Beitrag zum 15.01.2020
Thema: »Besuch aus der Vergangenheit«
NICO
Als Hacker und Computerfreak beschäftige ich mich viel mit Technik und Informatik, auch dahingehend, welche Neuerungen es gibt und wie die Weiterentwicklung vonstatten geht. Kurz gesagt: Ich schaue, was die Zukunft bringt. Robotik, künstliche Intelligenz, all diese Dinge faszinieren mich. Das, was noch kommen wird. Ich lebe praktisch in zukunftsweisenden Zahlen und gehe imaginäre unebene, noch nicht vorhandene Wege. Dort, wo die Vergangenheit nichts verloren hat. Eigentlich.
Vergangenheit ist so ein Ding. Etwas Schattenhaftes, das einem das ganze Leben lang begleitet, und das man nicht los wird. Irgendwann, früher oder später, steht sie vor einem. Genau das ist bei mir der Fall: Ich bin gerade aus dem Elektromarkt rausgegangen und sehe nun jemanden aus einem Auto steigen.
Ein Mann, groß und hager, Halbglatze. Die eckige Brille auf seiner Nase lässt ihn klug erscheinen, und das mag er in mancher Hinsicht sein, aber von Kindererziehung und Frauen versteht er absolut nichts. Ich weiß, wovon ich rede. Dieser Wichser, der gerade auf mich zu marschiert, ist mein Stiefvater.
Mein Herzschlag geht so schnell wie ich brauche, um die Firewall eines PC’s zu durchbrechen. Also im Millisekundentakt, gefühlt. Langsam weiche ich zurück, hinter ein aufgestelltes Werbeschild. Er kommt näher. Ich halte den Atem an.
Bitte, nicht stehenbleiben! Geh weiter! Bleib nicht stehen!, flehe ich gedanklich. Mein Wunsch wird erhört. Ich sehe, wie sich die gläsernen Schiebetüren öffnen. Nach 5 Sekunden hält mich nichts mehr. Die Panik weitet sich aus, so schnell wie ein angefachtes Feuer. Unauslöschlich.
»Nico?« Als seine Stimme hinter mir ertönt, erstarren sämtliche Extremitäten von mir. Obwohl ich nur rennen will, ganz schnell, ganz weit weg, bin ich nicht in der Lage, mich zu bewegen.
Er umrundet mich, sieht mir in die Augen. Seine Miene ist überrascht und er wirkt erfreut, entweder, weil er meine Angst bemerkt, oder, weil er mich nach all den Jahren mal wieder trifft.
»Schön, dich zu sehen!« Nein, daran ist gar nichts schön. Das ist die Hölle!
»Unser Telefonat vor einiger Zeit lief ja nicht so gut …« Ja, warum wohl? Ich war damals genauso starr vor Angst gewesen, nur war mir schnell bewusst geworden, dass er mir von der anderen Seite des Hörers aus nichts tun konnte. Jetzt ist das nicht der Fall. Er steht hier, vor mir! Und er ist zu allem fähig.
»… die Hoffnung, dich zu sehen und mit dir zu reden.« Er hebt die Hand, und instinktiv zucke ich zusammen.
Mein Puls jagt mittlerweile so schnell, dass ich kaum Luft bekomme. Ein Rauschen tönt in meinen Ohren.
»Lassen Sie das sein!«, brüllt eine zornige Mädchenstimme.
Vor mein Blickfeld schiebt sich eine rotbraune Haarmähne. Ein Arm schlingt sich um meine Schultern. Keine Ahnung, wer das ist, aber diese Person steht in Flammen. Im übertragenen Sinn.
Nervöses Auflachen seitens meines Stiefvaters.
»He, kein Grund, so wütend zu sein. Bist du Nicos Freundin? Freut mich, ich bin sein Stiefvater und –«
»Sie hören mir jetzt mal genau zu!«, faucht das Mädchen, und nun weiß ich, wer das ist. Annika, Joshuas Taekwondo-Schülerin.
»Nico hat einen wunderbaren Vater, der immer für ihn da ist. Sie dagegen sind ein Fremder. Sie haben mit Nico nichts zu schaffen. Er ist nicht Ihr Sohn, verstanden? Also halten Sie sich verdammt nochmal von ihm fern! Verschwinden Sie!«
Er blinzelt, hebt eine Hand – und greift nach Annika. Dann geht alles ganz schnell. Ich werde losgelassen, weggestoßen. Ein Aufjaulen ertönt, ein Schrei.
»GEHEN SIE WEG!«
Meine Augen erfassen meinen Stiefvater, der auf die Knie gesunken ist, das Gesicht schmerzverzerrt, die Hände vor dem Schritt haltend. Annika, die wie die hinduistische Göttin Durga dasteht, die Fäuste erhoben, der Blick hasserfüllt. Hier geht es nicht um meinen Stiefvater, zumindest nicht für sie. Joshua hat mir ihre Geschichte nicht erzählt, aber ich weiß von der Gerichtsverhandlung mit ihrem Onkel. Da war es nicht schwer, sich alles zusammenzureimen. Außerdem ist mein Dad Polizist, und ich habe seine schnelle Auffassungsgabe und seinen logischen Verstand geerbt.
Stöhnend kommt er wieder auf die Füße. Sein verletzter Blick trifft mich. Er bittet mich um Verzeihung. Aber er hat mir und auch meiner Mama so viel Leid zugefügt. Ich hasse ihn.
Annika nimmt meine Hand und führt mich weg von diesem beschissenen Besuch aus der Vergangenheit. Zurück in die Gegenwart.
»Alles in Ordnung. Du bist sicher, Nico.« Sie streicht mir sanft über den Rücken. Das Eis taut. Ich zittere am ganzen Leib. Tränen treten mir in die Augen, rinnen über meine Wangen. Mein Kopf brummt, mir ist schlecht. Eine Hand fährt mir liebevoll durch die Haare.
»Nico, wir bringen dich heim«, sagt eine wohlbekannte Stimme. Als ich den Kopf drehe, sehe ich Toby, der sich zu mir beugt.
»Ich habe deinen Dad auf dem Revier angerufen. Er kommt sofort nach Hause.«
Stumm sehe ich ihn an. Erleichterung breitet sich in mir aus. Wenn Papa da ist, passiert mir nichts.
Annika drückt mich kurz und fest. Sie lächelt aufmunternd. Nimmt meine Hand, zieht mich hoch. Toby klopft mir auf die Schulter, lässt seine Hand dann dort liegen und schiebt mich voran.
»Du bist nicht allein. Es wird alles gut.«
Ich glaube ihm. Schnell wische ich die Tränen weg und gehe mit ihnen. Nach Hause.