ihrer Hütten weggespült.” Wenn er sich schon nicht an meine Namen erinnerte, so musste das in ihm doch irgendeine Erinnerung wachrufen. “Da hatte dein Kampf mit Mylagie angefangen, der sich darüber aufregte. Es war der Beginn eures langwierigen Wettstreits.”
“Ich weiß nicht, wovon du sprichst.” Nichts. Ich sah es in seinen Augen. Kein Wechsel oder Verschleierung der Farben. Was ich sagte, berührte ihn nicht. Löste nichts in ihm aus. Konnte das sein? War er auch instabil? Das würde zumindest einiges erklären.
“Entschuldige, dass ich wieder dazwischenfrage, aber ... wer ist Mylagie und was bedeutet Farabelan?”, fragte Johanna und krabbelte etwas näher an die Kante des Bettes und an Zerian vorbei, damit sie mich besser sehen konnte. Sie versuchte wenigstens, mich zu verstehen. Hörte bereits, seit ich das Zimmer betreten hatte aufmerksam zu und hakte nach, wenn sie etwas nicht verstand. Von Zerian kam lediglich ‘du bist nicht Wind’ oder ‘ich kenne dich nicht’ – sehr frustrierend.
Seufzend drehte ich herum und ging zu einem breiten Schminktisch, der etwas weiter rechts von mir an der Wand stand. Ich kramte in den Schubläden und schnappte mir einen schwarzen Konturenstift. Eigentlich wollte ich unsere Entstehungsgeschichte vermeiden. Zu viele wirre Gefühle hingen daran und ohne richtige visuelle Darstellung würden die beiden es vermutlich schwer nachvollziehen können. Dennoch. Ich wollte es versuchen.
“Dass Zerian und ich von den Sternen stammen, hatte ich ja vorhin schon erwähnt.” Ich zeichnete fünf Punkte auf die weiße Tapete, die jeweils einen schmalen Strich nach hinten weghatten. “Dies hier soll fünf wandernde Sterne darstellen. Oft auch Sternschnuppen genannt.” Ich deutete auf meine Zeichnung.
“Warte! Ich kann’s nicht richtig sehen.” Johanna sprang vorm Bett und auch Zerian kam näher. “Warum ausgerechnet fünf? Gibt es noch mehr von euch?”
“Ja, gibt es. Sehr viele sogar, aber deswegen sind es nicht fünf. Unsere Sterne hatten sich vor Jahrtausenden mal als Gruppe zusammengefunden. Ohne bestimmten Grund. Sie wollten lediglich gemeinsam wandern.” Etwas daneben begann ich die Umrisse eines Sonnensystems mit fünf Kreisen zu skizzieren.
“Das hier ist der Planet, auf dem wir vorhin waren. Nepner.” Ein großes N schrieb ich in die besagte Kugel. “Nepner war der Stern aus der Gruppe, der als erstes sein Lebensende erreichte. Er entschied sich dafür, sich zu festigen und diese Welt zu formen. Da die anderen nicht ohne ihn weiter wollten, leisteten sie ihm Gesellschaft. Alle bildeten aus ihrem Sternendarsein einen Körper. Drei davon kennt ihr bereits, weil man sie von dem Planeten aus gut sehen kann. Asa wurde zur Sonne. Cor und Del zu den Monden. Nur Rynx dürfte euch nichts sagen. Seine Hülle besteht aus keinem festen Stoff und leuchtet auch nicht. Aber er ist da.” Das R setzte ich in den letzten freien Kreis und drehte anschließend den Kopf. “Habt ihr das bis hierhin verstanden?”
“Dann sind aus euch alle Planeten entstanden? Welcher davon ist Zerian? Sicherlich einer der Monde, oder? Aber. Wie kam er von dort runter?” Johanna lächelte und zeigte viel Begeisterung beim Anblick meines Schaubilds.
“Nein. Unmöglich. Ich war nie einer der Monde. Ich war schon immer hier gewesen. Also auf Nepner. Ich habe hinauf zum Himmel gesehen und nie andersherum. In der Nacht glaube ich, sie rufen zu hören. Sie ziehen mich an. Aber nie war ich sie. Davon wüsste ich doch sicherlich ... oder nicht?” Er runzelte skeptisch die Stirn und sah immer mehr danach aus, als hätte ich ihm etwas Saures zu essen gegeben. Entweder gefiel ihm seine gravierende Wissenslücke nicht, oder aber, dass Johanna so dicht neben mir stand. Das konnte ich schlecht beurteilen.
“Dass wir einer dieser Sterne waren, habe ich auch nie behauptet.” Ich deutete auf die Kugel mit dem N. “Also. Passt auf. Das ist jetzt wichtig. Nepner war, wie alle Sterne dieser Gruppe, sehr mächtig. Er gab nicht nur seine Sterngestalt für einen neuen Planeten her, sondern auch seine Seele, um Leben darauf zu ermöglichen. Die Fa’rabelan entstanden ... Stellt sie euch einfach als eine Art Menschen vor.”
“Heißt, diese Fa’rabelan lebten lange vor den Rea hier? Wie sahen sie aus? Genauso wie wir?”, fragte Johanna neugierig und funkelte mich mit ihren leicht rötlichen Augen an.
“Dazu komme ich gleich. Ihr müsst zuvor noch wissen, dass es nicht funktioniert hat.”
“Wie, nicht funktioniert? Sind sie gestorben, oder was meinst du genau?”
“Ja. Es gab immerhin nichts auf Nepner außer kaltes Gestein. Die Fa’rabelan siechten langsam dahin, weswegen die anderen der Gruppe sich letztlich ebenfalls dazu entschlossen, ihre Seelen zu geben.” Mein Blick ging kurz zu Zerian, bevor ich mit dem schwarzen Stift einen Strich von der Kugel mit dem C zu der mit dem N zog.
“Cor schickte dich, Zerian. Du hast der Welt das Wasser gebracht.” Danach wiederholte ich dasselbe bei den anderen Kreisen. “Asa schickte das Feuer Mylagie. Del wiederum das Eis Lerânde und Rynx schickte mich, den Wind. Wir vier sorgten nach einigem Hin und Her für ein ausgewogenes Klima auf dem Planeten.”
“Nein”, murrte Zerian, wodurch ich mich fragend zu ihm drehte. “Was du sagst, stimmt nicht.”
“Und was daran? Erinnerst du dich doch an etwas?” Nun war ich gespannt auf seine Sichtweise. Einen anderen Hergang gab es schließlich nicht. Genauso hatte es sich ereignet. Wir waren und sind die Kinder dieser Sterne.
“Es gab nur mich. Ich war Wasser und Eis zusammen. Immer. Jetzt aber sagst du, es sind zwei verschiedene Seelen gewesen. Ich kenne niemanden der Lerânde heißt.”
Ungläubig sah ich ihn an. “Das ist absurd. Du hast nie zwei Fähigkeiten besessen. Lerânde gehört das Eis. Sie und ich sind immer umhergestreift, während du dich mit Mylagie gemessen hast. Ich weiß zwar nicht, was in den Jahren nach meinem Verschwinden hier passiert ist, aber Lerânde hat sich offensichtlich für einen festen Körper entschieden und ist jetzt Dezeria.”
Zerian schüttelte den Kopf. “Du irrst. Ich war Wasser und Eis. Ich habe Dezeria irgendwie das Eis gegeben, als ich sie rettete. Seither bin ich nur noch Wasser.” Seine Stimme klang äußerst überzeugend. Er hielt das, was er sagte, für wahr, aber ich wusste es besser. Lerânde existierte. Ich hatte sie sehr gemocht. Sie war mit mir immer gemütlich um den Planeten gezogen, während Feuer und Wasser einen ihrer dummen Wettkämpfe austrugen. Dass er sie nicht einmal kannte, ließ nur einen logischen Schluss zu – instabil. Er war instabil, genauso, wie ich es bereits vermutet hatte. Und schlimmer noch. Lerânde war ebenfalls davon betroffen.
“Verstehe ...” Ja. Ich tat es wirklich. Ich konnte sein Verhalten nachvollziehen. Langsam formte sich ein Bild, welches mein Innerstes in Aufruhr versetzte. Genauso wie der Rest dieser Geschichte, die ich noch erzählen wollte. Ich hatte mich zwar eine ganze Weile, bevor ich zu ihnen in das Zimmer gekommen war, im Flur ausgeruht, aber diese Unterhaltung zerrte doch ungewöhnlich stark an meiner Kraft.
“Zerian, bitte nimm es für einen Moment mal als gegeben hin. Wir waren zu viert. Feuer, Wasser, Wind und Eis. Ich will euch noch erzählen, was danach passierte. Auch mit den Rea.” Meine Augen schweiften zu Johanna. “Das ist auch für dich relevant. Warum du so bist, wie du bist.”
“Ich habe das Feuer von Mylagie, nicht wahr?”
“Ja.” Ich nickte einmal. Das Leuchten in ihren Augen verstärkte sich.
“Dann will ich unbedingt wissen, was noch passierte.”
“Aber es ist nicht richtig, was die Maschine erzählt”, warf Zerian verärgert ein, worauf sich Johanna liebevoll an ihn schmiegte.
“Du hast doch selbst gesagt, du erinnerst dich an nichts. Ich bin nicht dumm, Zerian. Ich glaube nicht alles blindlings, aber wir können uns ihre Geschichte doch wenigstens anhören, oder nicht? Für dich wäre es auch wichtig, mal eine grobe Richtung zu wissen, woraus man entstanden ist. Von Göttern und Sternen zu hören ... Ich finde das alles unglaublich aufregend. Du nicht auch?” Er nickte zögerlich. Gab seinen Widerstand auf und schenkte ihr kurz darauf ein Lächeln. Es war faszinierend zu sehen, wie sehr die beiden harmonierten. Früher hatte es immer Reibereien zwischen Feuer und Wasser gegeben.
“Danke.” Ich warf einen letzten Blick auf meine Zeichnung. Definitiv kein Vergleich zu den Künsten von Elian, aber ich hatte es schon gut getroffen. “Das, was ich euch gesagt und hier skizziert habe, ist die Grundlage. Wir vier machten das Wetter und aus den verstorbenen Fa’rabelan bildete sich ein üppiges Pflanzenreich. Wobei natürlich auch einige von ihnen diese anfängliche Entstehung überlebten und sich mit der Zeit stetig weiterentwickelten. Ihre Körper passten sich an. Sie bauten einfache Behausungen. Gaben uns unsere Namen. Beteten sogar zu uns oder verehrten unsere Fähigkeiten als wären es eigenständige Götter.” Ein flüchtiges Lächeln huschte über meine Mundwinkel. Das waren die letzten schönen Erinnerungen, die ich besaß.
“Irgendwann. Ich weiß gar nicht mehr wie viele Jahrtausende es dauerte, aber Mylagie gelangte an einen Punkt, wo er sein Dasein als Elementar beenden wollte. Sich Veränderung für sein Leben wünschte. Er gab schließlich sein ungebundenes Wesen auf, um fortan unter den Menschen zu leben. Er formte aus seinem feurigen Selbst einen festen Körper.”
“Konnte er das denn so einfach? Also einen Körper machen? Aus Feuer? Und war es nicht schlimm, dass er das gemacht hatte? Immerhin hast du gesagt, er war mit für das Wetter zuständig”, fragte Johanna neugierig, während Zerian wohl immer noch versuchte, die Lügen in meinen Worten zu finden. Aber da konnte er lange suchen. Es gab keine.
“Wie leicht es ist, kann ich nicht sagen. Ich besitze schließlich keinen echten Körper. Dennoch weiß ich, dass ein jeder Elementar sich dazu entscheiden kann. Entweder man bindet sich an das Leben – die Rea nennen es auch beseelen, oder man vergeht in seinem Element. Es ist so wie bei den Wanderseelen. An einem Punkt haben sie die Wahl. Sie können einen Planeten bilden, so wie bei meinem gezeichneten Beispiel, oder sie explodieren in eine Vielzahl neuer kleiner Sterne. Es ist eine Entscheidung. So wie du sie auch getroffen hast, Zerian, nicht wahr?”
“Nein. Ich habe keine Entscheidung getroffen, wie du es nennst. Mein Körper wurde von ganz alleine menschlich. Ich habe nie–” Er hielt inne und runzelte die Stirn. Seinen darauf folgenden Ausdruck konnte ich nur schwer deuten. Eine Mischung aus Sorge und Unsicherheit vielleicht. Auch in seinen Augen rührte sich etwas. Das Blau wurde dunkler, als würden dicke Regenwolken den Himmel einnehmen. Zudem vernahm ich deutlich, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Aber warum?
“Du hast nie – was?” Johanna berührte sanft seine Wange. Da er nicht reagierte, umfasste sie sein Gesicht ganz und drehte es zu sich, sodass er sie ansehen musste. “Was ist los? Du bist aufgewühlt. Erinnerst du dich jetzt?”
“Ich ... hielt mich immer für einen Fehler. Wie auch das mit dem Eis, welches ich Dezeria unbewusst gegeben hatte. Dabei wollte ich sie nur retten. Ich mischte mich unerlaubt ein, als sie am Ertrinken war. Seit diesem Moment konnte ich Dinge fühlen. Es schmerzte. Es tat mir weh, wenn sie sich verletzte. Ich war schon immer defekt gewesen. Allein und voller Fehler. Vielleicht habe ich mich doch für das Menschsein entschieden. Ich wollte es versuchen, weil ich nie richtig Wasser und Eis sein konnte. Ich dachte, es gibt mir einen neuen Sinn. Eine Aufgabe, verstehst du? Ich wollte kein Fehler mehr sein. Nicht allein sein.” Was? Er gab Dezeria das Eis, als sie am Ertrinken war? Verstehe. Das war das letzte Puzzleteil, um das Bild zu vervollständigen.
“Du bist kein Fehler.” Sie küsste ihn. “Und alleine auch nicht.” Ein zweiter folgte. Diese Worte schienen Zerian viel zu bedeuten. Er erwiderte ihre zärtlichen Berührungen und wirkte nicht länger so entsetzlich niedergeschlagen. “Du gehörst zu mir, wie ich zu dir gehöre.” Das war er. Der Moment, der die Spannung in meinem Innern in die Höhe schnellen ließ. Leopold hatte bei mir genau denselben Wortlaut benutzt. Mich als seins bezeichnet. Aber was bedeutete es schon, wenn er zum Teil aus meiner Essenz bestand und sich deswegen automatisch nach meiner Nähe sehnte?
Mit einem eigenartigen Gefühl von Leere wandte ich mich von den beiden ab. Ich legte den Konturenstift auf den Schminktisch und setzte mich auf den schmalen Hocker davor. Bemühte mich um Ruhe. Der aufwühlende Abschnitt meiner Geschichte würde noch kommen und ich war schon jetzt am Rande jeder Grenze. Die Elektronik der Puppe würde keinen weiteren Stromstoß aushalten. Wieso musste es diesmal auch alles so kompliziert sein?
Resigniert betrachtete ich mein Spiegelbild. Die menschliche Erscheinung auf der glatten Oberfläche war mir fremd. Ein feingeschliffenes Gesicht. Lange blonde Haare, die vom Feuer an vielen Stellen deutlich ruiniert waren. Große hellblaue Augen. Volle dunkelrote Lippen. Alles perfekt optimiert, um wunderschön auszusehen. Doch. Ich erkannte mich nicht. So viele künstliche Hüllen hatte ich bereits bekommen, aber nie auch nur eine als mich selbst erachtet. Würde ich mich überhaupt jemals selbst erkennen? Konnte ich das?
Vielleicht eine Frage der Zeit. Aber davon hatte ich nicht mehr viel. Bald schon würde ich meinen Geist nicht länger zusammenhalten können und gänzlich in Wind vergehen. Vielleicht auch einen Sturm entfachen. Mehr jedoch nicht. Von mir würde letztlich nichts übrig bleiben. Das hatte Zerian mir definitiv voraus. Er war instabil. Kein Zweifel. Trotzdem hatte er es irgendwie geschafft, einen echten Körper zu formen. Wahrscheinlich wird ihm Leopold deswegen Dutzende Fragen stellen und haufenweise Tests machen wollen. Aber ob das auch mir schlussendlich helfen wird, blieb fraglich.
“Heka? Hörst du mich?” Jemand berührte mich zaghaft an der Schulter. Erst jetzt registrierte ich Johannas Erscheinung hinter mir im Spiegel.
“Entschuldige. Ich war in Gedanken.” Ich drehte herum, blieb aber sitzen. Auf diese Weise konnte ich einige Kapazitäten einsparen und den beschädigten Prozessor der Puppe entlasten.
“Wo war ich noch gleich?” Mein Blick ging zu Zerian. “Ah, genau. Entscheidungen und das mit dem Körpermachen. Wir bestehen in unserem Ursprung aus Essenz. Wenn wir es wollen, können wir daraus einmalig etwas Neues formen. Jeder Elementar kann das. Dafür ist lediglich eine Vorlage nötig. Ich weiß nicht, wie du an deine gekommen bist, Zerian, aber ich vermute, dass der Mann in deinem Wasser verstarb oder sich dir opferte.” Ich machte eine kurze Pause, da ich deutliche Erkenntnis in seinem Gesicht las. Er schien sich an etwas zu erinnern. Allerdings an nichts Positives.
“Er ist ertrunken, nicht wahr?” Johanna griff nach seinen Händen und sah ihn liebevoll an. Sie schenkte ihm Trost. Unweigerlich musste ich dabei erneut an Leopold und mich denken. An das zwischen uns. Wie er ebenso bemüht
um meine Zuneigung kämpfte, mich versuchte zu beruhigen oder zu trösten, wenn es mir schlecht ging. Zerian und ich waren dahingehend gleich. Diese intensiven Gefühle überforderten ihn. Wenn auch nur kurz, aber ich sah es deutlich. Er mochte zwar einen echten Körper besitzen, dennoch war dieser erst wenige Tage alt. Ich konnte seine Verwirrtheit sehr gut nachempfinden und doch keine Rücksicht darauf nehmen. Ich wollte die Geschichte endlich hinter mich bringen.
“Jedenfalls ... Mylagie hatte es dagegen sehr einfach. Mit den Jahren konnte er unzählige Hüllen sammeln, da die Fa’rabelan ihre verstorbenen stets dem Feuer übergaben – diese in seinen Flammen verbannten. Als er sich umformte, fiel seine Wahl letztlich auf einen großen Mann mittleren Alters. Ob er sich jedoch bewusst für diese Hülle entschied oder es zufällig passierte, weiß ich nicht. Er sah jedenfalls sehr lustig aus. So als schwarzer Mensch mit rotglühenden Augen und ebenso feurigen Haaren. Für uns alle war das damals außergewöhnlich.” Ich verschwieg bewusst den Punkt, dass jeder von uns danach auf die eine oder andere Weise an ihm austestete, wie viel Macht er noch hatte und ob sich ein Körper lohnen würde. Gut. Nicht alles war reines Kräftemessen. Mir und Zerian hatte es hier und da unglaublich viel Spaß gemacht, ihn mit unseren Fähigkeiten zu ärgern.
“Er lebte einige Jahre als Mensch. Bis zu dem Punkt ... wo wir Besuch von den Rea bekamen.” Ja. Dieser Moment, der alles veränderte. Ich ballte die Fäuste. Das Licht im Zimmer flackerte. Ich wusste selbst, dass es dumm war, sich nach all der Zeit immer noch darüber aufzuregen. Aber. Ich konnte nicht anders. Der Schmerz saß in mir und würde wohl auch nie verschwinden.
“Sie kamen mit großen fliegenden Schiffen aus Metall. Sowas war uns bis dahin fremd gewesen. Zuerst dachten wir uns auch nichts Schlimmes dabei. Hielten es für ausgefallene Körper andere Wandersterne, wobei ich mich sehr für diese Hüllen interessierte. Schließlich war es ihnen möglich, den Planeten zu verlassen. Zu kommen und zu gehen, wann sie wollten. Das konnte ich als Wind nicht.” Damals hätte ich beinahe eine dieser Maschinen als Vorlage genommen. Hätte fast ein lebloses Ding beseelt und damit unweigerlich meine Existenz verloren. Das war mir noch jetzt unglaublich peinlich.
“Sie umflogen langsam den Planeten und als sie schließlich landeten, staunten wir nicht schlecht. In dem Schiff waren Menschen – die Rea. Sie sahen anders aus als die Fa’rabelan. Ihre Haut war viel, viel heller. Sie hatten keine grün leuchtenden Augen und auch sonst waren sie sich untereinander alle irgendwie ähnlich. Gleiche Kleidung und Farben. Für uns ungewöhnlich eben ...” Ich bemühte mich um innerliche Ruhe. Kein Sturm. Nicht einmal ein laues Lüftchen sollte sich bei meinen folgenden Worten rühren.
“Zuerst blieb es friedlich. Die Rea zeigten großes Interesse an allem – wollten handeln. Jedoch. Nach und nach verschwanden immer mehr der Fa’rabelan. Sie bestiegen die gigantischen Schiffe, kamen aber nicht zurück. Und während Mylagie sich noch mit einigen Rea deswegen unterhielt, wurden plötzlich fernab seiner Sicht die Dörfer großflächig zerstört. Die Rea nahmen alle mit sich.”
“Und ihr habt das nicht verhindert? Warum? Ihr hattet doch sicherlich die Macht dazu!” Johannas feuriger Blick huschte zwischen Zerian und mir hin und her. “Ihr könnt doch nicht einfach nur zugesehen haben!”
“Du vergisst, dass wir damals ein anderes Gefühl für die Dinge hatten. Es gab für uns kein richtig und falsch. Auch Zeit an sich hatte für uns keine Bedeutung. Mir war egal, was passierte. Erst als Mylagie sich mit seinen Fähigkeiten einmischte, wurde ich aufmerksamer. Du musst wissen, dass er und ich einander verstärken konnten. Wenn er Feuer benutzte, war unweigerlich auch mein Wind mit dabei. Wir harmonierten zusammen.” Ich senkte den Blick. Betrachtete die Hände meiner Puppe, die noch immer zu Fäusten geballt waren.
“Mylagie bestieg eins der Schiffe, um die Fa’rabelan zu retten. Ich folgte ihm natürlich, da er sein Feuer benutzte. Ich konnte gar nicht anders. Viel erreichten wir jedoch nicht.” Eigentlich gar nichts. “Ich bekam noch mit, wie man ihn in eine Kammer sperrte und ich ... Ich landete in einem schwarzen Kristall. Eine Falle für ungebundene Seelen, wie ich jetzt weiß. Es ist unmöglich, dort von alleine wieder herauszukommen. Völlig egal, wie viel Kraft man aufwendet.” Und ich hatte sehr viel aufgebracht. Hatte gekämpft und geschrien. Vergeblich.
Kleine Blitze sprangen über meine Haut. Diese Erinnerungen waren schmerzhaft. Ich hasste es. “Man brachte mich direkt zu einer Fabrik der Rea. Langsam aber stetig wurde mir dort die Essenz entzogen – meine Kraft genommen.” Ich blickte auf. Fixierte Zerians meerblaue Augen.
“Ich gebe zu, ich habe dich gehasst, dass du damals nicht geholfen hast. Dich und Lerânde. Aber. Mittlerweile kann ich mir denken, was passierte. Du magst dich zwar nicht erinnern, aber aufgrund von dem was du sagtest und auch, was ich durch die Spiele von dir und Dezeria mitbekommen habe ... Lerânde kam zu dir, nicht wahr? Mein Fortbleiben und auch das von Mylagie. Es hat sie besorgt, aber sie war schon immer unsicher und zurückhaltend. Alleine hatte sie sicherlich nicht den Mut, etwas zu unternehmen. Das wird ihr Fehler gewesen sein. Ihr habt einander aufgehoben. Eure Fähigkeiten lösen einander ... Dein Wasser hat ihr Eis aufgenommen.” Ich senkte wieder den Blick. Mir reichte es, in ihm zu sehen, dass er darüber nachdachte. Meine Worte nicht gleich für eine Lüge hielt.
“Ich wusste früher nicht, dass sowas unter uns möglich ist. Aber es geht. Manche Essenzen haben eine ungewollte Anziehung. Viel weiß ich aber nicht darüber. Neu war mir zum Beispiel, dass der Stärkere seine ganzen Erinnerungen – seine Persönlichkeit verliert. Lerânde war in dir gefangen und durch dein Retten von Dezeria ... Sie war wirklich tot, oder? Lerânde hat ihren Körper wahrscheinlich in diesem Moment beseelt, um von dir loszukommen. Sie muss noch ziemlich erschöpft sein, wenn sie sich selbst danach bei einem Menschen nicht durchsetzen konnte. Genau werden wir es aber erst erfahren, wenn wir mit ihr sprechen. Reznicks Vater hat eine Möglichkeit, Seelen einzufangen und in Puppen zu stecken.” Ich machte eine ausladende Geste und deutete dabei auf mich selbst. “Ich bin das beste Beispiel dafür.”
“Das ist unglaublich ...” Johanna atmete einmal tief durch. “Du wurdest von den Rea gefangen und Reznicks Vater rettete dich dann?”
“Kurzgesagt, ja.” Das war wirklich eine wahnsinnig kurze Zusammenfassung für das, was mit mir passierte. Aber. Das würde nun womöglich den Rahmen sprengen. Schon jetzt hatte ich die beiden mit sehr vielen Informationen überschüttet, die sie erst einmal verarbeiten mussten.
“Und was ist mit Mylagie passiert? Und auch das mit Zerian und dem Beseelen. Das verstehe ich noch nicht so ganz.”
“Mylagie ...” Ich sah Johanna mitten ins Gesicht. “Er landete bei den Aschengards. Ich weiß, dass er dort noch einige Jahre lebte, bevor er an den Experimenten verstarb. Man wollte einen Elementar mithilfe von Rea-Technik künstlich herstellen. Ihn vermehren. Die Rea nannten es die auserwählten Kinder und du ... Du bist ein Kind davon. Soweit ich weiß, bist du auch die Einzige, die diese ganzen Versuche überlebt hat.” Ihre Augen glühten unheilvoll. Sie trug wirklich sehr viel von Mylagie in sich.
“Dann bin ich zur Hälfte ein Stern ... ein Elementar und zur anderen ein Rea? Deine Geschichte macht mich irgendwie wütend.” Sie hob eine Hand und ließ ihr Feuer frei. Spielerisch schlängelte es um ihre Finger. “Was wurde aus den Fa’rabelan? Sind sie auch gestorben?”
“Nein. Nicht alle. Diejenigen, die nicht wegen ihrer starken Essenz verschlungen – keine Nahrung wurden, machte man zu Sklaven. Die Rea schmückten sich mit den exotisch aussehenden Fa’rabelan. Ihre auffällige dunkle Hautfarbe und die wilden schwarz-grünen Haarfarben sind sehr beliebt. In den hochrangigen Schiffen gibt es bis heute große Schaukästen aus Glas, wo man sie betrachten kann. Ich habe bislang erst eine retten können. Suciu heißt sie und lebt bei Reznicks Vater. Zusammen mit Elian, der das Licht befehligen kann. Ich werde euch einander natürlich vorstellen, wenn wir da sind.”
“Dann ist Reznicks Vater wirklich ein guter Rea? Gibt es sowas denn? Reznick will ihn jedenfalls tot sehen. Wie passt das zusammen? Irgendetwas muss ja vorgefallen sein. Ich für meinen Teil kann mir nicht vorstellen, dass ausgerechnet Re’Nya’Ca Fyl. Leopold Weckmelan, der König der Rea, kein herzloser Teufel sein soll. Bisher waren alle Rea und Adlige, die ich getroffen hatte, im gleichen Maße grausam.”
“Ich will auch etwas wissen!”, brach Zerian plötzlich sein Schweigen und machte ein Schritt vor. “Wenn das alles wahr ist, kann mir das denn noch einmal passieren?”
“Was genau?”, fragte ich vorsichtshalber, obwohl ich es mir bereits denken konnte.
“Meine Erinnerungen! Kann ich sie noch einmal verlieren? Oder werden die verlorenen irgendwann zurückkommen?” In seinen Augen rangen verschiedene Blautöne miteinander. Das war ihm unglaublich wichtig. Verständlich, wo er doch seine ganze Persönlichkeit verloren hatte. Mir würde es sicherlich ähnlich gehen. Deswegen bedauerte ich auch meine nachfolgenden Worte.