Beitrag zum 11.03.2020
Thema: »Spurlos«
Die Legende, die ich euch erzählen möchte, geschah vor langer Zeit in meiner Welt, dem Königreich der Farben. Vielleicht habt ihr davon schon gehört. Wir Himnadhyi lebten in den Höhlen auf den Klippen und hatten es gut. Satt zu essen, Spiel und Spaß den ganzen Tag über. Von den Menschen hielten wir uns, so gut es ging, fern, denn wir kannten die Geschichten über die flügellosen gemeinen Grau- und Braunwölfe, mit denen die Eltern ihre Kinder verschreckten. So gesehen, waren wir lange Zeit ein Mythos für die menschlichen Bewohner Karangjias. Bis der Nebel kam. Der weiße Nebel. Er zog sich über das gesamte Land, mitten in den Sommermonaten. Menschen und Tiere versteckten sich in ihren Bauen. Die Angst hing greifbar in der Luft. Die Himnadhyi heulten in den Nebel hinein, sangen unsere schönsten Lieder, um den anderen Wesen Trost zu spenden. Es kam nie eine Antwort. Eines Tages jedoch mischte sich unter dem Balladengesang eine zarte Stimme. Sie erklang vom Meer her, das an jenem Tag sehr ruhig war. Kaum eine Welle erhob sich. Meine Vorfahren streckten die Schnauzen aus den Höhlen und sahen ein junges Menschenmädchen. Es weinte, und ihre Tränen fielen ins Meer, und dort, wo sie landeten, leuchtete es gleißend hell auf. Das Mädchen schwamm ans Ufer und erklomm die Klippen, kletterte an den Höhlen vorbei, in denen die Wölfe verborgen im Schatten saßen und schauten, und die Tränen, die auf das Gestein tropften, wurden zu einer Spur aus Eiskristallen. Heute sieht man diese Spur auch noch, aber ganz schwach, eine spurlose Spur sozusagen. Die Himnadhyi gaben ihr den Namen Criangráth, die Spur des eiskristallenen Kummers, und so wird sie heute noch genannt.
Das Mädchen blieb am Rande des Königreichs stehen, neben einem verwitterten Stein, in den vor Jahren mal ein Blitz eingeschlagen und die Splitter überall verstreut hatte. Aus den Splittern und den Eiskristallen entstand Sapheen, der Turm der weißen Dame. Und die weiße Dame war – Richtig, niemand anderes als das Mädchen! Mit der Entstehung Sapheens verschwand auch der weiße Nebel. Die Himnadhyi flogen oft zu dem kleinen Turmfenster und blickten scheu hinein. Und dort fanden sie sich Auge in Auge mit der weißen Dame wieder, die sich anfangs ängstlich in die Schatten zurückzog, mit der Zeit jedoch immer näher kam und Zutrauen fasste. Ein tiefes Band enstand zwischen den Schneeschwanwölfen und Saphaura, wie das Mädchen heißt. Saphaura sang des Nachts mit den Wölfen und erzählte in den Liedern von einer unerwiderten Liebe, wegen der sie dem Ruf des Meeres gefolgt war und nach einem Ort gesucht hatte, an dem sie allein sein konnte. In den nächsten Jahren wurde Sapheen immer größer und hübscher, und war schon von weitem zu sehen. Natürlich tauchten bald die neugierigen Menschen auf. Die Himnadhyi jedoch beschützten Saphaura in ihrem Turm, und bezahlten oft mit ihrem Leben. Irgendwann reichte es Saphaura. Es war das erste Mal, dass sie den Turm verließ. Sie flog in den Nächten auf dem Rücken eines Himnadhyi über Karangjia und stattete den Menschen einen Besuch ab. Demjenigen, der sie sah, geschah ein Unglück, oft holte ihn der Tod. Man sagt, dass ausnahmslos junge Männer davon betroffen sind, denn sie waren der Grund dafür, dass das junge Mädchen sich dem Meer hingegeben hatte.
In jener Zeit herrschte Zwietracht unter den Städten, da das System damals eher anarchistisch als so wohlgeordnet wie heute war. Die Menschen beschimpften und bedrohten sich gegenseitig, es kam zu Mord und Totschlag. Und irgendwann erschien in den Nächten ein Schimmel, so erzählten es sich die Menschen. Sie lagen in ihren Betten, hörten das Hufgeklapper oder das Wiehern. Die Geräusche säten Angst in die Herzen der Menschen, doch anstatt sich zu besinnen, in ihr Inneres zu gehen und sich mit sich selbst zu beschäftigen, wurde die Angst durch Gewalt kaschiert und es kam, wie es oft so ist, zum Krieg zwischen den Städten, der jedoch recht schnell beendet war, da die meisten Menschen bald zur Vernunft kamen und ein paar kluge Köpfe mit rationalem Verstand erfolgreich das System änderten. So entstand das jetzige Königreich. Auf die Himnadhyi wurde nicht mehr Jagd gemacht, und Saphaura wurde in Ruhe gelassen, da man in ihr eine Warnung vor großen Katastrophen sah.
Heute leben wir in Frieden mit den Menschen. Und ich hoffe, dass dieser Friede weiterhin bestehen bleibt. Wenn nicht, wird der Schimmel mit den Hufen klappern und wiehern und die Himnadhyi werden ihre Schwingen ausbreiten und diejenigen beschützen, die es verdient haben.