Beitrag zum 04.10.2020
Thema: »Schattentanz«
Kilian atmete ruhig. Ich aber konnte nicht einschlafen. Zu groß war meine Angst vor den Albträumen. Bisher hatte ich noch keinen, doch ich wusste, dass ich mich nicht ewig vor ihnen verstecken konnte. Sie würden kommen, spätestens dann, wenn ich wieder zuhause schlief.
Ich war so müde.
Die dritte Nacht, seit dem schrecklichen Unfall. Die dritte Nacht, die ich wach dalag. Die dritte Nacht bei Kilian. Und trotzdem hatte ich entsetzliche Angst davor, einzuschlafen und mich Auge in Auge mit Riaghor und seinen Albträumen gegenüber zu sehen.
Allein schon der Gedanke ließ mich wimmern. Die Tränen kamen wie von selbst. Simon, warum? Diese blöde Eisplatte! Der Abhang, der Rutsch, nein Fall, zwischen den Bäumen hindurch. Der kleine Körper, für den der Aufprall zu viel war.
Ein ersticktes Schluchzen kam aus meinem Mund. Im selben Moment ging neben mir die Nachttischlampe an.
»Anouk.« Kilians Stimme klang rau. Ich krallte die Finger in das Plüsch von Simons Kuscheltier. Ein kleiner Panther, schwarz wie die Schatten. Wie der Schattentänzer.
Mein Halbbruder legte mir die Hand auf den Rücken und fuhr in sachten Kreisen darüber.
»Du musst mal schlafen, Anouk«, flüsterte Kilian leise.
»I-ich … k-kann nicht!«, schluchzte ich. »Ich habe Angst vor ihnen!«
Kilian nahm die Hand weg, packte plötzlich meinen Arm und zog mich mit einem Ruck nach oben, sodass ich saß. Bevor ich ihn anfauchen konnte, hatte er mich schon in eine feste Umarmung gezogen.
»Sie werden dir nichts tun. Nicht, solange ich auf dich aufpasse.« Der Pakt. Jetzt fiel es mir wieder ein. Drachen und Wölfe, zwischen denen ewige Freundschaft herrschte, zumindest im Reich der Träume. Beides Geschöpfe Riaghors.
Nicht wir. Nicht Kilian und ich. Wir sind die Verbündeten Adargoths und die Familie des Schattentänzers. Simon.
Kilian legte das Kinn auf meinen Kopf und strich mir wie zuvor wieder über den Rücken.
Ich war in Sicherheit. Müde schloss ich die Augen, als ein Finger mich sanft in die Rippen stieß.
»Schau mal.« Mein Halbbruder nickte zur gegenüberliegenden Zimmerseite, auf der sein Bett stand. Im Licht der Nachttischlampe waren die Schatten der Gegenstände in Kilians Zimmer zu sehen: Bücher, der Computer, zahlreicher Krimskrams. Aber die Schatten, die sich im Licht bewegten, gehörten zu keinem der Dinge.
Ein Drache, dessen Flügel sich über einen heulenden Wolf ausbreiteten. Daneben ein Junge mit langen Haaren, der tanzte.
Simon. Er war hier.