Beitrag zum 23.07.2023
Thema: »Erinnerst du dich?«
(Achtung: Fortsetzung in Anlehnung an den Beitrag zum 26.05.24!)
Das Grinsen gefiel Siraf überhaupt nicht. Trotzdem nahm er allen Mut zusammen und sagte: »Ich suche jemanden. Er ist ein Elf, so wie du, und er hat rote Augen und weiße Haare. Kennst du ihn?«
Sein Gegenüber griff wortlos nach dem Buch und schlug es auf. Es schien, als hätte er Sirafs Frage nicht gehört oder nicht verstanden.
Siraf beugte sich weiter vor, um den Blick des Elfen einzufangen, als dieser abrupt den Kopf hob und ihn anstarrte.
»Ich kenne ihn nicht. Aber ich weiß, wen du meinst. Ich muss dir aber leider sagen, dass dieser Elf nur in Geschichten existiert. Genauso wie die Feantìe in ihrer Ballade. Es gibt sie nicht.«
»Da irrst du dich!« Sirafs Stimme wurde lauter. »Die Feantìe wohnen in einer Ruinenstadt, und dort ist auch die Spelunke des Elfen. Der einzige Ort, an dem die Kälte des Dämons für einen Moment nachgelassen hat.«
»Welcher Dämon?« Nun hatte Siraf die volle Aufmerksamkeit des Elfen.
Mit gesenkter Stimme erzählte der wahnsinnige Ritter von dem, was ihm widerfahren war. Der Erddämon, der sich in ihm eingenistet hatte, als er in der Wüste Fashajd fast verdurstet wäre, und ihm die Gier nach Alkohol vermittelt hatte. Seine Streifzüge durch den Runenwald, immer auf der Suche nach einer Taverne, einer Bar, Kneipe, einem Wirtshaus … Das Ende seiner Reise war schließlich die Ruinenstadt gewesen, in der der Elf mit den roten Augen den Dämon ausgetrieben und ihn ins Sanrytarium gebracht hatte.
Noch immer hörte sich diese Geschichte nicht nach seiner eigenen an. Fremde Erinnerungen.
Der Elf ihm gegenüber starrte ihn mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen an. »Dann wurde der Dämon getötet nach seiner Austreibung?«, fragte er und fügte hinzu: »Das zumindest hätte jeder Dämonenbändiger getan. Ich bin auch einer.«
Und plötzlich hörte Siraf in seinem Kopf deutlich die Worte: »Mein weißer Bruder bändigt Dämonen und tötet sie. Ich dagegen lasse die verlorenen Seelen am Leben und bringe ihre Opfer in Sicherheit. Und jetzt sag mir, wer von uns beiden den schlechteren Dienst verrichtet.«
Sirafs Gedanken rasten, während der Elf weitersprach: »… wundert es, dass du noch lebst. Die Exorzismen, die Behandlung, das alles muss doch unglaublich schlimm für dich gewesen sein.« Er warf ihm einen mitleidigen Blick zu, in dem auch Verständnis lag. Verständnis für Siraf. Der wahnsinnige Ritter erkannte dahinter Grauen und eine tief sitzende Angst.
»Ich lebe. So wie du«, sagte Siraf mit fester Stimme. »Aber derjenige, den ich suche, hat mich zu diesem Leben, dass ich jetzt führe, verdammt. Und er hat den Dämon nicht getötet, sondern nur ausgetrieben.«
»Was?« Der Elf schrie auf. Die Kinder am Nachbartisch verstummten, und der langhaarige Mann an der Bar, mit dem Siraf zuvor gesprochen hatte, warf Siraf einen warnenden Blick zu. Seine Hand lag am Heft eines Schwerts, das an seiner Seite hing.
»Also ist es wahr. Es gibt die Feantìe und diesen Elfen. Und du …« Er lächelte. »Du bist der wahnsinnige Ritter.«
Siraf schüttelte den Kopf. Aus den Augenwinkel bemerkte er, dass der Langhaarige sich wieder dem Wirt zuwandte. Auch die Kinder redeten wieder.
»Nenn mich Siraf«, sagte er.
Der Elf grinste, diesmal nicht boshaft. »Sei gegrüßt, Siraf. Ich bin Fanóla.«