Beitrag zum 09.02.2020
Thema: »Opferlamm«
Dunkle Kreuze wuchsen aus der Asche. Der Himmel war schwarz. Durch das Land zogen Rauchwolken. Alles war verbrannt. Trümmerhaufen überall. Das Feuer hatte alles ausgelöscht.
Was war hier nur passiert?
Ehe ich nach Anzeichen suchen konnte, verschwamm alles und ich fand mich im Schiffsraum wieder. Verdutzt stellte ich fest, dass ein regelrechtes Chaos herrschte: Arkan, Kiara und Hírbokk standen mit dem Rücken vor einer am Boden liegenden Gestalt. Der Ausdruck in ihren Gesichtern konnte man als angriffslustig bezeichnen. Ein Krächzen ertönte neben mir und ich entdeckte Lugân in seiner Rabengestalt auf einem Balken sitzen, die Flügel gespreizt. Bei den hellen Geistern, warum wirkten alle so, als würden sie gleich einen Kampf austragen?
Ich schwebte ein Stück nach oben und ein Schrei entfuhr mir. Die Person, die auf dem Boden lag – das war ich! Meine Hände waren zu Fäusten geballt, sämtliche Muskeln angespannt und mein ganzer Körper krampfte. Jetzt wurde mir klar, was gerade geschah.
Es befanden sich noch drei Piratenkrieger im Schiffsraum. Und die sahen alles andere als fröhlich aus. Oh-oh!
»Er ist eine Gefahr für uns alle! Seht ihn euch doch an! Ein dämonenbesessener Elf! Wir sollten ihn töten und an die Meeresungeheuer verfüttern!« Der Kerl, der da sprach, war ein großer, hagerer Mann mit Nasenring und unzähligen Tätowierungen.
Arkan hielt die rechte Hand an sein Schwert.
»Wenn es wirklich das ist, was ihr vorhabt, dann solltet ihr euch mit der Tatsache abfinden, dass nicht er das Mahl für die Meeresungeheuer wird, sondern ihr!«
»He, einer von denen gehört mir!«, rief Kiara, leckte sich die Lippen und entblößte mit einem schadenfrohen Grinsen ihre spitzen Zähne.
»Für dich wird bestimmt was abfallen!«, mischte sich Hírbokk ein und scharrte unheilverkündend mit dem rechten Huf.
Während der Faunyr und meine Schülerin drauf und dran waren, sich auf die drei Typen zu stürzen, nahm Arkan seine Hand vom Heft und hob sie in einer beschwichtigenden Geste vor seine Brust.
»Ich möchte hier kein Blutvergießen. Deshalb stelle ich euch vor eine Wahl: Ihr geht an Deck, vergesst, was ihr hier unten gesehen habt und niemandem passiert etwas, oder ihr haltet an eurem Vorhaben fest und für die Meeresungeheuer und« – Arkan nickte leicht zu Kiara, die ein lautes Fauchen ausstieß – »das Mädchen gibt es heute ein sehr reichhaltiges Abendessen!«
Sir Nasenring wurde blass, und auch die anderen beiden traten einen Schritt zurück und ließen die Waffen sinken.
Ich hatte das Gefühl, als würden sie es sich noch anders überlegen. Und mir reichte es jetzt. Wenn sie mich über Bord werfen wollten, konnten sie das ja gern versuchen, aber das würde für sie tödlich ausgehen. Deshalb nahm ich ihnen die Entscheidung ab.
Befand ich mich auf Seelenwanderung, so wie jetzt, konnte ich nur sehr eingeschränkt Magie benutzen. Doch für das, was ich vorhatte, brauchte ich keine Magie, sondern Telekinese.
Bereits in den vorherigen Nächten hatte ich alle Winkel des Schiffes ausgekundschaftet, daher wusste ich, dass direkt neben dem Raum, in dem wir gerade waren, ein kleiner Schafpferch war. Es gab auch noch andere Pferche, in denen diverse Tiere untergebracht waren, doch die Schafe waren am nächsten. Zack, der Riegel schwang wie von selbst auf (Haha!) und dieses Geräusch reichte schon, um die Piratenkrieger herumwirbeln zu lassen. Ein verwundertes »Mäh?« ertönte. Schnell schwebte ich hinein zu den Schafen und zupfte einige an den Schwänzen. Nicht fest natürlich, schließlich sind wir Elfen ja tierlieb.
Die flauschigen Tierchen gerieten in Panik und stürmten auf den offenen Pferch in den anderen Raum. Aufgeregt spähte ich hinein und entdeckte zu meiner Freude, dass die Piratenkrieger völlig überrascht waren. Dann versuchten sie, die Schafe zusammenzutreiben, aber Hírbokk – der Faunyr hatte wohl doch so etwas wie ein Helfersyndrom oder einen Beschützerinstinkt – ließ das nicht zu. Er meckerte laut, sicherte sich die Aufmerksamkeit der Schafe und schlängelte sich geschickt zwischen den drei Typen durch, öffnete die Tür und die Schäfchen rannten ängstlich hindurch, gefolgt von ihrem neuen Anführer.
Ein Schaf war zu langsam. Sir Nasenring ließ sein Messer genau in den Nacken des armen Tieres sausen. Alles ging so schnell, dass ich nicht mehr eingreifen konnte.
Ich sah, wie Arkan und Kiara einen entsetzten Blick tauschten. Lugân krächzte kurz. Genau in dem Moment kam Hírbokk zurück.
Er sah das tote Schaf. Blickte auf das blutige Messer, das Sir Nasenring herausgezogen hatte. Senkte den Kopf. Ein Aufstampfen. Zorniges Schnauben. Und im nächsten Augenblick …
… hingen alle drei Piratenkrieger kopfüber in der Luft und drehten sich langsam. Hírbokk war der Erste, der mich ansah. Nach einer Weile wandten Kiara und Arkan die Köpfe.
»Fanola!« Meine Schülerin kniete sich neben mich und nahm mein Gesicht in die Hände.
»Hast du die Schafe rausgelassen?« Arkans Augen funkelten belustigt.
Ich kann nur schwach nicken. Meine Stimme war noch nicht da, und mir tat alles weh. Außerdem war ich müde und wollte schlafen.
»Guten Appetit«, brachte ich flüsternd hervor.
Kiara strich kurz über meine Wange und ging zu dem Kadaver. Arkan pflückte derweil die Piratenkrieger aus der Luft und warf sie aus dem Schiffsraum hinaus.
»He, was machst du da?«, ertönte Hírbokks entsetzte Stimme.
»Ich stille meinen Hunger. Seit vier Tagen habe ich kein Fleisch mehr zwischen die Zähne bekommen, und das eklige Fischzeug schmeckt überhaupt nicht!«, erwiderte Kiara gereizt und verzog sich mit dem toten Schaf in eine finstere Ecke, wo niemand sie sehen konnte.
»Aber –«
Arkan erschien und versetzte dem Faunyr einen leichten Schlag in den Nacken.
»Wäre es dir lieber, du würdest morgen mit aufgebissener Kehle dort hinten liegen?«, fragte er und Hírbokk schüttelte erschrocken den Kopf.
»Siehst du! Ein Opferlamm muss es geben. Sei froh, dass Fanóla nicht dieses Opferlamm war!«
Ich lächelte, als ich Hírbokks weiteres Gezeter hörte, das allerdings ganz schnell erstarb, nachdem Kiara ihn wütend anfauchte.
»Halt die Schnauze!«, war der beste Gute-Nacht-Gruß, den ich je gehört hatte.