Beitrag zum 08.03.2020
Thema: »Die Aufmerksamkeit war ihm gewiss ...«
CHAD
Ich höre die Klänge, ehe ich wieder vollständig das Bewusstsein erlange. Sie kommen aus dem Zimmer, vor dessen Tür ich eben einen Anfall gehabt habe. Zum Glück kein Grand Mal, denn ansonsten hätte ich eingenässt oder Schlimmeres. Nein, wahrscheinlich war es ein komplex-fokaler Anfall oder eine Absence, immerhin stehe ich mitten im Gang und sammle mich wieder. Auch bin ich allein. Niemand scheint den Anfall bemerkt zu haben. Ich atme tief durch und öffne die Tür zu dem Raum, hinter dem die Melodie einer E-Gitarre erklingt.
Da steht Joshua, total versunken in sein Gitarrenspiel. Vorsichtig lasse ich mich zu Boden sinken und schließe müde die Augen. Die melodischen Akkorde lullen mich ein, tragen mich weg in meine Traumwelt.
Auf einmal jedoch ertönten härtere Riffs, nachhallende kurze Töne. Nein, nicht ACDC, sondern die Dire Straits. Ich zwinge meine Augen, offenzubleiben und sehe meinen Bruder total abgehen. Die langen Haare fliegen nach vorne ins Gesicht, wenn er mit dem Kopf ruckt. Er sieht aus wie ein richtiger Rockstar. Die Aufmerksamkeit ist ihm gewiss nicht bewusst. Ich werde jedoch eines Besseren belehrt, als er sich zu mir umwendet und lächelt. Doch gleich darauf zeigt sich Besorgnis in seinen Augen, und er hört auf zu spielen, streift den Gurt der E-Gitarre über seinen Kopf und kommt zu mir.
»Alles okay?«
Ich nicke und schiebe seinen Arm weg, der sich um mich legen will.
»Ich hatte einen Anfall, aber keine Sorge, das war wahrscheinlich nur eine Absence oder ein komplex-fokaler.«
Joshua mustert mich, vergewissernd, dass es mir gut geht.
Langsam nickt er, klopft auf meine Schulter und sagt: »Mich wundert nur, dass du so ruhig bist.«
Ich grinse. »Bin ich doch immer.« Aber das meint Josh nicht. Normalerweise ist immer jemand da, wenn ich einen Anfall habe und wieder zu mir komme. Diesmal war keiner da. Eigentlich hätte ich panisch sein sollen oder zumindest gestresst, aber heute nicht. Nun, so ganz stimmt das auch nicht.
»Ich habe dich spielen hören. Vielleicht liegt’s daran. Ich wusste, dass du da warst. Und die Musik hat mich beruhigt.« Ich lächle ihn an, und er lächelt zurück.
»Willst du dich ausruhen?«, fragt er, doch ich schüttle den Kopf und nicke zur E-Gitarre.
Er versteht sofort.
»Sleep, my little warrior«, flüstert Joshua und stimmt Sleep von den Dandy Warhols an. Und genau das tue ich wenige Minuten später.