Beitrag zum 20.10.2019
Thema: »Schwarzer Engel«
BLAKE
Normalerweise mag ich Partys überhaupt nicht. Aber meinem Freund Patrick zuliebe gehe ich mit. In der Moorscheune, mitten im National Moors Yorkshire Park, ist schon sehr viel los, als wir ankommen. Patrick lächelt mich ermutigend an, und dann stürzen wir uns in das Getümmel, quetschen uns durch dicht aneinander gedrängte Leiber, und ich bin kurz davor, umzukehren und das Weite zu suchen. Ich hasse zu viele Menschen auf engem Raum!
Genervt drücke ich mich an einem knutschenden Pärchen vorbei – und bleibe wie angewurzelt stehen. Da vorne ist Joshua! Wie groß er geworden ist! Von dem schlaksigen Jungen mit den immer frech funkelnden Augen ist nur noch eine kleine Spur zu erkennen. Jetzt sehe ich einen jungen Mann mit Bart und langen Haaren und Augen, die Erschöpfung anzeigen. Gezeichnet vom Leben.
Mein Herz klopft, als ich näherkomme, bis ich vor ihm stehe. Patrick und er umarmen sich herzlich, dann wendet Josh sich mir zu und streckt mir seine Hand in einer freundschaftlichen Geste hin.
»Hi, ich bin Joshua, Patricks ehemaliger Schüler vom Taekwondo.« Er lächelt mich höflich und offen an, und ich ergreife seine Hand und drücke sie fest.
»Freut mich. Ich bin Blake.« Eigentlich will ich nichts lieber, als ihm um den Hals zu fallen und ganz fest zu umarmen. Aber das darf ich nicht. Verboten.
»Chad ist im Hinterzimmer. Wir spielen mit einigen anderen ein Spiel. Wollt ihr mitmachen?«, fragt Joshua uns, und Patrick nickt und sieht mich an. Auch ich bin einverstanden. Ein Spiel ist wohl das Unverfänglichste, um mit Joshua und Chad ins Gespräch zu kommen.
Im Hinterzimmer sitzen ungefähr zehn Leute, einschließlich die Zwillinge. Chad begrüßt mich zurückhaltend und lächelt schüchtern. Ich setze mich neben ihn, Patrick gesellt sich an meine Seite. Das Spiel geht folgendermaßen: Jemand gibt ein Thema vor, es wird eine Flasche gedreht und zu diesem Thema muss derjenige, auf den der Flaschenhals gerichtet ist, drei Fragen beantworten. Zuerst geht es um Themen wie Angst, Sex, Eltern oder Freunde. Dann jedoch, als der Alkohol herumgeht – Chad trinkt nichts, wie ich erstaunt bemerke – werden die Themen tiefgründiger. Das Nächste ist »Glaube«. Und wie es das Schicksal so will, bleibt die Flaschenöffnung bei mir stehen. Ich darf mir aussuchen, wer die Fragen stellt. So verteile ich sie auf Patrick, Joshua und Chad.
»Was glaubst du, wird nach deinem Tod geschehen?«, fragt Joshua.
»Reinkarnation. Ich glaube, dass die Seelen wie Astronauten sind, die nach dem Tod eines Menschen im All herumfliegen und darauf warten, dass sie einen neuen Körper bekommen. Seelen sind unsterblich. Der Körper muss nicht unbedingt tot sein. Eine Person kann auch im Koma liegen oder bewusstlos sein. Die Seele ist das, was jedes Lebewesen ausmacht. Eine Seele kann viele unterschiedliche Leben gehabt haben. Ich glaube daran, dass wir wiedergeboren werden, auf diese Art und Weise. Allerdings führt man dann ein ganz anderes Leben und kann sich an die früheren meistens gar nicht mehr erinnern. Und dann gibt es noch Fälle, bei denen die Seelen ganz bewusst zu bestimmten Menschen, die sie in einem früheren Leben gehabt haben, zurückkehren, um ihnen bei etwas zu helfen.«
Totenstille. Jeder sieht mich an. Ich aber fixiere Chad. Welche Frage wird er stellen?
»Glaubst du an einen Gott oder eine Göttin oder an mehrere Götter?«
»Ich glaube an Schutzengel. Und zwar sind sie die Seelen von Toten, die sich in einem menschlichen Körper einnisten und dann zu ihren Freunden oder ihrer Familie aus ihrem früheren Leben zurückkehren, um ihnen bei etwas zu helfen. Oder sie zu beschützen.«
Nun ertönen einige Lacher, und ein Typ lässt den Zeigefinger an der Schläfe rotieren.
»Bist wohl gerade erst aus dem Kindergarten gekommen, was? Schutzengel, pff! Meine Güte, wie naiv bist du? Werd mal erwachsen!«, lacht er böse.
»Kann doch jeder glauben, was er will, Mann!«, mischt Joshua sich ein, denn ich ignoriere den Kerl einfach.
»Dem hat das Koma nicht gut getan. Sind wohl ein paar Hirnzellen abgestorben. Naja, wundern würde es mich nicht. In so einem Zustand ist man ja eh schon halbtot. Oder zumindest –« Weiter kommt der Typ nicht, denn Joshua stürzt sich blitzschnell auf ihn, und schon beginnt ein Fight, der nicht gut ausgehen kann.
Chad neben mir springt auf und starrt mit weit aufgerissenen Augen auf das Szenario. Joshuas Gegner hat wohl Erfahrung in Sachen Kampfsport, und das nicht wenig. Josh gelingt es zwar, die Angriffe erfolgreich abzuwehren, aber er selbst kann keinen Treffer landen. Und dann, es muss ja so kommen, wird er von den Füßen gerissen und der Typ wirft sich auf ihn, presst ihm erst einmal sämtliche Luft aus dem Körper und drückt ihm anschließend die Kehle zu.
»JOSHUA!«, kreischt Chad laut und hetzt auf seinen Bruder zu, um ihm zu helfen. Ich jedoch bin schneller. Mit einer raschen Bewegung ziehe ich mein Damastmesser und halte es dem Typen an den Hals.
»Lass ihn sofort los!«, raune ich leise in sein Ohr und drücke ihm die Klinge etwas fester gegen die Haut, als er meiner Aufforderung nicht sofort Folge leistet. Joshua ringt nach Luft und liegt erst einmal eine ganze Zeit so da. Chad kniet sich neben seinen Bruder und spricht leise und beruhigend. Der Typ glotzt sie an und macht einen Schritt auf die beiden zu, doch im selben Moment trete ich ihn in den Weg, hebe meine Klinge und stoße ein leises Knurren aus.
»Rühr einen von den beiden noch einmal an, und ich schwöre dir, ich werde dir einige hübsche Andenken an mich verpassen!« Das wirkt. Augenblicklich verschwindet der Kerl, unsicher und ängstlich ist sein Blick auf mich gerichtet. Chad hilft Joshua hoch und die beiden umarmen sich fest. Spenden sich gegenseitig Trost. Wie in all der Zeit davor auch.
»Da hab ich wohl einen Schutzengel gehabt!«, murmelt Joshua und sieht mich über Chads Schulter hinweg lächelnd an. »Dankeschön, Blake!«
Ich lächle zurück und stecke mein Damastmesser wieder unter meine Jacke.
Tja, kleiner Bruder, wenn du wüsstest, wie verdammt nah an der Wahrheit deine Aussage ist! Nur, dass du keinen blassen Schimmer hast, wer sich in diesem Körper verbirgt.