Beitrag zum 06.09.2020
Thema: »Am Ende des Sommers«
ANTHONY
Die Sirene habe ich bis in mein Zimmer gehört. Trotz Kopfhörer und lauter Musik. Nach einer halben Stunde hat Dad an die Tür geklopft.
»Zoé hat angerufen. Wir müssen hin«, hat er gesagt, und ich habe nur mit den Schultern gezuckt.
»Mit dir!«, hat er nachdrücklich hinzugefügt. Dieser Ton, bei dem keine Widerworte geduldet sind.
Auf der Fahrt haben sie mir erklärt, was los war. Chad hatte einen Anfall, einen langen, länger als die üblichen drei Minuten. Über fünf Minuten. Im verschlossenen Badezimmer, dessen Tür von Joshua so fest eingetreten wurde, dass sich nun in der Wand ein faustgroßes Loch befindet.
Fast hätte ich gelacht. Aber die ganze Sache ist alles andere als lustig, deswegen habe ich mich beherrschen können. Armer Chad.
Als ich jetzt im Wohnzimmer meiner Verwandten auf dem Sofa sitze, gegenüber von Josh, der wie ein kleines Kind bockig die Arme verschränkt hat und finster dreinblickt, dämmert mir, weshalb sie mich mitgenommen haben.
Ich soll mich um meinen Cousin kümmern. Den ich nicht leiden kann, und der mich umgekehrt genauso sehr hasst.
Na toll! Das kann ja nur beschissen ausgehen! Tatsächlich, Zoé streckt den Kopf rein und sieht ihren Sohn fest an. Diesen Blick kenne ich von Dad.
»Wir fahren jetzt ins Krankenhaus. Anthony bleibt bei dir. Dad habe ich nicht erreichen können, vielleicht versucht ihr es später nochmal. Oder eventuell erreiche ich ihn im Auto. Also, macht keinen Unsinn und reißt euch zusammen. Verstanden?« Ihr Blick wandert zu mir, und ich nicke. An mir soll’s nicht scheitern. Obwohl ich gar nicht begeistert davon bin.
Joshua auch nicht. Er murmelt etwas auf Deutsch, was ich nicht verstehe, was ihm aber einen sehr bösen Blick von Zoé einbringt.
»Bis dann!« Und weg sind sie. Ich stoße die Luft aus und lasse mich nach hinten fallen.
»Ich dachte, Chads Epilepsie sei besser geworden, jetzt, wo er nicht mehr trinkt«, sage ich und bemühe mich, nicht vorwurfsvoll zu klingen.
Josh tut, als hätte er mich nicht gehört. Er steht auf und geht nach oben. Wahrscheinlich in sein Zimmer. Als er wenig später herunterkommt, hält er einen Rucksack in der Hand. Was hat er vor?
»Hast du ein Auto?«, fragt er, ohne mich anzusehen.
»Äh… ja, aber daheim«, sage ich und mustere ihn. Natürlich. Jetzt weiß ich, was er will: Zu seinem Bruder.
Seine Augen schimmern feucht, er zieht die Nase hoch, und ich gehe einen Schritt auf ihn zu, um … Um was? Ihn umarmen? Nein, er würde mich wegstoßen, ganz sicher.
»Josh … Wahrscheinlich machen die im Krankenhaus gerade irgendwelche Untersuchungen oder so, da kannst du nicht mittendrin reinplatzen!«
»Halt’s Maul!«, faucht er. »Du weißt nichts! Verschwinde! Ich brauch keinen Babysitter!«
Ergeben hebe ich die Hände. »Gut. Bin weg. Du brauchst mich eh nicht.«
Da sinkt Josh in sich zusammen, schluchzt auf und lehnt den Kopf an die Wand. Sein geflüstertes »Doch!« trifft mich völlig unvorbereitet. Ich öffne den Mund.
»Was?«, krächze ich fassungslos.
»Bleib!«, murmelt Josh leise. »Bitte.« Auf einmal ist er nicht mehr der blöde Cousin, der mich hasst. Nein, vor mir steht ein verzweifelter, junger Mann, der gerade nicht weiß, was er tun soll, aber weiß, was er tun wird, wenn ich jetzt gehe. In dem Moment fällt mir das Gespräch von Mum und Zoé ein. Und das Wort, das gefallen ist.
Eigentlich konnte ich das nicht glauben. Bis jetzt.
»Ich bleibe. Unter einer Bedingung!«, sage ich.
Er sieht mich an.
»Du redest, ich höre zu. Und dann … ähm, tauschen wir, ja?«
Josh zieht die Augenbrauen zusammen, überlegt und nickt schließlich. Lässt den Rucksack fallen und geht wieder ins Wohnzimmer.