Beitrag zum 01.03.2020
Thema: »Am Ende des Winters«
WARNUNG: Verstörende Inhalte, wie die Andeutung von Suizid, sexuellem Missbrauch und Depression! Solltet ihr mit diesen Themen Erfahrungen gemacht haben, so bitte ich euch inständig, beim Lesen vorsichtig zu sein oder es lieber ganz bleiben zu lassen!
ANTHONY
Der Schnee fällt. Weiße Sterne legen sich zart an das Glas der Fensterscheibe. Sie können das Dunkel nicht aussperren.
Heute ist wieder eine dieser Nächte, in denen mich die Erinnerungen überfallen und nicht loslassen. Schreckliche Bilder. Emotionen – Wut, Angst, Hilflosigkeit, Scham – ringen in meiner Brust. Ich wünsche mir, dass über ihnen der Schnee fällt und sie bedeckt. Dann wären sie zwar noch da, aber begraben, vielleicht so fest, dass sie wie Lawinenverschüttete nicht mehr nach Luft schnappen können, sondern elendig ersticken.
Draußen im Flur geht das Licht an. Wahrscheinlich ist meine Mutter gerade von der Dinner-Party zurückgekommen. Verächtlich schnaubend lehne ich den Kopf an das kühle Glas.
Ihre Freundinnen sind ihr wichtig, aber ich – ihr eigener Sohn! – bin wie Luft. Sie hat mir noch nicht einmal die Sache geglaubt. Der Vorfall in der Schultoilette. Als harmlose Prügelei hat sie es abgetan. Und sie hat gesagt, ich solle mich nicht so anstellen und mal an David denken, der hätte es viel schwerer, schließlich würde er wegen seiner Homosexualität von den eigenen Klassenkameraden gemobbt werden. Wegen Mobbing wandert man aber nicht in den Knast. Wegen Vergewaltigung durchaus. Das ist eine Straftat. Nun, mein Peiniger hat sich genug selbst bestraft. Selbstjustiz durch Suizid. In den USA wäre das gleichzusetzen mit der Todesstrafe, die dieses Arschloch mehr als verdient hätte.
Ich seufze tief, schließe die Augen und balle die Fäuste. Die Erinnerungen… Das Feuer bringt den Schnee zum Schmelzen. Nein!
Ein Schluchzer bahnt sich seinen Weg von der Brust zu meiner Kehle und entweicht den Lippen. Rasch presse ich die Zähne aufeinander. Dann denke ich, dass eigentlich kein Grund besteht, leise zu sein. Niemand interessiert sich hier für mich. Mein Dad lässt sich mit fadenscheinigen Ausreden meinerseits leicht abspeisen, meine Mum behandelt mich wie Luft.
Aber ich bin kein Aidelos. Kein namensloser Schatten. Ich bin Benu, der Phönix aus der Asche.
Plötzlich habe ich die Stimme meiner Gran im Ohr: »Am Ende des Winters leuchtet der Regenbogen.«
Als Student des Creative Writing und, weil ich sehr viel Zeit mit meiner Oma verbringe, weiß ich, was das bedeutet: Jede Dunkelheit hat ihre eigenen Farben, die immer stärker zu leuchten beginnen, bis das Schwarz zurückweicht. Ein farbenfroher Phönix, geboren aus der Asche der Trümmer seines Lebens.
Die Tränen versiegen. Meine Augen blicken aus dem Fenster. Noch immer schneit es ununterbrochen. Eine friedliche Stille erfasst mich. Die Emotionen können vorerst nicht unter der Schneedecke hervor. Und wenn sie hervorbrechen, dann werde ich bereit sein.
Ich bin Benu, der am Ende des Winters wieder leuchtend in den Himmel steigt.