Beitrag zum 12.08.2020
Thema: »Probelauf«
Das Brüllen eines Löwen! Zhyan erkannte eine steinerne Gestalt. Thaasinh! Der Wächter des Königreichs der Farben sprang auf Jiin zu und brüllte noch einmal. Der Wolf wurde von Jari abgelenkt. Knurrend fuhr er herum, doch als er Thaasinh erkannte, winselte er, legte sich auf den Bauch und legte demütig die Flügel an. Die anderen Himnadhyi folgten seinem Beispiel.
Zhyan sah zu seinem Schüler und wusste, er konnte nichts mehr tun. Die Flammen, welche zuvor aus den Fäusten des Jungen geschossen waren, wirbelten um ihn herum, wollten spielen. Fordernd umkreisten sie Jari. Noch hatten sie nicht ihre glutheiße Temperatur erreicht. Als das Orange freigesetzt wurde, wuchs das Feuer. Zhyan hielt die Luft an. Würde es Jari gelingen, sein Nabelchakra zu öffnen und das Gelb zu entfesseln? Beim vorherigen Probelauf hatte es ja nicht geklappt.
Die Flammen schienen heller und heller, wurden größer und größer. Auch die Hitze nahm zu. Die Himnadhyi knurrten, aber es klang verängstigt. Zwei der Schneeschwanwölfe ergriffen panisch die Flucht. Der Rest folgte, als das Feuer schließlich einen Ring bildete, der sich rasch ausbreitete. Jiin heulte; das Heulen eines Wolfes, der verloren hatte.
Dann verschwand auch er. Zhyan stand auf und trat zu seinem Schüler.
Das strahlend gelbe Licht blendete ihn nicht. Und auch die Flammen verbrannten seine Haut nicht, sondern wichen beiseite, als er durch sie hindurch ging.
»Das hast du sehr, sehr gut gemacht! Ich bin stolz auf dich. Komm, lass uns zurück nach Bainghar kehren.« Zhyan legte die Hände auf Jaris Schultern. Kaum hatte er die Worte zu Ende gesprochen, erlosch das Feuer, und Jari sackte zusammen.
Er krümmte sich, und Zhyan sah, dass durch das Hemd Blut sickerte. Offenbar waren die Wunden wieder aufgegangen.
»Kannst du ein paar Schritte gehen?«, fragte der Lehrmeister besorgt. »Bis zu Thaasinh? Er bringt uns weg von hier.«
Jari nickte, doch Zhyan musste ihn stützen. Er war zu schwach auf den Beinen. Der Farblichtkrieger half ihm, sich auf den steinernen Löwen zu setzen, schwang sich hintenauf und Thaasinh rannte los.
* * *
Jari fühlte sich erschöpft. Sein Kopf tat weh, und ihm fielen die Augen zu. In seiner Brust tobte allerdings eine Ruhe, die er noch nie zuvor verspürt hatte. Sie hatte die Angst und die Dunkelheit verdrängt. Jetzt leuchtete sein Inneres wie die Sonne.
Jari wandte den Kopf und begegnete Zhyans Lächeln.
»Das fühlt sich großartig an!«, sagte er, die Stimme heiser vor Erschöpfung.
Zhyan schmunzelte.
»Wir sind bald da.« Vor ihnen tauchten die lilafarbenen Dächer von Bainghar auf. Wenig später standen sie vor dem Palast Tonash’s. Zhyan half Jari von Thaasinhs Rücken. Der steinerne Löwe trat auf die Mauer zu – und war im Sekundenbruchteil verschwunden!
Mittlerweile wusste Jari, dass die Löwen oft in der Mauer umherliefen und sie so bewachten. Normalerweise standen beziehungsweise saßen Thaasinh und Rheesinh auf zwei Sockeln.
Zhyan atmete tief durch.
»Tja, dann lass uns mal hoffen, dass mein Vater sich keine allzu schwere Gegenleistung für seinen Dienst wünscht«, murmelte er und schob Jari sanft durch die Pforte und auf den Palast zu.
Jari war dem König über Karangjia noch nie begegnet. Er hatte aber schon viel von ihm gehört. Leider war das Wenige, was Zhyan über ihn preisgab, nicht sehr schön, sondern eher abschreckend.
Als sie in die große, prunkreiche Halle traten, fiel dem Jungen die Kinnlade herunter.