Beitrag zum 06.11.2019
Thema: »Elixier«
Yorkshire, 23. April 2010
David konnte beim besten Willen nicht sagen, was ihn geweckt hatte. War es die lähmende Angst, die er seit einem Jahr jeden Morgen empfand, sobald er daran dachte, in die Schule zu müssen? Nein, das konnte nicht sein, weil es erstens kurz nach 1 Uhr nachts war, und zweitens hörte er das Quietschen der Küchentür. Vermutlich holte sich einer der Zwillinge etwas zu trinken. Oder – Chad hatte einen Anfall und geisterte jetzt orientierungslos im Haus umher!
Rasch sprang David auf und hastete so leise wie möglich hinunter. In der Küche war es dunkel. Ein kleiner Schatten saß auf der Anrichte und sah durch das Fenster hinaus in die wolkenverhangene Nacht. Regentropfen klatschten gegen die Scheibe und rannen in kleinen Sturzbächen nach unten.
»Hey, was machst du denn hier?«, fragte David, und die Gestalt fuhr erschrocken herum.
»Holla, erschreck mich doch nicht so!«, rief sein kleiner Bruder aus und hielt sich dann den Kopf. Da wusste David, dass es Chad war.
»Kannst du nicht schlafen? Oder stimmt etwas nicht?« Er ging zu dem Jüngeren, der schwieg und ihn nur ansah. Etwas Glitzerndes wurde auf seiner Wange sichtbar. Entsetzt erkannte David, dass Chad weinte.
»Ohje, was ist denn los? Sch-sch, nicht weinen! Ich bin ja da.« Der junge Mann setzte sich neben Chad und zog ihn liebevoll an sich, um ihm Trost zu spenden und Halt zu geben.
»I-ich ...«, begann der Junge und wimmerte leise. David drückte ihn fest an sich und fuhr mit der Hand über den Rücken. Chad beruhigte sich etwas.
»Ich will nicht mehr! Dieser ganze Mist kotzt mich an! Die Medikamente helfen nichts, und ich hab keinen Bock mehr auf die EEG’s und diese ständigen Untersuchungen, und – und ... Ich ...« Ein erneuter Weinkrampf schüttelte ihn und verhinderte jegliches Weitersprechen.
David hielt seinen Bruder und wartete, bis wieder Ruhe einkehrte.
Schweigend saßen sie so da, bis er auf einmal die Flasche erblickte. Erst jetzt nahm er die Alkoholfahne, die von Chad ausging, als dieser gähnte, wahr.
»Du hast nicht ernsthaft getrunken, oder?«, zischte David fassungslos und rückte von ihm ab.
Chad sah ihn nur traurig an und griff nach der Flasche.
»Ich habe nur mein Elixier genommen, um meinen inneren Dämon ruhig zu stellen. Vielleicht solltest du auch dein eigenes Lebenselixier trinken, um deine Dämonen zu bändigen. Die ziehen dich nämlich an den Rand des Abgrunds. Und willst du wissen, was ich denke? Dass es nicht mehr lange dauert, bis du reinspringst.«
Der Junge lächelte seinem großen Bruder zu. David erschauderte. Das Lächeln war so falsch, wie die Flasche in der Hand des Fünfzehnjährigen.
»Chad ...«, fing er an, doch der Angesprochene unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
»Cheers, großer Bruder. Ich trinke auf dich. Darauf, dass noch nicht gesprungen bist.«
Diese Worte übertönten das Klatschen der Regentropfen. Es klang lauter, als jeder Donner, und schlug heftiger als jeder Blitz in das Herz eines jungen Mannes, dessen Angst vor dem Leben größer war, als vor dem Tod.