Beitrag zum 11.11.2020
Thema: »Freiheitsdrang«
»Okay, sobald wir draußen sind, darf keiner mehr reden! Kein Mucks! Die Nachtwache darf uns nicht erwischen!« Jorin sieht uns eindringlich an. Lyra nickt, Kiana schultert ihren Rucksack, und ich blinzle links.
Heute ist der Tag. Der Tag, an dem wir es wagen. Unseren Fluchtversuch. Lyra und Jorin haben mir gestern die Elektroden entfernt. Ich lag die ganze Nacht wach und habe der Stille zugehört. Meiner Stille. Kein nerviges Piepen mehr an meinem Ohr. Mal abgesehen von den Geräten, an denen die anderen Probanden angeschlossen sind. Es war eine friedliche Nacht.
Diese Nacht wird nicht friedlich. Wir spielen mit dem Schicksal und haben keine Ahnung, ob es uns gelingt, hier rauszukommen.
Ich hoffe das Beste.
Lyra schiebt mich im Rollstuhl vorwärts. Kiana geht neben uns, Jorin dahinter. Die Gänge sind spärlich von den Lampen erhellt. Alles ist still.
Vor zwei Tagen haben wir den Fluchtweg eingehend besprochen. Das heißt, ich habe meine Zustimmung oder Ablehnung durch Blinzeln kundgetan. Mein rechtes Auge schmerzt immer noch ein wenig.
Letztendlich haben Jorin und Kiana entschieden, sich im alten Gebäudeteil umzusehen, da es dort noch wahrscheinlicher ist, irgendeinen Weg nach draußen zu finden.
»An der Eingangstür werden sie uns sofort schnappen. Da können wir nicht hin«, hat Jorin gesagt.
Dann hat Lyra eine grandiose Idee gehabt, wie wir unauffällig im alten Teil herumsuchen können. Ich habe Herrn Janke noch nie so lange brüllen und fluchen hören, als er gemerkt hat, dass sämtliche Toiletten verstopft waren. In einem WC-Raum soll sogar das Wasser übergelaufen sein. Und da die Außenwelt nichts – unter GAR KEINEN Umständen! – vom Projekt erfahren darf, musste sich der liebe Heimleiter selbst darum kümmern.
Die Toiletten im alten Gebäudeteil sind teilweise defekt, wie Lyra uns erzählt hat. »Da traut sich auch niemand hin, weil es in den Gängen ziemlich gruselig ist.«
Aber nun haben die Studenten keine Wahl. Wenn das Bedürfnis zu groß ist, nimmt man den Weg schon auf sich.
Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal froh darüber bin, eine Windel zu tragen!
Je weiter wir gehen, desto muffiger scheint die Luft zu werden. Kiana hustet, und Jorin zischt sofort: »Pssst!«
Zu recht. Denn meine scharfen Augen erspähen eine Bewegung. Eine ziemlich schnelle. Ich werfe den Kopf zurück, doch Lyra legt ihre Hand auf meine Stirn und fixiert mich so. Hektisch blinzle ich mit dem armen, überanstrengten rechten Auge, was natürlich in der Dunkelheit niemand sieht. Im alten Teil, wo wir uns mittlerweile befinden, ist gefühlt jede zweite Lampe kaputt.
Als wir um eine Ecke biegen, steht jemand vor uns. Wie aus dem Nichts. Als hätten die Schatten ihn freigelassen.
Er trägt eine Kapuze. In seinem Mund steckt eine Zigarette. Seine Augen liegen im Schatten der Kapuze, aber mit einer kurzen Bewegung legt er sie frei.
»Ein großer Freiheitsdrang kann schlimme Folgen nach sich ziehen, wisst ihr das nicht?«, sagt eine Stimme, sanft und gleichzeitig eiskalt.
Das ist nicht Herr Janke. Allerdings auch kein Unbekannter, zumindest nicht für mich.
Und unglücklicherweise ein sehr viel schlimmerer Typ als Herr Janke.
Er sieht mich an, Wiedererkennen blitzt in den Augen auf. Er nimmt die Zigarette aus dem Mund und verbeugt sich.
»Hallo, Benji!«, flüstert er, und in mir zieht sich jeder Muskel zusammen.
Er ist hier. Shanja.