Karsten drehte sich vor dem Spiegel im Schlafzimmer hin und her. Irgendetwas an dem neuen Kostüm wollte ihm nicht recht gefallen. Es hatte alles, was es sonst brauchte: Der hellblau-karierte Kleidchenstoff fiel luftig und leicht über einen weißen Tüllrock nach unten. Die weiße Bluse hatte nette kleine Puffärmel. Das Körbchen im Arm mit dem niedlichen Plüsch-Hündchen wirkte adrett und die Perücke mit den dunklen Zöpfen war nicht übermäßig mit Flitter bestäubt. Trotzdem klimperte Karsten unzufrieden mit den langen, angeklebten Wimpern. Da fehlte noch der Glamour, oder etwa nicht?
„Moritz!“, rief er also laut in Richtung von dessen Arbeitsplatz am Wohnzimmerfenster.
„Was ist denn?“, kam es neugierig zurück.
„Du musst mal schauen. Ich sehe irgendwie … unspektakulär aus.“
Unspektakulär. Das Wort, als er es selbst aussprach, klang schon genauso langweilig, wie Karsten das Kostüm noch fand. Unspektakulär konnte für jeden Künstler das Aus bedeuten. Nicht auszudenken, wenn er, nein! - wenn Charlene in einem unspekatulären Outfit vor die Leute ginge. Das durfte nicht passieren. Immerhin war das Publikum nach der langen Corona-Pause ausgehungert. Sie mussten sich doch nach Charlene verzehren und da konnte sie ihre Fans doch nicht enttäuschen!
„Was gibt’s denn, mein Moppel?“
Moritz stand in der Tür und lächelte. Nun, immerhin.
„Schau doch nur!“, begann Karsten und legte nun ein paar Drehungen vor dem Spiegel hin. Im Nu war er zu Charlene geworden, machte einen Klein-Mädchen-Knicks, breitete sein Röckchen aus und klimperte mit den Augen. Nur um als Nächstes bedröppelt eine Schnute zu ziehen und völlig unladylike aufzustampfen.
„Ich bin die langweiligste Dorothy von der Welt!“
„Ach, Unsinn! Du siehst süß aus …“
„Süß?!“ Charlenes Stimme schnellte entsetzt um ein paar Register nach oben.
Nicht allzu sehr überrascht, realisierte Moritz seinen Faux Pas. Natürlich könnte jemand, der sich vorgenommen hatte, die göttliche Judy zu verkörpern, nicht einfach nur süß aussehen.
„Du siehst himmlisch aus! Wirklich. So, als hätte es alles Leid von Judy nie gegeben. Keine Schlankheitspillen, kein Druck der bösen Studiobosse, nichts dergleichen.“
„Du meinst, ich sehe fett aus …“, schnüffelte Charlene in einen ihrer langen dunklen Zöpfe, die sie sich etwas kokett vor das Gesicht hielt.
Moritz rollte etwas hilflos mit den Augen. So hatte er das ganz sicher nicht gemeint. Er fand sogar, dass Karsten als Judy-Charlene ganz besonders zum Anbeißen aussah, verkniff sich aber diese Aussage und suchte nach besseren Worten, die nicht wieder etwas mit Essen suggerierten.
„Du kannst sie in dem Look einfach ausnahmslos alle um den Finger wickeln, Charly. Die Vogelscheuche, den Löwen, den Zinnmann und garantiert auch den Zauberer von Oz!“
„Auch den Zauberer?“
„Ja klar, auch den. Und mich sowieso.“
Seine Worte zeigten erste Wirkung, denn sein Süßer im Dorothy-Kostüm drehte sich nun wieder mädchenhaft vor dem Spiegel. Und da fiel Moritz auf, dass tatsächlich etwas fehlte.
„Sag mal, „begann er absichtlich etwas zögerlich, „wo sind denn diese traumhaften, knallroten, glitzernden Ultra-High-Heels? Du stehst hier noch in Kniestrümpfen …“
Charlene hielt so abrupt in ihrer Drehung an, dass sie fast taumelte.
„Ups!“
„Ja, ups, mein Dicker. Die gehören natürlich dazu. Wo sind die?“
Mit einem Auflachen der Erleichterung fiel es Charlene ein. Er musste den Schuhkarton aus Versehen hinter die Schminkkommode gestupst haben, als er sich in die Korsage gezwängt hatte.
„Da sind sie, hinten, unter dem Spiegeltisch!“
Das genügte. Sofort bückte sich Moritz nach den Pumps und holte sie hervor, um sie seinem Dicken anzuziehen.
„Na komm, gib Füßchen!“
Charlene gehorchte nur zu gern und ließ sich hineinhelfen. Schwups- erst rechts, dann links. Sofort war die kleine Dorothy um mindestens fünfzehn Zentimeter gewachsen. Jetzt drehte sie sich mit viel spektakulärerer Eleganz herum und begann zu singen.
„Oh, danke, mein Prinz! Somewhere over the rainbow, way up high …”
Moritz strahlte. Es war oft so einfach, seinen Süßen glücklich zu machen.
Moritz und Karsten findet ihr auch in den Kapiteln:
Spieglein, Spieglein an der Wand
Der/ Die Schöne und das Biest
Jeckyll und Hyde
https://belletristica.com/de/books/16849-sixty-minutes/chapter/75357-jeckyll-hyde-moritz-und-karsten
Schau nie zurück
Traumtänzer
https://belletristica.com/de/books/16849-sixty-minutes/chapter/85157-traumtanzer-moritz-und-karten
Ostereier
https://belletristica.com/de/books/16849-sixty-minutes/chapter/97707-ostereier-moritz-und-karsten
Alte Traditionen
Babyparty
https://belletristica.com/de/books/16849-sixty-minutes/chapter/114807-babyparty-moritz-und-karsten
Blickfang
https://belletristica.com/de/books/16849-sixty-minutes/chapter/115661-blickfang-moritz-und-karsten
Erster Kuss
https://belletristica.com/de/books/16849-sixty-minutes/chapter/120356-erster-kuss-moritz-und-karsten
Vogelscheuche