Das letzte Mal, als ich einen funkelnden Sternenhimmel gesehen hatte, war in der Nacht gewesen, als meine Mutter mit mir aus dem Elfenhorst vor Ehnjads Schergen geflohen war, und mich zu den Menschen gebracht hatte. In der darauffolgenden Nacht waren die Sterne verschwunden, ebenso wie mein Zuhause und mein altes Leben. An dieses Gefühl, was ich damals empfand, erinnerte ich mich immer wieder.
Heute, viele Jahre später, ebenso. Nur war mir, dass dieser Sternenhimmel dichter war, als der vorherige. Mehr Sterne funkelten. Die verlorenen Seelen hatten endlich einen Platz gefunden, einen Ort, wo sie nicht mehr ruhelos umherstreifen mussten. Sie brauchten dort keinen Körper mehr. Und hoffentlich waren sie glücklich.
Ich schlang die Arme um die Knie und wandte den Blick nicht von den Sternen. Trotzdem bemerkte ich, dass ich nicht mehr alleine hier war.
Die Chirocyr ließ sich fiepend auf meiner Schulter nieder.
»Na, erfolgreich?«, fragte ich und kraulte das samtene Fell. Der kleine Körper vibrierte sofort los.
‚Ja, wir haben uns einen Kampf mit einem Cerbanda geliefert. Es war ganz schön schwierig, die Kehle zu erwischen. Ich habe mir meine Hand verletzt, aber die Wunde war nicht tief, deswegen konnte ich sie selbst heilen.‘
Sie flatterte von meiner Schulter und verwandelte sich. Lautlos setzte sich das Halbvampirmädchen neben mich und zeigte mir mit unverhohlenem Stolz ihr schlankes und unversehrtes Handgelenk.
Ich sah Kiara an, und meine Schülerin merkte sofort, was los war. Sie richtete ihren Blick zu den Sternen. Schweigend saßen wir da.
»Da ist so viel Trauer und Schmerz in dir. Wieso lässt du sie nicht raus?«, frage Kiara leise.
»Ich kann nicht. Sie würden mich auffressen, und es würde wehtun. Sehr weh«, erwiderte ich und presste die rechte Hand auf meine Brust.
»Sie tun dir mehr weh, wenn sie drin bleiben.« Kiaras Augen leuchteten bernsteingold auf. Diese Farbe hatte ich bisher noch nie gesehen. Warm, verständnisvoll.
Meine Schülerin rückte näher an mich. Augenblicklich zogen sich die Schatten in meinem Herzen zurück und machten dem Bernsteingold Platz. Die Stille wurde unterbrochen, als Kiara zu singen anfing.
Soča yogūnå
Kagembra pyshėn
...
Ich fiel mit ein, und zusammen sangen wir die Trauer und den Schmerz fort aus unserem Herzen. Unsere Stimmen geleiteten sie zu den Sternen. Vergessene Klänge, hervorgezaubert von zwei ungleichen Geschöpfen, die dennoch durch ein Band miteinander verbunden waren.
Wir mögen verschieden sein, und sind doch Eins, dachte ich, und Kiara, die meine Gedanken empfing, lächelte mich an und nahm meine Hand.
Plötzlich musste ich an den zweiten Exorzismus denken. Kurz bevor die Mönche gekommen waren, hatte ich mich von Kiara in Gedanken verabschiedet. Shokân, der mich befreit hatte, hatte zu mir gesagt, dass ich die Drag’ry wohl mehr mochte, als es in diesen Zeiten, und vor allem unter dem Umstand, dass sie meine Schülerin war, angebracht wäre.
Der Dämon hatte Recht.
Was ich für Kiara empfand, hatte nichts mehr mit normaler Freundschaft zu tun. Daran änderte auch die Tatsache, dass sie eine Drachenreiterin war, nichts. Nie würde Kiara mir wehtun wollen, dazu war unser Band einfach zu stark. Aber war es ein Band der Freundschaft?
Diese Frage schwebte einige Herzschläge lang zwischen uns. Das Halbvampirmädchen legte den Kopf schief, und als ich meine Arme um sie legte und sie sanft an mich zog, berührten sich unsere Stirnen.
Wärme prickelte warm in meinem Körper. Ein leuchtendes Band strömte aus meiner Brust heraus, suchte sich seinen Weg zu Kiara. Jetzt waren wir Eins.
Unser Gesang war längst verstummt, aber für diesen Tanz hatten wir unsere eigene Melodie.
»Arayei, Kiara«, flüsterte ich. Ein Wort mit vielen Bedeutungen. In dieser Nacht jedoch hieß es nur eins.
‚Arayei, Fanóla.‘
Funken regneten auf uns herab, als etwas über uns hinwegflog. Kiara und ich sahen kurz hin und entdeckten Shokân in seiner Fledermausgestalt. Auf seinem Rücken saß ein kleines, zartes Wesen; eine Sternelfe! Obwohl ich sie nur als Silhoutte erkennen konnte, wussten wir beide, um welche Sternelfe es sich handelte.
Während wir im Funkenregen tanzten, flog Shokân die Elfe der Liebe nach getaner Arbeit zurück zu den Sternen. Kiara und ich sahen ihnen hinterher. Mir war leicht ums Herz. Die Schatten waren verbannt. Vertrieben von dem Feuer, welches das neue Band schmiedete. Ein Band, geboren aus der ersten Sternhimmelnacht des Friedens.