Beitrag zum 05.01.2020
Thema: »Traumtänzer«
Inspiration: Song "Electrical Storm" von U2 --> beim Lesen unbedingt anhören!!! :-)
JOSHUA
Ronja und ich treffen uns am See, wo wir als Kinder Eislaufen oder Schwimmen gewesen sind. Erinnerungen wallen in mir auf, und ich halte einen Moment im Laufen inne, um sie vor meinem inneren Auge vorüberziehen zu lassen. Dann gehe ich weiter und stelle fest, dass Ronja anscheinend noch nicht da ist. Gerade will ich zum Steg, als sich zwei Hände auf meine Augen legen.
„Lautlos wie eine Katze“, murmele ich und grinse.
„Sagte der Kranich, ehe er davonflog“, erwidert eine sanfte Stimme flüsternd.
Ich drehe mich um und die Hände verschwinden. Vor mir steht meine Kindheitsfreundin, die ich gestern, nach vielen Jahren, wiedergesehen habe. Sofort war die alte Vertrautheit wieder da. Jetzt ist es nicht anders.
Ich umarme Ronja und lasse anschließend einen Arm um ihre Schultern geschlungen. Wie früher schmiegt sie sich an mich und lehnt ihren Kopf an meine Seite. Sie ist gut zwanzig Zentimeter kleiner als ich. Es wundert mich, dass sie meine Augen verdecken konnte. Tief atme ich ein, blicke auf den See und sehe im Geiste uns zwei, als Kinder, schwimmend oder schlitternd, wenn es Winter war.
»Hast du zufällig Badeshorts an?«, fragt Ronja mit einem Mal, sieht mich an und wir müssen beide grinsen.
»Ja, rein zufällig schon. Ich dachte mir nämlich, dass du kleine Wasserratte unbedingt schwimmen willst!« Frech drücke ich sie an mich und kitzle mit den Fingern ihren gebräunten Nacken.
»Du kennst mich eben zu gut.« Lachend befreit Ronja sich und fängt an, ihre Kleidung auszuziehen. Ihr Bikini ist schwarz mit bunten Punkten. Ich streife mein T-Shirt über den Kopf, werfe es achtlos ins Gras und sprinte los.
»Ich bin Erster!«, rufe ich und renne Richtung Steg. Mit einem Hecht springe ich in das kühle Nass, tauche unter und schüttle mir beim Auftauchen das Wasser aus den Haaren.
Ronja krault zielstrebig auf mich zu. Sie spritzt mich nass, was ich mir natürlich nicht gefallen lasse, und schon ist eine heftige Wasserschlacht im Gange.
»Du willst wohl getaucht werden, oder?« Mit einem unheilverkündeten Funkeln in den Augen schwimmt sie zu mir, stemmt sich mit ihren Händen auf meine Schultern und ich lasse mich wie ein Stein nach unten sinken.
Meine Gedanken haben die Gegenwart verlassen. Wieder sind da Erinnerungen. Ein kleines Mädchen, das Angst vor dem Ertrinken hat, weil es mit vier Jahren beim Bootfahren ins Wasser gefallen ist. Ich habe Ronja das Schwimmen beigebracht. Während Chad mit David Karten gespielt hat – mein Zwillingsbruder durfte nicht ins Wasser, wenn wir allein am See waren, Bootfahren war allerdings erlaubt – habe ich Ronja huckepack genommen und bin mir ihr geschwommen. Zuerst im Flachen, wo sie dann allein herumplantschte, mit der Zeit schwammen wir weiter hinaus.
Prustend durchbreche ich die Seeoberfläche; neben mir tritt Ronja Wasser.
»Schaffst du es einmal um die Insel?«, frage ich und nicke mit dem Kopf zu der kleinen Insel, die mitten im See liegt. Schwimmt man einmal drum herum, gleicht das 50 Bahnen im Schwimmerbecken. Für Chad wäre das gar kein Problem, der würde die Strecke zweimal schaffen. Und auch ich würde locker zwei bis drei Runden schwimmen.
»Natürlich! Aber ich schwimme nicht so schnell wie du.« Ronja sieht mich verlegen an, und ich lächle.
»Kein Problem, wir gehen es langsam an, ja? Wenn du nicht mehr kannst, lass dich auf den Rücken treiben, ich ziehe dich dann.«
Wir schwimmen los. Am Himmel ziehen Wolken auf. Ich hoffe, dass kein Gewitter kommt.
Ronja und ich unterhalten uns. Ich erzähle von Deutschland, von Chads Epilepsie, die eine Zeit lang sehr schlimm war, von unseren Freunden, von meiner Zerrissenheit, dem Gefühl, das alles nicht mehr stemmen zu können, der Verantwortung, die mir über den Kopf gewachsen ist, meinen Seppuku-Aktionen, die allesamt gescheitert sind, weil ich einen besten Freund habe, der mich auffängt, und den weltbesten Bruder, der mich vor mir selbst beschützt. Meine Erinnerungen sind wie Wolken, auf die ich springe, wie ich Lust und Laune habe. Ich bin ein Traumtänzer, der in den Wolkenschleiern seiner Erinnerungen den Tanz der Vergangenheit aufführt.
Ich bin nicht allein. Ronja hört sich alles an, einfühlsam gibt sie mir Rückmeldung. Sie lacht, sie hat Tränen in den Augen, sie legt mir die Hand auf die Schulter und zuletzt treiben wir Hand in Hand auf dem Rücken, schauen zu den grauen Wolken, lassen die Worte zu ihnen ziehen.
Wir sind zwei Traumtänzer im Königreich der Erinnerung.