Beitrag zum 27.11.2019
Thema: »Schau nie zurück«
JOSHUA
„Aber wir sind Crashed Existence!“, rufe ich verzweifelt, und der Türsteher lacht humorlos auf.
„Ist klar, und ich bin Helene Fischer!“ Seine Miene wird erneut finster. „Verschwindet, oder muss ich meine Kollegen vom Sicherheitsdienst rufen, damit die euch rauswerfen?“
Wir funkeln uns eine Weile an, bis Chad mich vernünftigerweise am Arm packt und grob wegzieht.
„Nicht nötig, wir sind schon weg“, meint mein Bruder und bugsiert mich unsanft auf die Straße hinaus.
„Du bist der größte Depp, den es gibt!“, faucht Chad mich an, und ich ziehe die Augenbrauen hoch.
„Ach, wer hat die Einladungen weggeschmissen, hm?“, schieße ich zurück.
„Ich nicht, Idiot! Das warst schön du! Welcher Trottel legt EINLADUNGSKARTEN ins ALTPAPIER?“
„Ich dachte, das wäre der Stapel mit den neuen Zeitungen! Die wären sowieso nicht weggeschmissen worden!“
Chad sagt nichts mehr. Schnaubend dreht er den Kopf und fixiert den Eingang. Ich suche verzweifelt nach einer Alternative, wie wir doch noch in den Bandraum kommen. In einer Stunde sollen wir auf der Bühne stehen! Und Blake, unser neuer Bassist und Akustikgitarrist ist auch noch – Ah, das muss er sein! Ein Auto hält wenige Meter von uns entfernt, und heraus steigen Nico und Blake.
„Was macht ihr denn hier?“, fragt Nico entgeistert und rasch erzähle ich ihm, was passiert ist.
„Du hast was?“ Fassungslos sieht er mich an und rauft sich in einer ebenso hilflosen wie zornigen Geste die Haare.
Blake hat seine Instrumente ausgeladen und gesellt sich zu uns. Erfreut umarmt er Chad und mich. Als er die angespannte Stimmung spürt, legt er den Kopf schief und wendet sich an Chad.
„What’s the matter?“
Anstatt ihm zu antworten, wirft mein Bruder mir einen so bösen Blick zu, dass ich schnell wegsehe. Blake – gar kein Kind von Langsamkeit, sondern mit einem rasiermesserscharfen Verstand ausgestattet, wie ich ihn noch nie erlebt habe – nickt kurz mit dem Kopf, obwohl niemand was gesagt hat, und verschwindet lautlos wie ein Schatten um die Ecke.
Nico, Chad und ich sehen uns verwundert und ratlos an. Gleich darauf kommt Blake wieder – mit fünf Punks im Schlepptau. Mir klappt die Kinnlade runter. Chad murmelt „Holy Shit!“ und Nico verschränkt die Arme und streicht mit den Händen darüber, als friere ihn.
Die Punks mustern uns interessiert. Sie scheinen etwas jünger als wir zu sein, vielleicht achtzehn oder neunzehn.
„Euer Freund meinte, ihr bräuchtet Hilfe, um da rein zu kommen?“, sagt ein grünhaariger Irokese.
Bevor irgendjemand von uns dreien antworten kann, schaltet sich Blake ein.
„Wir schlagen das Fenster zum Proberaum ein und klettern rein.“
„Wow, toller Plan!“, murmle ich sarkastisch. „Bin gespannt, wer das kaputte Glas bezahlt!“
„Nein, da kriegt ihr nur Schwierigkeiten!“ Der Punk schüttelt den Kopf. „Aber wir wissen, wie ihr einen anderen Weg nehmen könnt.“
Der andere Weg stellt sich als Kletterpartie über eine Mauer heraus. Chad und ich klettern zuerst nach oben. Er führt mich durch die Dunkelheit und ich passe auf, dass er nicht abstürzt.
„Josh?“, sagt er auf einmal.
„Was ist los?“ Alarmiert hebe ich den Kopf und packe ihn am Arm.
„Blake ... Er ist irgendwie ... nicht der, der er zu sein scheint! Er wirkt so verändert, seit unserem Konzert in Yorkshire.“
Verdattert reiße ich die Augen auf. „Quatsch!“, protestiere ich heftig. „Blake ist schon immer eine Merkwürdigkeit für sich, aber sooo verändert hat er sich jetzt auch nicht!“
Chad scheint nicht überzeugt. Ich erinnere mich, dass er Blake gegenüber zuerst ängstlich und misstrauisch gewesen ist. Von dieser Angst scheint doch noch etwas haften geblieben zu sein.
Automatisch wandert meine Hand zu der meines Bruders. Sanft streicht der Daumen über den Handrücken.
„Komm, gehen wir weiter“, meine ich, ohne ihn loszulassen.
Chad schaut mich an, keineswegs beruhigt, und macht einen Schritt vor. Auf einmal verliert er das Gleichgewicht und ich schlinge blitzschnell den anderen Arm um ihn. Einen Augenblick lang befürchte ich, dass wir beide hinunterstürzen werden, doch das ist nicht der Fall. Ich halte ihn fest und kämpfe um einen sicheren Stand. Wir befinden uns beide noch auf der Mauer, Chad schwer atmend in meinen Armen.
„Geh weiter!“, rufe ich laut und als er nicht reagiert, kralle ich meine Finger von hinten in den Saum seiner Jacke und stoße ihn nach vorne.
„Schau nie zurück!“, ertönt da dicht hinter mir eine Stimme. Blake.
„Chad, du hast es gleich geschafft!“ Was mir vorhin nur teilweise gelungen ist, gelingt Blake umso besser. Er feuert Chad mit leisten Worten an, trägt seine Gitarren und wirkt so lässig, als würde er auf ebenen Boden gehen und nicht auf einer drei Meter hohen Mauer dahinspazieren.
„Super! Nie zurückschauen, Chad! Denn dann kommen Zweifel und die können gefährlich sein!“
Ich weiß nicht, aus welchem Poesie-Album Blake das hat, aber jetzt tauchen bei mir ernsthafte Zweifel auf, ob Chad mit seiner Angst und seinem Misstrauen nicht doch ein angebrachtes Verhalten an den Tag legt.