Beitrag zum 26.02.2023
Thema: Eingraviert
Beim Lesen unbedingt anhören: https://www.youtube.com/watch?v=7TvwInjd_3Q
Die Kirche war voll. Viel zu viele Leute hatten sich eingefunden. Freunde und Klassenkameraden von Simon und mir, Verwandte, die sich jahrelang nicht hatten blicken lassen. Sie waren alle da. Um Abschied zu nehmen.
Ich ging neben Mama den Mittelgang entlang nach vorne. Dort, am Altar, stand hinter einem Strauß Blumen, auf einem kleinen Tisch ein Foto von Simon. Nicht dieses typische Sterbebild von jemandem, der schick gekleidet ist und gestellt in die Kamera lächelt. Nein, auf diesem Bild war Simon unter Wasser zu sehen, frech in die Kamera grinsend. Ich wusste, von wann das Foto stammte: Es war letztes Jahr im Sommer auf Sardinien entstanden. Simon und ich taten nichts anderes als Schwimmen und Tauchen im Meer oder im Pool. Ich hatte eine Kamera, mit der man unter Wasser Fotos machen konnte.
Das Bild stammte von mir.
Ich schluckte.
Erst jetzt wurde mir klar, was ich da sah. Simon wirkte so lebendig in diesem Moment. Mein Cousin, so wie er war. Frech, klug, voller Fantasie und stets hilfsbereit. Immer da, wenn man ihn brauchte.
Mir traten Tränen in die Augen, doch ich riss mich zusammen. Vermutlich war Weinen in so einer Situation, an so einem Ort, ein ungeschriebenes Gesetz, und vielleicht hätte es mir gutgetan, alles rauszulassen, aber nicht vor all diesen Leuten.
»Hey, Anouk!« Jemand zupfte an meiner Jacke und ich drehte mich um. Kilian.
Mein Halbbruder nickte unauffällig zu dem Foto. »Ich hab das Gefühl, als würde er mir jeden Moment eine lange Nase drehen und lachend weglaufen.«
Ich musste grinsen. Ja, das hatte Simon oft gemacht.
Wir setzten uns in eine der vorderen Bänke. Neben mir Mama und Thorsten, die leise miteinander redeten und verstummten, als eine Glocke ertönte und der Trauergottesdienst anfing.
Die Worte des Pfarrers, die Lieder, die um mich herum gesungen wurden; nichts davon drang zu mir. Ich hatte mich völlig ausgeklinkt. In meinen Gedanken tanzte Simon, und unwillkürlich warf ich einen Blick zur Wand links neben mir.
Sie war leer. Natürlich. Warum sollte der Schattentänzer hier sein? Er war in Alingea und ich konnte ihn nur noch in meinen Träumen sehen. Wenn überhaupt.
Etwas berührte mich sanft an der Hand. Kilian beugte den Kopf zu mir. »Was, glaubst du, würde Simon zu all dem hier sagen?«, fragte er leise.
»Er würde es sterbenslangweilig finden«, gab ich zurück. Das hier war keine Beerdigung, die Simon würdig war. Wie mochten solche Zeremonien in Alingea ablaufen? Ob es da auch Grabsteine mit eingravierten Namen und Daten des Verstorbenen gab, womöglich noch mit einem dieser komischen Sprüche? Ich beschloss, Kilian später danach zu fragen. Obwohl, der hatte in Ghaltrom bestimmt andere Dinge erlebt. Nicht so schöne.
Meine Augenlider wurden immer schwerer. Es war so langweilig. Ich schloss die Augen, um in Gedanken mit Simon zu kommunizieren. Zwar funktionierte das nun nicht mehr, aber ich kannte meinen Cousin so gut, dass ich die Antworten mühelos erahnen konnte. Bald schon spürte ich meine Atemzüge ruhiger werden.
Schließlich verkündete die Orgel das Ende des Gottesdienstes. Der Pfarrer und die Ministranten gingen weg vom Altar in den angrenzenden Raum und waren nicht mehr zu sehen. Ich stand auf und wollte schon gehen, als ich merkte, dass sich niemand rührte. Verwirrt setzte ich mich wieder hin.
»Warum bleiben alle sitzen?«, fragte ich Mama, aber sie wusste ebenso wenig wie ich, was hier los war. Auch Kilian zuckte mit den Schultern.
Auf einmal ging das Licht aus, und von draußen schien nur das heute matte Licht der Sonne durch die Buntglasfenster.
Es war schummrig, der Schein der Kerzen leuchtete heller.
Musik ertönte. Ich bekam eine Gänsehaut, denn die Melodie katapultierte mich in eine ferne Erinnerung. Das war der Soundtrack von Bridge to Terabithia. Simon und ich hatten den Film als Kinder oft geguckt. Und jedes Mal, wenn ich allein oder mit ihm zusammen im Wald umher gestreift war, hatte ich diese Melodie im Ohr gehabt.
Ein Schatten huschte aus dem Augenwinkel vorbei. Reflexartig sah ich zur Wand – und unterdrückte einen Aufschrei.
Nein. Nein, das war unmöglich!
Simon hatte wohl beschlossen, seiner Beerdigung beizuwohnen. Der Schattentänzer hüpfte an der Wand und auf den Bänken, den Altar, mal größer, mal kleiner.
»Kneif mich mal!«, flüsterte ich Kilian zu, doch der nahm mich stattdessen in den Arm und brachte seinen Mund ganz nah an mein Ohr.
»Du hast nicht ernsthaft geglaubt, dass er sich das entgehen lässt, oder?« Jetzt war ich noch mehr verwirrt. Kilian hatte gewusst, dass Simon erscheinen würde?
»Später!«, raunte mein Halbbruder mir zu und blickte schmunzelnd dem Schattentänzer hinterher. Simon hüpfte in Richtung Tür. Kurz davor blieb er stehen und … winkte. Er winkte mir zu! Sollte ich ihm folgen? Unsicher ließ ich den Blick zu Kilian schweifen, doch begegnete auf halbem Weg den Augen Tante Minnas, die mir fröhlich zuzwinkerten. Und da gab es für mich kein Halten mehr.
»Anouk! Was machst du denn?«, zischte Mama, doch war ich schon an ihr vorbei und lief mit laut hallenden Schritten den Gang entlang. Vor der Eingangstür stand Yekin. Er lächelte mich an und nickte, bevor er mir die Tür öffnete. Ich stolperte hinaus in grelles Licht, und dann …