Beitrag zum 23.03.2022
Thema: In der Falle
Einst lebte ein Mädchen beim Volk der Changer. Die Menschen dort nannten es Spiegelmädchen, weil sein liebster Zeitvertreib das Ansehen seines Spiegelbildes in Flüssen war. Das Spiegelmädchen konnte stundenlang in stille Gewässer sehen und sich vorstellen, eine Andere zu sein. Vielleicht eine Königin, aber ich glaube eher, es wäre gern eine kriegerische Elfe oder eine Rhojn gewesen. Denn wenn es einen Unterschied zu den anderen Kindern vom Volk der Changer gab, dann dieser: Das Spiegelmädchen war furchtlos. Es hatte keine Angst vor den großen Jungen, die es ärgerten und nicht mitspielen ließen, und auch später wusste es sich ihrer Zudringlichkeiten zu erwehren.
Aber für jedes Mädchen, es sei denn, es schloss sich einer Gruppe Flüchtlinge an, kam der Tag, an dem es auf dem Uhpy Vold geopfert werden sollte. So auch für das Spiegelmädchen.
An jenem Tag, bevor die Erwachsenen es holten, badete das Spiegelmädchen im Fluss Aqur, der das Reich der Changer umgab. Der Fluss hatte unterschiedliche Temperaturen, und wenn ihr jemanden fragt, ob derjenige dort freiwillig baden gehen würde, so würde er den Kopf schütteln und euch für verrückt erklären. Denn die Temperaturen des Flusses reichten von Eis bis zu siedend heißen Quellen. Niemand war den Aqur jemals ganz entlang geschwommen. Außer das Spiegelmädchen.
Es war am Ende seiner Kräfte, als es den Fluten entstieg. Die Erwachsenen fanden es und nahmen es trotzdem mit, denn auch wenn sein Mut sie beeindruckte, so konnte es doch nicht seinem Schicksal entrinnen.
Ich erspare euch die Details, was mit dem Spiegelmädchen geschah. Es sei nur so viel gesagt: Vold hatte sich in den Kopf gesetzt, den Willen des Spiegelmädchens zu brechen. Und er schaffte es.
Als er seinen Spaß gehabt hatte, lag das Spiegelmädchen gebrochen da. Halb tot und mit einem Ausdruck tiefer Qual im Gesicht. Die Augen blickten voller Hoffnungslosigkeit drein, aber Tränen kamen noch nicht.
Die einsetzende Kälte brachte Morto mit sich. Ängstlich wandten sich die Menschen ab, zu groß war die Furcht, der Tod könnte einige von ihnen mitnehmen. Wenn man sich jedoch auf einen der Dreimachtgebieter darauf verlassen kann, dass er weiß, wie viel ihm zusteht, dann ist das Morto.
Der Tod wollte nur das Leben des Spiegelmädchens. Als dieses ihn erblickte, weinte es stumm. Diejenigen, die sich noch einmal umwandten, sahen die Tränen. Es waren zwei, glaubt man den Aussagen der Changer. Zwei Tränen. Eine aus Eis und eine aus Blut. Sie liefen dem Spiegelmädchen über die Wangen und fielen in Mortos Hand, die er ihm hinhielt. Das Spiegelmädchen ergriff diese und sah dem Tod in die Augen. Morto war von der Hoffnungslosigkeit so hingerissen, dass er sich zuerst nicht regte. Es war das Spiegelmädchen, das den ersten Schritt tat. Und so begann er: Der Tanz mit dem Tod. Durch diese List bekam Morto die Seele des Spiegelmädchens zwar nicht, trotzdem konnte er es nicht gehen lassen. Die Welt der Lebenden hatte es verstoßen, und es verspürte auch nicht den Wunsch, je wieder dorthin zurückzukehren.
So wurde dem Spiegelmädchen als erstem sterblichen Wesen ein Platz im Iblyssum zugewiesen. Es fand bald heraus, dass es seit dem Bad im Aqur Macht über das Wasser hatte, und damit begann sein Weg als Wasserbändigerin. Schon nach kurzer Zeit war seine Macht so stark, dass es in der Lage war, etwas Besonderes zu erschaffen: Spiegel.
Was es mit den Spiegeln auf sich hat, ist eine andere Geschichte, aber eins muss noch erzählt werden: Seinen Rufnamen legte das Spiegelmädchen ab, denn er bestand aus Kindheitsträumen, alten Erinnerungen und Wunschvorstellungen, die sich nie erfüllt hatten. Es gab sich einen neuen Namen, einen, der die Kraft wiederspiegelte, die ihm geholfen hatte, den Tod zu überlisten. Diese Kraft war die Hoffnungslosigkeit in Gestalt zweier Tränen, eine aus Eis, die andere aus Blut.
Von da an trug das Spiegelmädchen den Namen BLUTFROSTMAGD.