Beitrag zum 01.12.2019
Thema: »Glühwein«
Alles Gute zum Namenstag, du russischer Hundesyn! Hoffe, du feierst gerade mit Wodka und hübschen Frauen ab. Oh, товарищ (tovarishch = Gefährte, Kumpel, Freund), ich vermisse die alten Zeiten, in denen wir zusammen von Haus zu Haus gezogen sind und Wodka bis zum Umfallen getrunken haben.
Aber ich weiß auch, dass du es jetzt besser hast. Zumindest besser als ich. Du kennst mich, ich bin kein Typ von Traurigkeit. Deswegen bereue ich auch nicht, dass ich deinen Vater zur Rechenschaft gezogen habe. Du warst noch viel zu jung, um so ein Leid erfahren zu müssen. Wehrlos. Und so gebrochen, dass du später, als Jugendlicher alles erduldet hast, was dein Vater dir angetan hat.
Hier an Bord, auf dem Weg nach Arkadien, haben wir auch jemanden, der dir sehr ähnelt. Ich habe ihn in Peru kennengelernt. Er heißt Moyz, aber wenn man ihm eines nicht vorwerfen kann, dann, dass er ein Kulturfolger ist. Moyz ist wirklich eine Maus, und die anderen Häftlinge wissen es. Nicht nur die hier an Bord, sondern auch die in Peru. Moyz und ich kamen zeitgleich dort ins Gefängnis. Schon in den ersten Stunden sprach sich herum, dass er ein Schmuggler war. Nichts, was der Rede wert wäre. Aber an diesem Ort lebten Schwerverbrecher und Kleinkriminelle Rücken an Rücken. Kurzum: Moyz hatte nach weniger als zwei Stunden rund drei Prozent der Insassen zum Feind. Nicht viel, mag man meinen, doch genug, um sich in den dunkelsten Winkel einer Ecke zu verstecken. Es sei denn, man lernt jemanden kennen, dessen Name ebenso rasch populär wurde, wie Moyz' Straftat: Mich, Paladin. Die Wenigsten wissen, dass ich Sasha heiße, doch jeder (außer diese korrupten Polizisten und ach so ahnungslosen Beamten, eben alle hohen Tiere in den prunkreichen Kammern der Behörden!) weiß, dass ich eigentlich völlig unschuldig in den Knast eingewandert bin. Ich habe nur das getan, was meiner Meinung nach richtig war: Menschen beschützt, die in Gefahr waren. Irgendeine grausame Laune des Schicksals will es so, dass diese Menschen entweder unter mysteriösen Umständen nach meinem Eingreifen den tiefen Bariton der Totenglocke (nicht mehr) läuten hören oder mich (rein versehentlich natürlich!) an die Behörden ausliefern. Vielleicht sollte ich damit aufhören. Aber das kann ich nicht. Ich habe schon als Kleinkind angefangen zu brüllen, wenn Paps seinen Frust an Mum auslassen wollte. So laut, dass die Nachbarn mich gehört haben. Später in der Schule warst es du, den ich verteidigt habe. Leider habe ich viel zu spät bemerkt, dass die anderen Schüler längst nicht so grausam zu dir waren, und deine Wunden und Narben nicht von ihnen stammten.
Jetzt ist es Moyz, den ich beschütze. Ein reines Zweckbündnis, denn er wird mir den Weg in die Freiheit zeigen. Momentan schaut es mit Flucht aber eher schlecht aus. Wir befinden uns mitten auf dem nordatlantischen Ozean. Ein riesiger Frachter. Nur mit dem Unterschied, dass nebst Kisten mit Lebensmitteln (leider fest verschlossen und irgendwo an einem geheimen Ort gelagert) auch menschliche Fracht exportiert wird. 219 Gefangene, davon 112, die halbwegs noch in bester Verfassung sind. Meine Zelle teile ich mit Moyz, unser Schlafplatz ist wohlweislich in der hintersten und dunkelsten Ecke, und rund zwanzig anderen. Zwanzig wütenden und frustrierten Männern, die immer mal wieder aneinandergeraten. Es ist jedoch nicht so schlimm, denn die Wärter sind sofort zur Stelle, wenn eine Prügelei beginnt. Zu leiden haben wir dann alle. Eine eiskalte Dusche, vor der Moyz und ich halbwegs geschützt sind in unserer Ecke.
Heute ist Nikolausabend. Seit gestern ist es zu keinem Zwischenfall in unserer Zelle gekommen, denn niemand hat das Versprechen der Wärter vergessen, dass wir bei gutem Benehmen nach oben dürfen und eine Tasse heißen Glühwein und einen kleinen Teller Plätzchen bekommen. Moyz und ich mussten zwar einige mordlustige Blicke ertragen, aber niemand ist uns zu nahe gekommen. Na gut, mir kommt eh niemand zu nahe, es sei denn, er will meine Dienste als Bodyguard, was ich rundheraus ablehne. Menschen, die andere zum Spaß verprügeln und niederdrücken, haben keinen Schutz verdient. Und diejenigen, die beschützt werden sollten, wagen sich nicht zu mir, weil sie dadurch nur in Schwierigkeiten mit den anderen geraten. So funktionieren die Regeln: Lass dich nicht mit Paladin ein, ansonsten wird dein Aufenthalt zur Hölle. Sie fürchten mich. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll. Eigentlich hasse ich es, wenn jemand Angst vor mir hat. Hier, im Knastalltag, trägt es einen enormen Beitrag zu meinem Überleben bei. Und zu Moyz' Überleben.
Heute ist es friedlich. Moyz döst neben mir auf unserer Matratze und ich stoße ihn an, als der Wärter kommt.
»Aufstehen, der Nikolaus war da!«
Man mag es nicht glauben, aber Häftlinge können wie kleine Kinder sein! Jubelschreie und Jauchzer sind zu hören. Artig stellen wir uns hintereinander in einer Reihe auf - Moyz und ich bilden wie immer das Schlusslicht - und so gehen wir, flankiert von den Wärtern, nach oben. Es ist ein unbeschreiblich schönes Gefühl, mal wieder einen Sonnenuntergang zu sehen. Moyz knufft mich aufgeregt in die Seite und zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, strahlt er.
»Ich habe ganz vergessen, dass ein Sonnenuntergang so schön sein kann«, murmelt er und ich kann ihm nur zustimmen.
»Komm, lass uns was futtern und was trinken!« Ich entdecke einige Wärter, die zwischen den mittlerweile sitzenden und brav wartenden Häftlingen umhergehen und Glühwein und Teller mit Plätzchen und Lebkuchen verteilen.
Wir setzen uns in eine Ecke, in der fünf Männer bereits genüsslich essen und trinken und lachen. Sie sehen, dass wir noch nichts bekommen haben und bieten uns kurzerhand die zwei letzten Lebkuchen auf ihrem Teller an. Schließlich bringt ein Wärter Moyz und mir je eine Tasse Glühwein. Freundlich frage ich nach, ob wir noch einen Teller mit Süßgebäck bekommen könnten und der Wärter bringt uns tatsächlich einen randvollen Teller mit Plätzchen, Lebkuchen und Spekulatius. Wir stoßen mit den anderen an und beteiligen uns an den Gesprächen. Nach zwei Stunden - die Sterne stehen am Himmel, und Moyz guckt verträumt zu ihnen hinauf - müssen wir wieder hinunter in unsere Zelle.
Nun, mein Freund, ich hoffe, du verurteilst mich nicht dafür, dass ich in Moyz mittlerweile nicht mehr nur den jungenhaften Typen sehe, der ein gefundenes Fressen für diese wilden Tiere in Menschengestalt ist, sondern einen Kumpel, einen Leidensgefährten. So wie du einer warst. Und ich schwöre dir, dass ich diesen Kumpel bis zum Ende begleiten werde.