Beitrag zum 21.04.2021
Thema: »Stromausfall«
CHAD
Es war von vornherein klar, dass Josh die leeren Wein- und Schnapsflaschen entdecken würde. Ich habe vergessen, sie wegzuräumen. War viel zu fertig dafür.
»Das geht schon die ganze Woche so! Verdammt, Chad, willst du nächste Woche noch aufstehen können? Oder lieber wieder in Fieberträumen liegen und unsichtbare Ameisen über deinen Körper krabbeln spüren? Mach den Mund auf!«
Joshua steht vor mir und brüllt mich seit geschlagenen drei Minuten an. Ich sitze in der hintersten Ecke unserer Schlafmatratze und versuche erfolglos, in der Wand zu verschwinden. Funktioniert nicht. Natürlich nicht. Nur Geister können durch Wände gehen. Vielleicht hätte ich die Flasche Sambuca doch noch trinken sollen. Vielleicht wäre ich jetzt ein Geist.
Die langen Haare hängen mir ins Gesicht; zwischen den Strähnen sehe ich Josh wild gestikulieren, und obgleich ich trotz meines vernebelten Gehirns, das noch mehr Matsch ist wie sonst, weiß, dass er mir körperlich nie, nie, NIE wehtun würde, habe ich plötzlich wahnsinnige Angst.
Der Dämon in mir, durch den Alkohol ruhiggestellt, teilt seine Träume mit mir: Von wilden Gestalten mit zotteligen Haaren und bösen Fratzen. Sie strecken ihre Krallen nach mir aus – und packen mich! Hilfe! Hilfe, Joshua, hilf mir!
Ich schreie, schlage um mich, werde in einem eisernen Griff festgehalten und irgendwohin bugsiert. Joshua …
Eiskaltes Wasser trifft mich; ich schnappe nach Luft, keuche, spucke aus. Eine Hand fährt in sachten Kreisen über meinen Rücken.
»Besser?«, fragt eine Stimme, die mich fast sofort beruhigt. Mit geschlossenen Augen atme ich tief ein und aus. Ja, schon viel besser.
Im nächsten Moment ist es dunkel. »Damm!«, flucht Joshua. Etwas klickt. »Stromausfall!« Mein Zwillingsbruder stöhnt, und ich streiche die klatschnassen Haare aus meinem Gesicht. Dunkelheit umgibt uns.
»Hier.« Josh legt mir ein Handtuch um die Schultern, und ich stolpere aus dem Bad in den Wohnbereich. Wieder zurück auf die Schlafmatratze.
Niemand sagt etwas. Meinem Bruder sind wohl die Worte ausgegangen, oder es ist kein Raum mehr für seine Wut da. Ich höre seinen Atem, dicht neben mir. Schon strecke ich die Hand aus, will mich entschuldigen, aber es geht nicht. Für was entschuldigen? Dass ich getrunken habe, wieder einmal? Das ist nichts Neues. Zumindest nicht für meine Familie. Ich habe auch schon vor dem Umzug nach Deutschland zur Flasche gegriffen.
»Chad.« Josh spricht meinen Namen so leise aus, als hätte er Angst vor einer Reaktion meinerseits. Oder eine Reaktion des Dämons in mir.
Und dann sagt er sie. Diese vier Wörter. »Ich hab dich lieb.«
Diese vier Wörter bringen selbst den Dämon zum Verstummen. Vorerst. Ich spüre Tropfen meine Wangen hinunterrinnen. Nur kommen die nicht vom Wasser, nein. Es sind Tränen.
Ich würde ihm so gern sagen, dass ich ihn auch lieb habe. Dass es mir leid tut, was ich ihm Tag für Tag antue. Dass ich von ihm so viel verlange: Sich-um-mich-kümmern, Verantwortung übernehmen, für mich da sein, egal ob bei einem Anfall oder an Tagen wie diesen, an denen der Alkohol mich vergessen lässt, dass ich krank bin, dass mein älterer Bruder sich umgebracht hat, dass Josh und ich nur noch einander haben, weil wir von Mum weggezogen sind.
Aber ich schweige. In der Dunkelheit sind die ungesagten Wörter oft die lautesten. Die stillsten Schreie die mächtigsten. Man hört sie vielleicht nicht, aber sie sind genauso befreiend und laugen einen ebenso aus.
Ich lasse mich völlig erschöpft nach hinten fallen. Liege da. Starre in die Dunkelheit. Erst, als ich sicher bin, dass meine Stimme nichts von der Last der Traurigkeit in sich tragen wird, flüstere ich: »Ich dich auch.«