Beitrag zum 29.09.2019
Thema: »Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn ...«
ZOÈ
Die Tasse ist warm, der Kaffee brühend heiß. Draußen weht ein kalter Wind, und ich bin froh um die flauschige Decke, in die ich mich gekuschelt habe. Bunte Blätter lösen sich von den Ästen des Kastanienbaums und veranstalten ein Wettfliegen zum Boden. Ein schöner Herbsttag. Ich stelle die Tasse vorsichtig auf den kleinen Tisch und greife in die Gesäßtasche meiner Jeans. Dort befindet sich der Brief, den ich gleich in den Himmel schicken werde. Es ist ein Brief an meinen ältesten Sohn, der viel zu früh gehen musste. Und dem ich nicht das gegeben habe, was er so sehr gebraucht hätte: die bedingungslose Liebe einer Mutter und deren Halt in den schwierigen Zeiten, die er durchmachen musste.
Lieber David,
es ist mittlerweile sieben Jahre her, dass du dich entschieden hast, diese Welt, die so unbarmherzig zu dir war, zu verlassen. Ich wünschte, ich könnte all die Fehler, die ich gemacht habe, wieder rückgängig machen. Ich wünschte, ich wäre dir eine bessere Mum gewesen, so, wie ich es den Zwillingen bin.
Ich habe bei dir versagt. Die Zeichen waren eindeutig, aber ich habe nicht auf sie geachtet. Du hast alleine gegen deine Dämonen gekämpft und verloren. Denk nicht, dass ich nicht all die Nächte wach gelegen bin und dich schluchzen gehört habe. Am nächsten Tag hast du auf meine Frage, wie es dir ginge, geantwortet mit: »Alles ist gut.« Der Satz, den deine kleinen Brüder dir jeden Tag, wenn du aus dem Haus gegangen bist, hinterher gerufen haben. Alles ist gut.
Nichts war gut. Ich habe mich lieber mit dieser Lüge zufrieden gegeben, als die Augen aufzumachen und der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Was bin ich für eine Rabenmutter! Ich habe so viel für die Zwillinge getan, aber nicht für dich. Ich habe dich im Stich gelassen.
Wenn man einsam in einer dunklen Zelle sitzt, hat man viel Zeit zum Nachdenken. Diese Zeit habe ich genutzt. Um meine Sichtweisen zu ändern. Um nachvollziehen zu können, wie es dir in deiner Gefängniszelle, in die du von den Leuten deiner Schule und dem Rest der Gesellschaft, für die Homosexualität gleichbedeutend wie die Pest ist, gesteckt wurdest, ergangen ist. Und glaube mir, ich habe Zugang gefunden. Dein ganzes Leid war vor mir ausgebreitet, wie eine Zeitung. Ich habe es gelesen.
David, wenn ich eines in meiner Haft gelernt habe, dann dies: Es gibt Menschen, die so verzweifelt sind, dass sie Dinge tun, die man nicht tun sollte, um ihrem Leben zu entfliehen. Weil sie es nicht mehr ertragen können, in ihrer kleinen dunklen Zelle zu sitzen. Sie wollen frei sein. Aber die Meisten landen dann, so wie ich, im Gefängnis. Oder, so wie du, an einem anderen Ort.
Ich möchte dir damit sagen, dass ich dich verstehe. Du hast so viel gelitten, und ich wollte nicht sehen, was sie dir antun, Tag für Tag.
Nachdem du von uns gegangen bist, habe ich versucht, das, was ich bei dir versäumt habe, bei den Zwillingen nachzuholen. Es hat nicht geklappt. Chad sagt, ich bin eine gute Mum, doch ich finde das nicht. Joshua und er waren auf sich allein gestellt, fast zwei Jahre lang. Ich weiß genau, was du jetzt sagen würdest: Du würdest grinsen und sagen: »Mum, die sind alt genug! Hör auf, dir so viele Sorgen zu machen! Sie passen aufeinander auf, du kennst sie doch!«
Ja, ich kenne meine beiden jüngeren Söhne. Ich wünschte nur, dass ich dich auch genauso gekannt hätte.
Eins kann ich mit Sicherheit sagen: Ich habe dich genauso geliebt, wie Joshua und Chad. Nicht mehr und nicht weniger.
Und ich liebe dich auch jetzt noch. Deswegen weiß ich, dass du mir verzeihen wirst. Dass ich so eine schlechte Mutter war.
Ich habe dich lieb, mein kleiner Kobold.
Deine Mum
Ich blase den Luftballon auf, binde eine Schnur daran und befestige den Brief. Dann lasse ich los. Der Wind ergreift das neue Spielzeug und trägt es davon, hinauf in den schönen, hellblauen Himmel. Ich sehe dem Ballon nach. Salzige Tropfen der Erinnerung hüllen mich ein, wie die Decke um meine Beine. Wenn es stimmt, dass die Liebe einer Mutter zu einem Kind so weit reicht, bis zum Mond und zurück, dann reicht sie auch zu jenem Reich, das den Toten gehört. Denn wenn der Mond für Astronauten nah genug ist, dann wird dieses Totenreich für die Nachrichten von trauernden Angehörigen nah genug sein, um diese zu empfangen.
Ich trinke meinen mittlerweile lauwarmen Kaffee aus und gehe hinein in die warme, gemütliche Stube, den kalten Erinnerungen den Rücken kehrend. Nach draußen in den kalten Winden verbannt.