Beitrag zum 30.09.2020
Thema: »Um jeden Preis«
»Warum haben sich ausgerechnet Drachen und Wölfe ewige Freundschaft geschworen? Das verstehe ich nicht! Ich meine, ich bin jetzt eine Wölfin, und du ein Drache, und nicht einmal jetzt können wir uns leiden! Was wir übrigens noch nie getan haben!« Böse funkelte ich Kilian an und schnaubte verächtlich, was mir als Wölfin fast besser gelang.
Er stieß einen Seufzer aus, verdrehte die Augen und ignorierte Simon, der hustend aus der Reichweite der kleinen Rauchsäulen tanzte, die von Kilians Nüstern aufstiegen.
Der Drache legte sich hin, zog die samtenen Pranken unter seinen Körper und sah mich auffordernd an. Trotzig blieb ich stehen, doch Simon, der sich ebenfalls setzte, legte eine Hand in meinen Nacken. Da legte ich mich widerwillig auch hin.
»Alle Geschöpfe Riaghors tragen den Schrecken, den sie bringen, irgendwo auf ihrer Haut oder ihrem Pelz. Einzig die Drachen und Wölfe aber haben ihn in den Augen. Für viele Menschen sind wir die Personifizierung des Bösen. Denk an die Geschichten, die du als Kind vorgelesen bekommen hast.«
»Mama hat mir keine Geschichten vorgelesen!«, knurrte ich. »Wenn sie mich ins Bett brachte, dann hat sie meistens über Thorsten geschimpft, dass er schon sehen wird, wie sie ihm das Sorgerecht für dich entzieht und so einen Unsinn! Ich bin froh, dass es ihr bis heute nicht gelungen ist.«
Kilian knurrte ebenfalls. »Ich auch! Du bist eine blöde Kuh, dich als Schwester zu haben, das wäre … «
In dem Moment blendete ein grelles Licht meine Augen. Es war zwar sehr schnell wieder weg, hinterließ jedoch ein nachträgliches Glühen auf der Netzhaut.
Ich sah Simon zwischen Kilian und mir stehen, die Handflächen links und rechts von sich nach oben gestreckt. Jetzt faltete er sie wieder zusammen und setzte sich neben mich.
Der Schattentänzer pustete feinen Lichtstaub von seinen Fingerspitzen und lächelte.
»Ich liebe diesen Lichtstaub. Er ist zwar so klein, aber hat eine große Wirkung.«
Verwirrt blickte ich meinen Cousin an. Simon grinste und nickte zu Kilian, der mich bittend ansah und auf etwas zu warten schien.
»Entschuldigung«, sagte ich nach einigen Momenten Stille. Der Drache neigte den Kopf. Entschuldigung angenommen, sollte das wohl heißen.
»Tut mir auch leid. Wir können es uns nicht leisten, zu streiten.«
»Erzähl weiter!«, drängte Simon und in den Blicken, die Kilian und er tauschten, lagen mehr unausgesprochene Worte, erzählte Gedanken, als je bei Simon und mir. Kurz fühlte ich einen Stich der Eifersucht, doch ich rief mir schnell in Erinnerung, dass Kilian und Simon sich noch weniger leiden konnten, als Kilian und ich.
»Jedenfalls fürchten die Menschen, insbesondere die Kinder, uns. Drachen und Wölfe haben in Sagen und Märchen einen schlechten Ruf. Deshalb gehören wir zu Riaghor. Aber so war es nicht immer.« Der Drache senkte den Kopf.
»Die ersten Drachen halfen Adargoth, den Traumsand zu verteilen. Die ersten Wölfe heulten den Mond an, damit dieser seine Pforten für die Traumbringer öffneten. Den Drachen gefielen die Lieder der Wölfe. Sie arbeiteten zusammen, und irgendwann entstand aus diesem Verhältnis eine innige Freundschaft. Die Drachen beschützten die Wölfe, und umgekehrt. Um jeden Preis. Als die Menschen aufgrund ihrer Sagen und Legenden jedoch die Drachen und Wölfe für böse Geschöpfe erklärten, ergriff Riaghor seine Chance und holte die Wesen zu seinen Albträumen. Adargoth konnte nichts dagegen tun. Aber er forderte im Gegenzug Helfer zum Verteilen des Traumsandes. Das waren die Schattentänzer, die jedoch das Licht nicht vertrugen. Sie gingen allesamt in schwarzem Staub auf.«
Kilian nickte Simon zu, der fortfuhr: »Der schwarze Staub vermischte sich mit dem Traumsand, und daraus entstanden neue Schattentänzer. So wie ich.«