Beitrag zum 24.11.2019
Thema: »Verblichene Fotografien«
ZOÉ
Fotos sind letztendlich nichts weiter als eingefrorene Momente, deren Erinnerungen allerdings genauso verblassen können, wie jene, die im Gedächtnis herumwirbeln. Das stelle ich gerade fest. Vor mir liegt eine Kiste mit Bildern meiner Familie. Mutter, Vater, mein Mann John, meine Kinder Joshua, Chad und David. Von vielen Bildern weiß ich gar nicht mehr, wann und von wem sie geschossen wurden, manche wiederum rufen eine Flut von Erinnerungen hervor, dass ich aufsehen muss, um mich nicht gänzlich zu verlieren.
Verblichene Fotografien von Mutter und Vater mit meinem älteren Bruder Mason. Mason und ich, hübsch angezogen, den Blick ernst in die Kamera gerichtet. Er hat seine Arme schützend um mich geschlungen. Es gibt ein ganz ähnliches Bild von David und Joshua. Nur, dass auf diesem der kleine Bruder versucht, den Älteren zu beschützen.
Ich kann nicht verhindern, dass die Trauer von mir Besitz ergreift, als ich eine von Tränen fleckige Fotografie meines ältesten Sohnes erblicke. Das letzte Foto von David ist alles andere als schön. Er lächelt nicht, sondern zeigt dem Fotografen, welche Qual er Tag für Tag mitmachen musste. Ich weiß nicht, wer das Bild gemacht hat.
Aber diese Augen, die mich voller Schmerz und hilfesuchend ansehen, brennen sich in meine Seele und lassen mich aufschluchzen.
»Mum?« Joshua steht in der Wohnzimmertür und sieht mich erschrocken an.
Vorsichtig kommt er näher, betrachtet kurz die Fotos und dann wieder mich. Wortlos schlingt er erst einen Arm um mich, dann den anderen und fährt mit der Hand tröstend über die Haare. Seine Lippen berühren für einen Moment meine Schläfe, um dann ganz sanft meine Wange zu streifen, ehe sie verschwinden.
Noch kann ich mich beherrschen, nicht völlig zusammenzubrechen. Aber für wie lange?
Joshua hält mich immer noch fest, als er mit seiner Rechten nach dem Foto von Mason und mir greift. Seine Augen fixieren mich. Dann lässt er mich los und geht.
Augenblicklich wünsche ich, er würde zurückkommen. Ich möchte nicht alleine sein!
Tatsächlich kommt wenige Minuten später jemand herein. Doch es ist nicht mein Sohn.
Meine Sicht verschwimmt und ich schluchze los. Mason nimmt mich in den Arm, während ich weine und die Emotionen aus mir herausfließen. Er hält mich, nicht sanft, wie Joshua es getan hat, sondern fest und beschützend. Genauso, wie auf dem Foto.
Nach all dieser Zeit, in der ich einsam in einer kleinen Zelle gesessen war und die Schuldgefühle und Traurigkeit meine einzigen Freunde waren, tut es gut, sich fallen zu lassen. In vertraute Arme, die mich verlässlich auffangen und gegen alles Böse beschützen.
Schließlich beruhige ich mich. Hebe den Kopf. Und sehe meine Jungs, Chad und Joshua, Arm in Arm im Türrahmen stehen. Sie lächeln beide. Chad lehnt seinen Kopf gegen Joshuas und Josh drückt seinen Bruder.
Ich werfe ihm einen dankbaren Blick zu. Er nickt unmerklich.
Mason lässt mich los und sieht ebenfalls zu seinen Neffen hin. Dann zu mir.
»You’re my sister. I’ll never let you down.«, murmelt er.