Beitrag zum 29.12.2019
Thema: »Tabula Rasa«
Das Licht der Sonne ließ das Wasser des Mermaiden Reefs wie Diamanten funkeln. Fanola warf einen Blick darauf, bis das Kopfsummen einsetzte. Dann zog er sein grünes Gewand aus und krempelte die braunen Hosenbeine nach oben. Das Wasser war eiskalt, schließlich hielt der Winter Belletristica immer noch fest. Allerdings schneite es nicht mehr. Fanola hoffte, dass den Meerjungfrauen die Kälte nichts ausmachte.
Langsam tauchte er unter und ließ sich dann von den kleinen Wellen auf dem Rücken treiben. Der Elfenjunge schloss die Augen, dachte an nichts und wartete. Schon bald spürte er schmale Hände auf seinen Armen, die ihn nach unten zogen. Im letzten Moment holte Fanola nochmal tief Luft, und eine Sekunde später schlug das Wasser über ihm zusammen.
Haare streiften seinen bloßen Oberkörper, an sein Ohr drang leises Lachen. Je tiefer sie tauchten, desto mehr nahm der Druck auf Fanolas Ohren zu und desto gedämpfter hörte er die Außengeräusche. Allmählich wurde auch die Luft in seinen Lungen knapp. Doch bisher hatte er die Meerjungfrauen immer lebend verlassen. Da – sie schwammen wieder nach oben! Zwei Sekunden später fand Fanola sich in einer Grotte wieder. Er stieg aus dem Wasser und setzte sich im Lotussitz auf den grasgrünen Flecken. Um ihn herum schimmerte der Stein in unterschiedlichen Farben.
Fanola hatte keinen Blick für die unbeschreibliche Schönheit der Meerjungfrauengrotte. Er atmete langsam aus und wieder ein. Verschloss seinen Geist vor äußerlichen Eindrücken. Kramte eine Erinnerung hervor und versank darin.
Die Taverne kam Fanola voller vor, als sonst. Er befand sich an seinem Lieblingsplatz, einem Balken über den Kamin, wo er nicht so leicht entdeckt werden konnte und von wo aus er das Treiben unter sich in Ruhe beobachtete. Fano sah Maria, die auf der Fensterbank saß und ein kleines Kätzchen auf ihrem Arm hielt und es streichelte. Ihm wurde warm, als er Maria musterte. Ein Gefühl von Zuneigung flackerte in seinem Herzen auf. Diese kleine Flamme wurde allerdings sehr schnell durch eine dunkle Wolke der Furcht verdrängt, denn in dem Moment kam Mørliga herein. Sein dunkler Bruder, den er unwissentlich aus dem Spiegellabyrinth freigelassen hatte. Die Darkest Days, welche gerade herrschten, boten dem schwarzen Elfen Gelegenheit, seine Kräfte, die in den hellen Tagen und seit dem Kampf zwischen Fano und ihm stetig schwanden, wieder aufzufüllen.
Fanola spannte sämtliche Muskeln an und verfolgte Mørli mit Argusaugen. Der Dunkle ging geradewegs auf Maria zu und deutete auf das Kätzchen, welches seine nadelspitzen Krallen voller Angst in Marias Arm gegraben hatte und sich schutzsuchend an sie schmiegte.
Marias Blick wurde misstrauisch und sie drehte sich so, dass das Kätzchen vor Mørliga abgeschirmt war. Doch der schwarze Elfenjunge packte ihre Schulter und streckte die andere Hand nach dem Tier aus. Fano konnte den Ausdruck von Überraschung und Anwidern auf Marias Gesicht sehen. Mør riss das Kätzchen, das einen kreischenden Angstschrei ausstieß, stürmisch an sich und machte zu Fanos Entsetzen Anstalten, das Fenster zu öffnen! Jetzt reichte es!
„Lass das!“, brüllte Fanola, nachdem er sich vom Balken runtergeschwungen und einige Schritte auf Mørliga zugegangen war.
Sein schwarzer Bruder blickte ihn grinsend an.
„Ah, willst du mich etwa herausfordern? Ausgerechnet jetzt? Warte lieber noch ein wenig, weißer Bruder!“, meinte er spöttisch. „Wir wollen doch nicht, dass der Kampf nur Sekunden dauert. Ich möchte einen ebenbürtigen Gegner!“
Fanola ballte die Fäuste und spürte, wie die Magie in seine Hände floss.
„Fano, bitte nicht!“, erklang da Marias ruhige Stimme.
Der Elf blickte sie an und streckte die Handflächen nach oben.
„Gib mir das Kätzchen, du Bastard!“, knurrte er an Mørli gewandt. Gehorsam ließ der Schwarze das Tier in Fanos Hände plumpsen. Dann beugte er den Kopf zu Maria und öffnete den Mund, doch ehe er ein Wort hervorbringen konnte, wurde er durch die Luft gewirbelt und landete mit einem Purzelbaum hart auf dem Boden.
Fanola reckte die Fäuste; das Kätzchen hatte sich zu Maria geflüchtet.
„Verschwinde endlich!“, schrie Fanola Mørliga an, der sich aufrappelte und glücklicherweise seiner Aufforderung Folge leistete: Nach einer Runde zornigen Herumfegens, bei der zahlreiche Stühle umhergeworfen und einige der Gäste umgestoßen wurden, verzog sich Mør fauchend.
„Danke, Fanola!“ Maria lächelte den Elf an, und Fano spürte erneut dieses kleine Flämmchen Zuneigung in seinem Herzen, welches schnell heranwuchs.
Es vertrieb für kurze Zeit die Sorgen und Gedanken daran, dass Mørli in ein paar Tagen wieder in das Spiegellabyrinth verbannt werden musste. Freiwillig würde er nicht gehen. In Belletristica gab es genug Orte, an denen Dunkelheit herrschte und wo er sich sehr wohlfühlen würde. Aber niemand wollte ihn hier haben.
In der letzten Rauhnacht, eine Stunde nach Morgengrauen, wenn die Sonne zwar ihre ersten Strahlen leuchten ließ, sich aber noch nicht zeigte, würde Fanola mit Mørli einen Kampf austragen müssen.
Aus diesem Grund war es wichtig, sich vorzubereiten. Er musste Tabula rasa machen, sich also von allem Alten befreien und seine Seele leer und aufnahmebereit machen. Hier, am Meermaiden Reef, wollte er dies mit einer Tiefenmeditation tun. Das war das Hilfreichste. Ein klarer Kopf hatte bessere Chancen, einen Kampf zu gewinnen.