Beitrag zum 19.06.2022
Thema: »Backpfeife«
»Philipp, ich Klo.«
Micahs Stimme dringt in den Nebel, in dem sich mein Geist befindet. Ich öffne die Augen und fahre mit der Zunge über die trockenen Lippen. Leise stöhnend richte ich mich auf. Micah grinst mich erfreut an, verzieht jedoch gleich darauf das Gesicht.
»Du stinkst!«
Danke, lieber Reisegefährte! Ich grunze als Antwort, fahre mit der Hand durch meine Haare und blicke Micah an.
»Ich Klo!«, sagt der Junge.
Wo sind wir überhaupt? Ein kurzer Blick nach draußen. Wir stehen mit dem Bus an einem kleinen Rastplatz. Zwei Bäume, eine Bank und ein Mülleimer.
»Geh hinterm Baum, wenn du pinkeln musst«, sage ich und gähne.
Micah schüttelt den Kopf.
»Nicht Pipi. Kacka.« Großartig. Ich gähne nochmal, strecke mich kurz und klettere nach vorne zum Beifahrersitz.
»Bis zur nächsten Tankstelle musst du noch aushalten. Schaffst du das?«, frage ich. Micah nickt, und weiter geht’s.
Die Tankstelle ist zum Glück nicht weit weg. Micah parkt den Bus zwischen zwei Lkw, ich steige mit dem Jungen aus und schließe ab. Vor der Raststätte am Eingang sitzt ein Hund, angebunden an einem Pfosten. Als Micah ihn sieht, bleibt er stocksteif stehen.
»Der tut dir doch nichts! Der ist angeleint, schau!«, versuche ich, ihn zum Weitergehen zu bewegen. Der Hund guckt uns an und wedelt mit dem Schwanz. Ich ignoriere ihn und gucke Micah an, der den Tränen nahe ist, und seufze.
»Micah, komm. Nimm meine Hand. Komm.« Er greift meine Hand und ich ziehe ihn in das Gebäude.
»Philipp passt auf. Philipp ist da«, sagt Micah leise, und in mir erwacht etwas. Ein Gefühl der Verantwortung. Ja, ich passe auf Micah auf. Muss es. Sanft drücke ich seine Hand.
»Kommst du klar?«, frage ich, als wir vor den Toiletten stehen.
Micah nickt und grinst. Flugs verschwindet er in der Kabine, während ich an den Pissoir trete. Nachdem ich fertig bin, kaufe ich Wasser und belegte Semmeln für Micah und mich.
Kaum trete ich nach draußen, fliegen Wortfetzen zu mir, und aufgeregtes Gebell ertönt.
Oh nein! Nein!
Der Hund ist immer noch da, aber jetzt ist auch der Besitzer aufgetaucht. Und der scheint nicht allzu viel Geduld zu haben.
»Was hast du bei meinem Hund verloren, Kleiner?«, brüllt er, und als Micah nicht antwortet, packt er ihn am Kragen und schubst ihn. »Wenn du es nicht weißt, dann scher dich weg! Hau ab!« Er verpasst dem Jungen einen so festen Stoß, dass dieser hinfällt, und das ist der Moment, in dem mir die Sicherungen durchbrennen.
»Fass ihn nicht an!« Ich laufe auf den Typen zu. Er ist so groß wie ich und wirkt ziemlich bullig. Scheiß drauf. Zack – schon landet meine Hand auf seiner Wange, während die andere sich bereit zur Faust ballt.
Der Kerl ist von der Backpfeife, die ich ihm verpasst habe, so überrascht, dass er einen Schritt zurücktritt.
»Hey, hey!«, versucht er, mich zu beruhigen. »Ich wollte dem Kleinen nicht wehtun. Das war ein Missverständnis.«
Ein Missverständnis? »Ja, klar!«, schnaube ich. »Ich hab alles gesehen! Macht das Spaß, sich an Schwächeren zu vergreifen?«
»Pass auf, was du sagst!« Der Typ ballt ebenfalls die Faust.
»Und du überleg lieber, was du tust!« Warnend gucke ich ihn an. Mittlerweile sehen einige Autofahrer zu uns, einige davon haben das Handy gezückt.
Tatsächlich öffnet sich die Faust. Ich drehe mich zu Micah um, dem Tränen über die Wangen laufen, der aber ansonsten still ist.
»Philipp …«, stammelt er, und ich ziehe ihn hoch und lege ihm schützend den Arm um die Schultern.
»Alles gut. Es ist alles gut. Komm, wir fahren.«
Micah klammert sich an mich, während wir zum Bus gehen. Dort mustere ich ihn eingehend.
»Bist du verletzt?«, frage ich, und er schüttelt den Kopf.
»Kein Aua. Philipp, der Hau-Mann? Der Mann … der Hund … Philipp, der Hund!«
Ich lege einen Finger an die Lippen. »Micah, dem Mann geht’s gut. Und dem Hund auch. Mach dir keine Sorgen. Der Mann mag es vielleicht nicht, wenn jemand bei dem Hund ist. Verstehst du?«
Er schluchzt auf und presst den Kopf an meine Jacke. Im ersten Moment stehe ich stocksteif da, doch dann lege ich meine Arme um ihn und streiche über seinen Rücken, bis er sich beruhigt.
»Na los.« Ich löse mich von ihm und öffne die Beifahrertür. »Fahren wir. Und sagen der Welt … Was sagen wir der Welt?«
»Hallohallo!«, ruft Micah, der auf die Fahrerseite klettert. Sein Lächeln ist so schön, dass es wie Sonnenstrahlen auf die dunkle See meines Herzens fällt. Zum ersten Mal fühle ich eine Hochstimmung, die nicht vom Trinken herrührt.
Ich werde auf Micah aufpassen, so wie er Andi versprochen hat, auf mich aufzupassen.