Nachgeschriebener Beitrag zum 04.08.2019
Thema: »Er drehte den Schlüssel und öffnete die Tür …«
Vermutlich hast du mich, deinen ehemaligen Klassenkameraden in den ersten fünf Jahren deiner Schulzeit, schon längst vergessen. Den Typen, der keine Gelegenheit ausließ, dir schöne Augen zu machen; der Blumen vor deine Haustür legte und dir stets die Tür aufhielt. Der Typ, der alles tat, außer den Mund aufzumachen. Das war ich. Ein kleiner Junge, der für ein gleichaltriges Mädchen schwärmte.
Und fünfzehn Jahre später jenes Mädchen zufällig in einer Bar wiedersah. Mit einem Kerl, der eindeutig nicht nur einen kleinen Plausch abhalten wollte. Abartig und widerwärtig. Du warst vor Angst erstarrt, wie die Maus vor der Katze. Der Penner fing an, dich zu begrapschen, und ich tippte ihm auf die Schulter, grinste ihn freundlich an und schickte ihn mit einem gut platzierten Faustschlag zu Boden.
Es war nur ein Schlag.
Der Typ war fett und ein Vollassi, gestunken hat er bis zum Himmel.
Nur ein Schlag. Nicht tödlich.
Nur ein Schlag, verdammt!
Ich rief dir ein Taxi, wartete mit dir draußen. Du erkanntest mich nicht. Du wusstest nicht, wer ich war. Wir haben wenig geredet. Es war eine kalte Winternacht. Deine Lippen liefen blau an und du zittertest unter deinem dünnen Mantel. Wie gerne hätte ich dich in den Arm genommen! Aber du standst unter Schock und ich traute mich nicht, dich zu berühren. Ich wollte nicht alles noch schlimmer machen. Dass es für mich schlimmer kommen würde, konnte ich damals ja noch nicht ahnen! Das Taxi kam, du stiegst ein, winktest mir zu, mit einem Lächeln auf den Lippen, und fuhrst davon.
Zwanzig Minuten später trafen Notarzt und Polizei ein. Endlose langweilige Stunden voller banger Erwartungen im Verhörraum. Gegen Morgen die Nachricht, dass der Typ auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben ist.
Es war nur ein Schlag!
Nur ein Schlag!
Politik ist ein korruptes Arschloch. Die Mächtigen treten auf die Kleinen herum, wie es ihnen beliebt. Ich habe leider das Pech, zur Zielscheibe geworden zu sein. Denn es war bei weitem nicht das erste Mal, dass ich jemanden beschützt habe. Diese ganzen Sachen wurden ausgebreitet, hervorgeholt, durchgekaut. Den Ruf eines Serienkillers hängte man mir an. Und Serienkiller sind hochgefährlich.
Deswegen ging’s für mich ab nach Sabaneta in Venezuela, aber davon werde ich dir nichts erzählen, obwohl dieses Hochsicherheitsgefängnis – oder „das Tor zum fünften Höllenkreis“, wie es allgemein genannt wird – ein Witz war gegen das zweite, in das ich nach mehreren „Schwierigkeiten“ gebracht worden war. Penal Castro Castro, Peru. Nirgendwo sonst kann man sich leichter mit HIV anstecken, als dort. Und Schutz seitens der Wärter gibt es keinen. Die Häftlinge dürfen sich in den zwanzig Pavillons frei bewegen und alles tun, was sie wollen.
Schwerstverbrecher wohnen auf engstem Raum mit Kleinkriminellen. Es ist nicht schwer zu erraten, wer am meisten darunter zu leiden hat. Als Serienkiller, der eigentlich gar keiner ist, ließ man mich in Ruhe. Mein Ruf, unschuldig zu sein, eilte mir voraus, wie ich hier festgestellt habe. Das hieß aber nicht, dass man mir das glaubte.
Bis ich Moyz traf.
Am Wochenende steigen fette Partys. Groß, laut, und lebensgefährlich. Weil es keine Frauen gibt, die an der Stange tanzen, zwingt man die kleinen Verbrecher dazu.
Moyz ist einer von ihnen. Schmuggler und Jude.
Auf diesen Partys wurde mir bewusst, welch zivilisiertes Verhalten die meisten Häftlinge tagsüber zeigen. In den Nächten von Freitag auf Samstag und Samstag auf Sonntag werden sie zu Monstern.
»Rauf da! Stell dich nicht so an!« Chasoi, ein Mörder und Drogenhändler – sehr gefährlicher Typ! Man nennt ihn nicht umsonst „Wolf“ – hielt einen jungen Mann gepackt und warf ihn auf einen wackligen Tisch, der ein „Tanzpodest“ darstellen sollte. Ich hatte von Moyz schon viel gehört.
Weil er Schmuggler ist, hoffen viele darauf, dass er ihnen zur Flucht verhilft. Mit Geld. Moyz ist stinkreich. Bekommt Geld von seiner Familie. Ist bekannt, wie ein bunter Hund. Und hat demzufolge viele Feinde.
Moyz zitterte, aber er wagte es dennoch, Chasoi ins Gesicht zu spucken. Alle Achtung! Doch der Wolf ließ sich so eine Behandlung nicht gefallen. Das wäre eigentlich der Zeitpunkt gewesen, umzudrehen und so zu tun, als sähe man nicht, was sich abspielte. Aber ich tat das genaue Gegenteil: Ich zerrte Chasoi von dem hilflosen Moyz runter, drosch ihm mehrmals in eine sehr empfindliche Stelle, nahm dann Moyz und schleifte ihn zum Ausgang. Dort stand ein Wärter. Er drehte den Schlüssel und öffnete die Tür. Wortlos.
Warum ich ihn gerettet habe? Ausgerechnet ihn?
Moyz hat mich in dem Moment an dich erinnert. Wie du erstarrt dastandst. Die Pranke des ekligen Schweins auf Stellen, wo sie nichts verloren hatte. Genau, wie die Zunge des Wolfs nichts bei Moyz verloren hatte.
Ich bin nie mehr wieder auf diese Partys gegangen. Zwei Monate später wurden Chasoi, Moyz und ich mit einigen anderen auf ein Frachtschiff verladen.
Wir sind auf hoher See. Transatlantischer Ozean. Auf dem Weg nach Arkadien.