Beitrag zum 09.10.2019
Thema: »Spieglein, Spieglein an der Wand...«
Fanola hatte mal wieder die Abenteuerlust gepackt. Er streifte durch die ihm noch unbekannten Gegenden des Reiches Belletristica umher. Begleitet wurde er von seinem neuen Freund, dem Wolfsjungen Marvin. Sie hatten sich in der Taverne kennengelernt, und weil Fanola Wölfe zum Flauschen gern hatte, war er neugierig gewesen und hatte sich dem Wolf langsam genähert. Marvin hatte ihn aufmerksam beobachtet und erst einmal geknurrt, als Fanola schon ziemlich nahe war. Doch der Elfenjunge hatte sich darum überhaupt nicht gekümmert, sondern sich blitzschnell auf den überraschten Wolfsjungen gestürzt und ihn zu Boden geflauscht.
Marvin war ziemlich schnell klar geworden, dass dieser langhaarige und spitzohrige Typ mit der grünen Mütze alles andere als gefährlich war. Und dass er sich sehr gern und oft mit seinem losen Mundwerk und seiner Neugierde in Schwierigkeiten brachte. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb Fanola hier in Belletristica noch nicht wirklich Freunde gefunden hatte. Außer Marvin, der die freche und schlagfertige Art des Elfenjungen mochte. Aber der Auslöser, weshalb der graue Wolf ihn so innig ins Herz schloss, war die Sache mit dem Diebstahl des Mondes.
Eines Nachts – Marvin hatte wie immer dem Mond ein Liebeslied singen wollen – hatte er zu seinem Schrecken bemerkt, dass Luna, der Mond, verschwunden gewesen war. Geklaut! Gestohlen! Von einem Dieb! Voller Trauer und Schmerz über den Verlust hatte Marvin in die dunkle Schwärze der Nacht geheult. Fanola hatte das traurige Lied vernommen, und da war ihm eine Idee gekommen. Mit seiner Magie hatte er einen künstlichen Mond geschaffen und war damit zu Marvins Höhle gegangen. Der Wolf hatte sich so über seinen neuen Mond gefreut, dass er den Elf von unten bis oben abgeschleckt hatte. So entstand eine innige Freundschaft zwischen dem Elfenjungen und dem Wolfsjungen.
Fanola und Marvin hatten Adventuria hinter sich gelassen und waren über die Brücke des Great Lyric Stream durch die Eternal Pines zu The Great Threehouse unterwegs. Diesen Wald kannte Fanola noch nicht. Deswegen war er froh, dass Marvin ihn begleitete, denn Fano waren die knorrigen und moosbewachsenen Bäume mit den geschnitzten Gesichtern in der Rinde etwas unheimlich. Die Augen schienen ihm zuzuzwinkern, manche guckten grimmig drein, andere funkelten wissend.
»Die Bäume tun dir nichts, wenn du ihnen auch nichts tust. Sie sehen dich zum ersten Mal, und da sind sie natürlich misstrauisch. Aber manche übertreiben es auch – GRRRR, bleib wo du bist!« Marvin wirbelte herum und knurrte eine Kastanie an, die sich vornüber gebeugt hatte und deren Äste mit gefährlich spitzen Kastanienkugeln übersät waren, die beim geringsten Schütteln allesamt auf Fanola fallen würden.
»He, ich weiß selbst, dass deine Kugeln sehr nützliche Waffen sind, aber deswegen musst du sie noch lange nicht an völlig unschuldige kleine Elfen ausprobieren.« Erschrocken sah Fanola nach oben und regte sich nicht. Die Kastanie erstarrte bei dem Anblick des zähnefletschenden Wolfs, der sich schützend vor dem Elfenjungen aufbaute. Marvin gab Fanola ein Zeichen, weiterzugehen, während er sich langsam rückwärts von dem Baum fortbewegte und dabei immer noch die Zähne zeigte.
»Puh, also ich hoffe, die anderen Bäume sind gewarnt!«, meinte Marvin, als er an Fanolas Seite schritt.
Der Elf grinste. »Das sind sie mit Sicherheit! Dankeschön, Wolfsjunge!« Er streichelte liebevoll das graue Fell, und der Wolf leckte ihm die Hand.
Sie kamen zu einer Lichtung. Und dort befand sich etwas sehr, sehr Ungewöhnliches: Ein Spiegel war in einem der Bäume hineingesetzt worden. Fanola, ganz der neugierige Elf, ging hin, um sich das näher anzuschauen. Behutsam strich er über die moosigen Ranken, die den Spiegel einrahmten. Das Glas sah aus wie kristallklares Wasser, und Fano hätte es nicht verwundert, wenn es sich auflösen würde, sobald man mit dem Finger darüberstrich.
Genau das tat es tatsächlich. Marvin stieß einen warnenden Laut aus, als Fanola die Hand hob, doch es war schon zu spät. Kaum hatte der Elf das Glas berührt, stürzte er vornüber.
Der Wolf jaulte entsetzt auf und hetzte auf den Spiegel zu. Wo war Fanola? Er konnte ihn nicht wittern! Marvin lief unruhig vor dem Spiegel auf und ab. Mit einem Mal berührte seine vor Aufregung wild wedelnde Rute das Glas, und der Wolfsjunge verlor den Boden unter den Füßen.
Fanola war derweil völlig fasziniert von dieser neuen Welt, die sich da vor ihm auftat. Da standen Hunderte, wenn nicht Tausende von Spiegel! Neugierig musterte er sein Selbst, das sich in den Gläsern spiegelte. Überall war ein langhaariger Elf mit grüner Mütze zu sehen! Nein, nicht überall! Auf einmal sah Fano einen weißhaarigen Elf mit schwarzen Gewändern und roten Augen. Das dunkle Spiegelbild lächelte ihn grimmig an, und Fanola unterdrückte den Drang, einen Schritt zurückzutreten, vor allem deshalb, weil Lächeln nicht das Einzige war, was dieses schwarze Ebenbild tat. Es schien auf ihn zuzukommen. Leises Raunen erfüllte die Luft. Fanola jedoch hatte keine Angst. Denn dieser schwarze Elf war für ihn kein Unbekannter. Der Elfenjunge neigte langsam den Kopf und grinste verwegen.
»Glaub ja nicht, dass du mir Angst einjagen kannst! Du magst zwar mein innerer Dämon sein, und mir den ein oder anderen Anfall bescheren, aber ich habe dich akzeptiert.« Und das konnte schließlich nicht jeder von seiner Krankheit behaupten.
Ein erfreutes Jaulen riss Fanola von dem Anblick des weißhaarigen Elfen los. Da war Marvin! Der Wolfsjunge sprang Fano an und war überglücklich, ihn wohlbehalten zu sehen.
Gemeinsam suchten sie einen Weg aus diesem Labyrinth von Spiegeln. Das war gar nicht so einfach, aber Marvin hatte einen hervorragenden Geruchssinn.
»Wie gut, dass ich dich dabei habe!«, meinte Fanola, als sie die Spiegel hinter sich gelassen hatten und wieder auf derselben Lichtung standen, wie zuvor. Wie das geschehen war? Nun, vielleicht waren die Spiegel gar keine Spiegel gewesen ...
Fanola und Marvin jedenfalls reichte es von gefährlichen Bäumen und vielen Spiegelbildern, sodass sie einen anderen Weg zurück nach Adventuria nahmen. Hätte Fanola sich nochmal nach dem Spiegel auf der Lichtung umgedreht, dann hätte er den dunklen Schemen wahrgenommen, der auf dem Glas auftauchte.
»Du kannst mir nicht entkommen, weißer Bruder«, waren die Worte, die der dunkle Elf sprach, bevor er sich vom Wind davon tragen ließ.