Beitrag zum 13.10.2019
Thema: »Scharlachrot«
»Heyyaaahh! JIEEHHAAA! Go, Go!« Mit lauten Rufen trieb Chris sein Pferd an und stieß die Sporen in seine Seite. Die Ohren des Tieres stellten sich auf, und die Hufe schlugen einen schnelleren Takt auf der trockenen Ebene. Neben ihnen erschien eine fuchsfarbene Stute. Darauf Nathan, der sich nach vorne gebeugt hatte und dessen Augen einen unsichtbaren Punkt am endlosen Horizont fixierten. Sein Atem ging genauso keuchend, wie der seiner Stute.
»Na, wirst schon schwach?«, rief Chris frech.
»Pff, ich doch nicht!« Nathan wandte kurz den Kopf, und ein entschlossener Ausdruck lag in seinen Augen. Wenn er eines nicht wollte, dann war es verlieren.
Die Hufe der Pferde donnerten über die Prärie. Erbarmungslos ließ die Hitze sowohl Mensch als auch Tier den Schweiß über den Körper strömen. Sie hatten nicht mehr weit.
»Go, go, go!«, feuerte Chris seinen Hengst an, der sich einer letzten Anstrengung hingab und um eine ganze Pferdelänge vor Nathans Stute in den Hof der Ranch galoppierte und dort prustend und schnaufend zum Stehen kam.
»Yeah, ich hab gewonnen! Nathan, -« Ihm blieben die Worte im Hals stecken, als er den Cowboy sah, der auf die Veranda des Haupthauses trat.
Der Mann – die Jungen nannten ihn Mr. Evil – blickte grimmig drein. Seine gerunzelte Stirn verbarg ein schwarzer Stetson, und um seinen Hals hing eine silberne Kette, in deren Metall sich das Sonnenlicht brach. Aber Chris fürchtete nicht das vor Hass strotzende Mannsbild, sondern das scharlachrote Tuch, welches der Cowboy in der Hand hielt. Das war kein gutes Zeichen.
»Wo ist sie?«, knurrte Mr. Evil, und Chris‘ Herz fing an zu rasen.
»Bei uns nicht!«, erwiderte Nathan frech. Mr. Evil kniff drohend die Augen zusammen.
»Sucht sie! Sie soll zu mir kommen!« Die Stimme des Cowboys klang drohend. Dann drehte er sich um und stapfte mit schweren Schritten ins Wohngebäude zurück, wobei ihm das Tuch, in dem Versuch, es in die hintere Hosentasche zu stopfen, herunterfiel. Flink und leise huschte Chris auf die Veranda und nahm es an sich.
»Was machst du da?«, zischte Nathan angstvoll, doch da war Chris schon wieder bei ihm, nahm seinen Hengst am Zügel und machte sich auf den Weg zum Stall. Sein Freund folgte ihm. Nachdem sie die Pferde versorgt hatten, verzogen sie sich auf den Heuboden und beratschlagten, was sie tun sollten.
»Wir müssen hier weg!«, drängte Nathan.
»Und wohin? Wir können nicht gehen! Mein Dad holt uns hier raus!« Chris spürte den Schlag kommen und verharrte reglos.
»Idiot! Wie naiv bist du, Chris? Dein Dad hat sein Leben längst versoffen, der wird gar nichts machen!«
Er hatte ja recht. Nathan sah die Dinge realistisch, ganz anders als sein Freund. Chris, der Träumer.
Der Junge knautschte das scharlachrote Tuch in seinen Händen und dachte daran, welches Leid seine Schwester hinter der Dunkelheit des roten Stoffes erfahren musste. Nein, es war Zeit, abzuhauen!
Chris stand auf und klopfte sich das Heu von den Knien. Fest blickte er Nathan an.
»Komm, suchen wir Leslie und verschwinden!«
»Das will ich hören, großer Bruder! Also gut, hör zu, wir machen Folgendes ...«